Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 15
Оглавление22. April 1933
Kuchenduft durchströmte die Küche und das Esszimmer der Sedlmayrs, drang durch alle Türen und erreichte sogar den zweiten Stock. Sofia bereitete seit den frühen Morgenstunden das Frühstück vor. Erdbeerkuchen, Nusszopf, Rührei mit Speck, frisches Brot, Butter, Wurst und Käse. Sie hatte sogar einen Haferbrei angerührt, indischen Tee aufgekocht, Honig und verschiedenste Konfitüren aufgetischt. Die Fruchtschale quoll über vor Nektarinen, Orangen, Äpfeln, Trauben und den ersten Erdbeeren. Mit geübten Fingern putzte sie zum wiederholten Mal das Silberservice, das sonst in einer Vitrine schlummerte, und platzierte es anschließend auf den großen Eichentisch. In der Mitte thronte eine Vase, gegen deren durchsichtige Wände die grünen Stängel der Narzissen drängten, während ihre Köpfe sonnengelb strahlten. Wie schön es heute war. Auf Hermanns Stammplatz stapelten sich einige Pakete, die in buntes Papier gewickelt waren. Sein sechzehnter Geburtstag.
Theresa Sedlmayr eilte als Erste die Treppe herunter. Sie steckte in einem dunkelroten Dirndlkleid, das ihre gertenschlanke Taille betonte, die Lippen unterstrich sie im selben Farbton. Die Haare waren zu einem lockeren Knoten zusammengebunden.
»Ist schon alles fertig? Alles bereit für das Geburtstagskind?« Kritisch ließ sie den Blick über den gedeckten Tisch schweifen und blieb kurz am Silberservice hängen. Nachdem sie keine rußigen Ränder feststellen konnte, zündete sie noch zwei Kerzen an und drapierte die Geschenke um.
»Georg? Hermann? Karl? Hannah? Wo seid ihr denn alle?«, rief sie ungeduldig nach oben. Die Stufen stöhnten auf und der Reihe nach kamen alle nach unten. Auch die Männer des Hauses hatten sich in Schale geworfen und trugen festliche Lederhosen. Als Theresa Hannah erblickte, zog sie die Augenbrauen nach oben und kräuselte säuerlich den Mund.
»Wieso hast du denn dein weinrotes Dirndl nicht angezogen? Das blaue trägst du seit Wochen immer wieder. Heute sollte doch ein besonderer Anlass sein.«
Hannah sah an sich herunter und biss sich ertappt auf die Unterlippe. Sie schirmte mit den Händen ihren Körper ab, so, als könnte sie damit das Kleid verdecken.
»Lass gut sein, Resi. Wir freuen uns schon alle auf das Geburtstagsfrühstück«, kam Georg Sedlmayr ihr zu Hilfe und klopfte seinem ältesten Sohn auf die Schultern.
»Das sieht ja toll aus, danke Sofia!«, meinte Hermann an die russische Haushälterin gewandt, die zu ihm eilte, um ihm zu gratulieren.
»Wir haben das wahrhaftig gut hinbekommen!«, sagte Theresa mit einem stolzen Lächeln und küsste ihren Sohn auf beide Wangen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Wie schnell nur die Zeit vergangen ist. Ich erinnere mich noch an den Tag deiner Geburt. Über zwanzig Stunden bin ich in den Wehen gelegen, bis du dich endlich entschieden hast, dich auf den Weg zu machen!«
Hermann lachte herzlich. Dabei legte er den Kopf leicht in den Nacken. »Ach Mama. Kommst du wieder mit diesen alten Kamellen.«
»Jetzt mach schon deine Geschenke auf, sonst reiß ich noch das Papier ab«, neckte ihn Karl, klaute eines der Pakete vom Tisch und versteckte es hinter seinem Rücken. Dann warf er es seinem Bruder zu, der es mit einem breiten Grinsen sicher auffing.
»Ein Notizbuch«, freute sich Hermann, als er den schwarzen Lederband aus dem Papier wickelte.
»Für deine Aufzeichnungen. Ich dachte, du kannst das brauchen«, sagte Hannah. Hermann drückte seine kleine Schwester fest an sich. Der Duft ihrer frisch gewaschenen Haare stieg ihm dabei in die Nase.
Von Karl bekam er einen passenden Federkiel, von seinen Eltern eine neue Trachtenjacke mit auffälligen Holzknöpfen und Geld für seine Spardose. Mit leuchtenden Augen sah sich Hermann die neuen Bücher an, die sein Vater für ihn ausgesucht hatte. Lesen war seine große Leidenschaft.
»Sind diese Bücher nicht verboten?«, fragte Karl plötzlich und durchbrach damit die fröhliche Stimmung.
»Zeig mal!« Er wollte nach einem der Werke greifen, doch Hermann drehte sich weg, damit er die Titel nicht lesen konnte.
»Ein medizinischer Atlas«, erklärte Georg Sedlmayr ernst. »›Im Westen nichts Neues‹, ausgewählte Werke von Schiller und Goethe. Was soll daran verboten sein, du neunmalkluger Bengel!«
»Dieses Buch da.« Karl deutete auf Remarques Roman ›Im Westen nichts Neues‹. »Ich dachte, das ist ein Buch über den Krieg. Angeblich ist es verboten.«
»Ich bestimme, was in meinen eigenen vier Wänden verboten ist und was nicht!«, donnerte Georg Sedlmayr los und schlug bekräftigend mit der Faust auf den Tisch.
»Kein Streit an Hermanns Geburtstag!«, warf Theresa ein und schnitt den Kuchen auf. »Heute ist ein ganz besonderer Tag. Am Nachmittag beginnt die Feierlichkeit zur Beförderung von Ortsgruppenleiter Erich Winter. Wir sind alle eingeladen.«
Georg Sedlmayr verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. Der heiße Inhalt schwappte aus der Tasse über den Tisch und lief am Tischbein herunter. Sofia hatte die Situation sofort erfasst und wischte das Holz trocken, bevor die Flüssigkeit Flecken hinterlassen konnte.
»Was für eine Feierlichkeit?«, drang die Stimme des Vaters schmerzhaft laut in Hermanns Ohr, da er links neben ihm saß. Meist hatte er die Gewohnheit, sich beim Essen zurückzuziehen, zu schweigen und den anderen den Vortritt bei den Gesprächen zu überlassen, doch dieser Kommentar der Mutter hatte ihn aufhorchen lassen, beinahe rasend gemacht.
»Ich habe dir doch Bescheid gesagt. Der Termin steht schon seit Wochen in unserem Kalender. Sofia sollte auch die ganze Wäsche und unsere Ausgeh-Garderobe vorbereiten. Die Schürzen und Hemden bügeln, die Schuhe putzen.«
»Kommt gar nicht in Frage, dass wir da hingehen. Wir feiern zu Hause Geburtstag! Wie jedes Jahr!«
Hermann blickte zwischen seiner Mutter und seinem Vater hin und her. Eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe. Ein offener Kampf. Auch Hannah war von ihrem Stuhl hochgefahren und knetete krampfhaft die Finger im Schoß.
»Der Empfang ist im Rathaus. Jeder, der Rang und Namen hat, wird dort sein. Wir können auf gar keinen Fall absagen. Erich Winter würde sich vor den Kopf gestoßen fühlen.«
»Ich will mitgehen«, mischte sich Karl ein, doch ein vernichtender Blick seines Vaters brachte ihn sofort zum Schweigen.
»Mir ist vollkommen egal, wie der sich fühlt! Wir kennen den Mann doch nicht einmal.«
»Natürlich kennen wir ihn. Du hast seine Frau behandelt und ihn selbst auch!« Theresa unterstrich ihre Aussage, indem sie mit dem Zeigefinger auf ihren Mann deutete.
»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn kenne. Es wäre mir auch egal, wenn er zum Mann im Mond ernannt worden wäre.«
Theresa schnalzte mit der Zunge. »Dass du so abfällig von so einer wichtigen Persönlichkeit sprichst. Und das vor den Kindern!«
»Wichtige Persönlichkeit?« Georg schüttelte den Kopf.
»Jeder wird dort sein«, wiederholte Theresa, ihre Stimme wurde immer lauter, und sie begann, jedes Wort einzeln zu betonen. »Spätestens am Montag werden uns alle fragen, wo wir gewesen sind. Die Kinder werden in der Schule durchlöchert. Aber schön. Wenn du es so haben willst, dann bleib du meinetwegen zu Hause, während wir uns schick machen und auf den Empfang gehen. Ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich eine so wichtige Einladung ignoriert habe!«
Georg Sedlmayr schlug noch einmal mit der Faust auf den Tisch, doch seine Lippen blieben stumm. Theresa reckte überlegen das Kinn hoch und rührte in ihrer Teetasse. Sie hatte gewonnen.
Nachdem das Frühstück beendet war, ging Hermann auf sein Zimmer. Er wollte die Zeit bis zum Nachmittag nutzen, um in seinen neuen Büchern zu schmökern. Sein Zimmer blickte Richtung Süden in den Garten hinaus, und so hatte er freie Aussicht auf die Berge. Regale, in denen sich unzählige Bücher türmten und reihenweise Ordner nebeneinander standen, in denen er Zeitungsausschnitte und Bilder sammelte, nahmen eine ganze Wandseite ein. Liebevoll strichen Hermanns Finger über die abgenutzten Buchrücken, während er mit der anderen Hand seine neuen Schätze an ihren Platz im Bücherdschungel stellte. Die Bettdecke war stets akkurat gefaltet, er tat das selbst jeden Morgen, sodass Sofia es nicht erledigen musste. Außerdem mochte er es, wenn das Bett genau so gemacht war, dass sich die Decke und das Kissen nicht berührten. Exakt zwei Handbreit. Er ließ sich auf die Fensterbank sinken und öffnete den medizinischen Atlas. Sein Vater würde sich freuen, wenn Hermann in seine Fußstapfen treten und die Praxis übernehmen würde, und auch er selbst spürte, dass das sein Lebensweg war. Hermann wollte Menschen helfen. Nach wenigen Minuten war er tief versunken in die Lektüre.
Ein sanftes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Hermann?« Sofia steckte vorsichtig den Kopf herein. »Du musst machen dich fertig. Für die Empfang.« Wie schnell die Zeit vergangen war. Die Zeiger der Uhr rasten, wenn er eines seiner Bücher verschlang. Hermann nickte ihr zu und ging ins Badezimmer, um sich seine Haare zu machen. Karl kam ihm schon entgegen. Er hatte sich einen Seitenscheitel frisiert und sah wie ein richtiger Hitlerjunge aus. Der Stolz war ihm anzusehen.
»Versuch es auch einmal mit den Haaren. Sie sind bestimmt nicht zu kurz«, sagte sein Bruder und drückte ihm Pomade in die Hand. Hannah erschien am Treppenrand und lächelte Hermann zu. Wie Theresa es sich gewünscht hatte, trug sie nun das weinrote Dirndl.
»Ich bin gleich so weit«, rief er seiner Schwester zu, die nickte und nach unten ging.
Als Hermann seine Haare endlich in die gewünschte Position gebracht und gebändigt hatte, eilte auch er nach unten. Seine Mutter reichte ihm mit einem Lächeln die neue Trachtenjacke, die er sich überwarf. Darunter blitzten noch die eingestickten Rosen auf seinen breiten Hosenträgern hervor. Das Stadtwappen.
Georg Sedlmayr saß mürrisch im Eingangsbereich, und fast bildete Hermann sich ein, ihn knurren zu hören.
»Na dann wollen wir mal in die Höhle des Löwen«, brummte er, doch Theresa überhörte seinen spitzen Kommentar.
Sofia half Theresa in ihren Mantel und legte einen Wollschal um ihren Hals. Dann öffnete sie die Tür und verabschiedete sich.
Die Kinder quetschten sich zu dritt auf die Rückbank des Wagens, während Theresa vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Der Motor schnurrte, und Georg Sedlmayr steuerte das Auto aus der Einfahrt. Am Rande der Straße verhüllten die vollen Äste der Obstbäume die Sicht auf den Himmel. An den wilden Apfelbäumen waren die Knospen aufgesprungen, ein zartes Weiß und ein tiefes Rosarot.
Die Sonne schien warm und freundlich durch die Fensterscheibe, und Hermann schirmte seine Augen ab. Was würde sie wohl erwarten? Bisher kannte er Erich Winter nur aus der Zeitung. Ein paarmal hatte sein Vater über ihn gesprochen, doch selten ein gutes Wort verloren. Er hatte recht. Sie kannten ihn überhaupt nicht.
Der Wagen rüttelte über die Straßen, und Hermann stellte staunend fest, dass viele Bürger auf den Beinen waren. Die meisten trugen prachtvolle Tracht. Die Männer und Jungen Lederhosen, Wadenwärmer und grob gestrickte Trachtenjacken, die Frauen und Mädchen Dirndlkleider mit auffälligen Schürzen. Wie freizügig die neue Mode doch war. An den Menschenmassen erkannte er, weshalb es seiner Mutter so wichtig gewesen war, persönlich beim Empfang zu erscheinen.
Georg Sedlmayr parkte das Auto vor seiner Praxis, da diese nur wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt war. Gemeinsam schlossen sie sich der Menschentraube an.
Vor dem Rathaus standen die Bäume in voller Blüte. Die Hakenkreuzflagge hing träge am Fahnenmast. Es war vollkommen windstill. Rechts und links neben dem roten Teppich reihten sich Jungen der Hitlerjugend auf, und Hermann erspähte ein paar bekannte Gesichter. Sie alle streckten den rechten Arm nach oben und schlugen die Hacken zusammen. Einige Mädchen hielten eine bunte Blume in der Hand und winkten fröhlich. Eine Hochstimmung.
Applaus brandete auf und Hermann sah, wie einige Männer vom Rathaus nach draußen traten und den Hitlergruß machten. Alle trugen Uniformen und am Oberarm eine Binde mit dem Hakenkreuz. Der junge Mann in der Mitte musste Erich Winter sein. Selbst aus der Entfernung sah man sein Lächeln und er winkte der Menge verhalten zu. Hermann hatte ihn sich irgendwie größer vorgestellt. Eine große Persönlichkeit. Doch waren nicht auch kleine Männer in der Geschichte zu großen Taten fähig gewesen? Napoleon. Er war das beste Beispiel.
Eine Blaskapelle setzte ein und die Musik wehte zu ihm herüber. Das Summen einer Biene an seinem Ohr mischte sich zu den Trompetenklängen und Hermann schnippte sie sich von der Schulter. Ärgerlich flog sie weiter.
»Wir müssen näher ran«, sagte Theresa Sedlmayr, als die Kapelle verstummte und zog ihren Mann am Ärmel. »Wir haben schließlich eine Einladung.« Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und die anderen Familienmitglieder hatten Mühe, ihr zu folgen. Elegant wiegte sie die Hüften hin und her, ignorierte Ausrufe, wenn sie jemanden anrempelte, und schaffte es tatsächlich bis ganz nach vorne.
Winter und die anderen Männer waren bereits wieder im Inneren des Rathauses verschwunden.
Theresa hielt den Wachen die Einladung unter die Nase und deutete auf ihren Mann und ihre Kinder. Sofort machten die Posten Platz und ließen sie ein.
Innen erstrahlte das Rathaus im Lichterglanz. Hermann pfiff bewundernd aus. Wohin auch das Auge blickte, überall hingen Hakenkreuzflaggen. Trotz seiner anfänglichen Skepsis über die Einladung, war Hermann aufgeregt, als er all die Leute in Uniformen sah. Stadtratsmitglieder. Männer der SA und SS. Und umringt von Bewunderern der neue Ortsgruppenleiter Erich Winter.
Hannah und Theresa ließen ihre Mäntel an der Garderobe, dann schritten sie langsam, von Georg Sedlmayr eskortiert, durch die Halle an den Säulen mit ihren großen Vasen vorbei, die mit weißen und roten Rosen gefüllt waren. Stimmengewirr. Lautes Lachen. Der Geruch von gebratenem Fleisch. Jubelrufe. All das begleitete Hermann, als sie sich in die Schlange reihten, um Winter persönlich zu begrüßen. Er stand am Ende der Halle, schüttelte Hände, nahm Glückwünsche entgegen. Er wirkte ausgelassen und heiter. Trotzdem schien er immer wieder abgelenkt zu sein und ließ seinen Blick über die Leute wandern. Wie ein hungriger Wolf. Ein Schauer lief Hermann über den Rücken. Er konnte nicht sagen, was es war, doch irgendwie ging etwas Bedrohliches von Winter aus. Obwohl er etwa zehn Jahre älter war als er selbst, schien sein Gesicht vollkommen glatt. Frei von Lachfalten. Frei von Bartstoppeln. Hatte er überhaupt Bartwuchs?
»Dr. Sedlmayr. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Ich freue mich ganz außerordentlich«, sagte Winter mit einem schmalen Lächeln und schüttelte seinem Vater die Hand. »Ihre Familie ist auch dabei. Großartig.« Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Anstelle einer anständigen Begrüßung brummte sein Vater nur auf.
»Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?« Georg rückte etwas zur Seite, damit Theresa Winter die Hand reichen konnte. »Theresa Sedlmayr.«
Winter hob anerkennend die Augenbrauen, sein Lächeln wurde breiter. Strahlender.
»Du liebe Zeit. Eine so schöne Frau«, schwärmte er und küsste Theresa die Hand. Sie errötete.
»Vielen Dank für die Einladung. Wir sind Ihnen sehr dankbar. Und das am Geburtstag meines Sohnes.« Sie zerrte Hermann nach vorne ins Rampenlicht, und Winters grüne Augen tasteten ihn ab wie Scheinwerfer.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte er freundlich und reichte Hermann die Hand. Die Finger waren trotz der Wärme im Rathaus eiskalt. »Wie alt bist du denn geworden?«
»Sechzehn«, antwortete Hermann.
»Ein zäher, junger Bursche. Das muss wohl der Bruder sein.« Karl trat vor und begrüßte Winter. Stolz erzählte er, dass auch er schon Mitglied der Hitlerjugend sei, was der Ortsgruppenleiter mit einem Lächeln quittierte.
»Eine arische Schönheit, Ihre Tochter, Herr Doktor!«, sagte Winter. Diesmal klang er nicht mehr schmierig. Seine Worte hörten sich ernst gemeint an. »Gewitterblaue Augen«, raunte er bewundernd und besah sich Hannah, als wäre sie ein Ausstellungsstück in einer Kunstgalerie. Diese schlug die Lider nieder. »Wir sind auf der Suche nach einem Gesicht für die Werbeplakate des BDM. Wir suchen ein typisches deutsches Mädel. Blond. Blauäugig. Ich glaube, wir haben das perfekte Gesicht gefunden. Mit Ihrer Erlaubnis natürlich.« Er blickte zu Theresa, die Hannah die Hand auf den Rücken legte und für sie antwortete.
»Es wäre uns eine große Ehre, Herr Ortsgruppenleiter. Nicht wahr, Hannah?« Diese nickte.
Theresas Gesicht war von innen erleuchtet, als sie sich wieder unter die Menge mischten.
»Meine Tochter wird für kein dämliches Foto posieren«, knurrte Georg Sedlmayr, sodass nur seine Familie ihn hören konnte. »Ein Werbeplakat für den BDM. Damit sie in der ganzen Stadt aushängt. Was für eine Schnapsidee!«
»Natürlich wird sie das. Ihr Bild wird überall zu sehen sein. Mach ihr nicht die Zukunft kaputt, Schorsch!« Theresa zischte bedrohlich, und es kam Hermann vor, als würden ihre Augen Funken sprühen.
»Macht, was ihr wollt«, sagte Georg wütend und gesellte sich zu einigen Männern, die ihn zu sich in die Runde winkten.
Hannah und Theresa blieben bei den anderen Frauen und Mädchen stehen, während Hermann und Karl sich aufs Buffet stürzten. Mit vollgeladenen Tellern bahnten sie sich einen Weg zu einem der Stehtische, als eine laute Stimme das fröhliche, ausgelassene Geplapper der Gäste übertönte.
»Hitler treibt uns alle in den Krieg. Macht doch eure Augen auf, ihr Narren!« Ein Mann mit schneeweißen Haaren stand in der Mitte der Halle und schrie aus Leibeskräften. »Dieser Kerl hier ist sein Handlanger. Der Handlanger des Teufels.« Mit seinem krummen Zeigefinger deutete er auf Winter, der erbleicht war und sich nervös und hilfesuchend umsah. »Habt ihr nicht ›Mein Kampf‹ gelesen? Da steht doch alles schwarz auf weiß. Hitler ist unser Untergang«, tobte er weiter. Das Gerede verstummte augenblicklich. Alle Augenpaare richteten sich auf den Mann.
»Hitler ist …«, begann er wieder, bevor er von zwei Uniformierten zu Boden gedrückt und aus dem Saal getragen wurde. »Erinnert euch an meine Worte«, kreischte er, während er zwischen den Türen verschwand. Ein Kommunist? Ein Verrückter? Auf jeden Fall gehörte Mut dazu, einen solchen Auftritt hinzulegen.
»Wir haben alles unter Kontrolle«, rief der Mann an Winters Seite. Erwin Holzer. Auch sein Gesicht kannte Hermann aus der Zeitung.
Obwohl alle wieder plauderten und lachten, merkte Hermann, dass die Stimmung gekippt war. Winters Lachen wirkte versteinert. Wie sah es wohl hinter seiner Maske aus?
Strahlend und hell wie ein Komet fuhr Hermann ein Gedanke durch den Sinn. Was, wenn der Mann recht behielt? Einen langen, atemlosen Moment stockten seine Überlegungen, dann rasten sie weiter. Hitler treibt uns alle in den Krieg. Das waren seine Worte gewesen. Auch sein Vater hatte am Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler einen Krieg prophezeit. Steckte doch Wahrheit dahinter? Hermann fühlte sich auf einmal fehl am Platz. Er wünschte sich nach Hause in sein Zimmer. Er wollte zwischen die Seiten eines Buches fliehen, an den Abenteuern und Geschichten seiner Romanfiguren teilnehmen, doch je öfter er sich den Ausdruck von Verzweiflung im Blick des Mannes ins Gedächtnis rief, desto mehr fühlte er, dass er selbst inmitten einer Geschichte steckte. Wie würde diese weitergehen? Konnte er die Handlung mitbestimmen? Hermann war sich mit einem Mal sicher, dass Hitler genau wusste, wie seine Geschichte aussehen sollte. Welche Schauplätze es gab, wo sie hinführte. Nach und nach deckte er eine Seite auf, doch welche Seiten würden bis zum Ende folgen? Wusste er letztendlich schon, wie das Ende aussehen würde?