Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 13
ОглавлениеEnde März 1933
Die Zeiger der großen Uhr im Wohnzimmer standen fast auf zehn Uhr. Um Punkt zehn sollte Hannah abgeholt werden. Für einen Tag im März war es draußen recht warm. Heller Sonnenschein strömte durch die beigen Gardinen der Wohnzimmerfenster. Der Holztisch schimmerte und der Fußboden spiegelte wie Glas, wo er nicht mit den teuren Teppichen belegt war. Sofia hatte wieder ganze Arbeit geleistet.
Hannah öffnete eines der Wohnzimmerfenster und der schwere Duft von Blüten und taunasser Erde wehte herein. Das Mädchen streckte den Kopf hinaus und erblickte die farbenprächtigen Narzissen zu beiden Seiten ihrer Einfahrt.Hannah liebte keine Jahreszeit mehr als den Frühling. Die Tage wurden länger. Die Sonne etwas wärmer. Die Natur wieder bunter. Neues Leben erblühte.
Sie stützte die Ellenbogen auf dem Fenstersims ab und winkte Sofia zu, die gerade dabei war, den Kies aus der Wiese einzusammeln und ihn wieder auf die Einfahrtsstraße zu werfen. Hannah entfernte einen Fussel von ihrer blütenweißen Bluse. Heute trug sie nicht wie sonst den dunkelblauen Rock, wenn sie zu einem der Treffen des Jungmädelbunds ging, sondern eine dunkelblaue Hose. Ihren Hals zierte ein schwarzes Halstuch mit einem Lederknoten. Die Uniform eines deutschen Mädels. Ihre goldblonden Haare waren wie üblich zu zwei langen Zöpfen geflochten, die ihre Mutter zu Affenschaukeln gebunden hatte. Hannah warf einen letzten Blick in den Spiegel und stellte verzweifelt fest, dass die weiße Bluse gar nicht zu ihrer Gesichtsfarbe passte. Die Haut schimmerte elfenbeinfarben, die Lippen waren blutleer. Allein auf ihre Augen war Verlass. In der ganzen Stadt kannte sie kein Mädchen, das so blaue Augen hatte wie sie. Hastig eilte sie die Treppen nach oben und huschte ins Schlafzimmer der Eltern. Dort stand der große Schminktisch ihrer Mutter. Das Mädchen fischte nach einem roten Lippenstift und tupfte ihn sich auf den Zeigefinger. Bloß nicht erwischt werden. Theresa hielt Schminke für zwölfjährige Mädchen für vulgär. Vorsichtig strich Hannah über ihre Lippen, die endlich einen leichten Rotton erhielten. So sah sie etwas besser aus. Hoffentlich würde es den anderen Mädchen nicht auffallen, dass sie mit Schminke nachhelfen musste.
Sie legte alles genau so hin, wie sie es vorgefunden hatte, ließ die Tür exakt den Spaltbreit offen, wie Theresa es zu tun pflegte, und eilte dann wieder nach unten. Punkt zehn Uhr. Die Türglocke schrillte. Sie nahm sich eine Jacke vom Haken und trat aus der Haustür. Vor dem Eingangstor erkannte sie Elsa, die ihr zuwinkte.
»Aufpassen«, rief ihr Sofia auf Russisch zu, als sie für Hannah das Tor öffnete.
»Ich passe doch immer auf.«
»Oh, deine Lippen! Wie schön! Hast du Lippenstift drauf?«, schwärmte Elsa, sobald Hannah durchs Tor war.
»So ein Quatsch.« Ertappt schielte sie zu Sofia hinüber, die wissend die Augenbrauen hochzog und ihr halbseitiges Lächeln lächelte. Bevor sie ins Auto einstieg, flüsterte sie Sofia noch zu: »Verrat mich besser nicht. Mama würde toben.«
»Ich habe gesagt aufpassen, und du aufgepasst. Sie dich nicht erwischt.« Dann legte sie den Finger auf die Lippen und schloss das Tor.
Hannah nahm neben Elsa auf der Rückbank Platz. Dabei achtete sie genau darauf, dass sie ihre Hose nicht zerknitterte, obwohl das völliger Unsinn war, da die erste Bergwanderung in diesem Jahr anstand. Wahrscheinlich würde sie hinterher aussehen, als hätte sie sich in einem Schweineauslauf gesult.
»Guten Morgen, Fritz.« Fritz war so etwas wie eine männliche Sofia. Er arbeitete für Elsas Familie, da beide Elternteile berufstätig waren. Ihr Vater schenkte ihm sogar so viel Vertrauen, dass er das Auto, mitsamt seiner Tochter darin, fahren durfte.
»Ich wünschte, ich würde so aussehen wie du«, meinte Elsa. Wie bitte? Weshalb sollte Elsa das wollen? Sie war ein Stück größer als Hannah, hatte haselnussbraune Augen und leicht rötliche Haare, die sich wellten. Wenn sie einen Pferdeschwanz trug und die Sonne daraufschien, sahen die Haare aus wie ein Fuchsschwanz. Neidisch stellte Hannah fest, dass sich unter der Bluse ihrer Freundin die ersten Rundungen abzeichneten. Man konnte schon von einem richtigen Busen sprechen, während sie selbst noch den Körper eines Kindes hatte. Elsa war zwar zehn Monate älter, aber es schien Hannah trotzdem ungerecht.
»Hat deine Mutter dir erlaubt, dass du den Lippenstift benutzen darfst?« Nachdem Elsa ihre beste Freundin war und sie sie ohnehin schon erwischt hatte, zog Hannah es vor, nicht weiter zu schwindeln.
»Bist du verrückt? Natürlich nicht.«
Elsa hielt sich kichernd die Hand vor den Mund. »Vielleicht treffen wir heute auf die Jungs. Wenn du einen von ihnen küsst, bekommt er auch ganz rote Lippen.«
Bei der Vorstellung quiekte Hannah los wie ein Meerschweinchen. Jemanden küssen? Einen Jungen? Allein der Gedanke daran ließ ihr die Röte ins Gesicht schießen.
Elsa amüsierte sich weiter. »Du wirst ja schon ganz rot. Wen würdest du denn gerne küssen?« Hannah zuckte die Schultern.
»Jetzt komm schon. Sag es.« Elsa ließ nicht locker.
»Ich weiß es ehrlich nicht. Sind wir nicht auch noch ein wenig jung?«
Ihre Freundin schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich nicht! Ich habe schon einige Jungen geküsst. Anni und Matilda auch schon. Es macht wirklich jede«, erklärte sie altklug. Hannah kam sich in dem Moment richtig dumm vor. Ein Kleinkind neben Elsa, die bereits einige Jungen geküsst und schon fast den Körper einer Frau hatte. »Naja, ist nicht schlimm. Das kannst du heute nachholen.«
»Danke, aber ich entscheide selbst, wann ich wen küssen will.« Endlich erwachte Leben in ihr. Elsa entging Hannahs scharfer Unterton nicht und endlich verstummte ihr albernes Gelächter.
»War doch nicht böse gemeint«, begann sie entschuldigend, doch Hannah blickte stur aus dem Fenster. Warum zum Teufel hatte sie sich den dämlichen Lippenstift ins Gesicht gemalt. Anscheinend kam das einer Einladung zum Küssen gleich. Sie wischte ihn sich vom Mund und verrieb die Farbe an ihrem Handrücken.
»Soll ich dir sagen, wen ich schon geküsst habe?«
»Von mir aus.« Hannah wunderte sich, dass Elsa solche Gespräche vor Fritz führte, der sie doch nur daheim zu verraten brauchte.
»Ich habe Martin, Lenz, Hans …« Elsa überlegte angestrengt und zählte mit den Fingern mit. »Achja, und Alois geküsst.«
»Vier«, stellte Hannah fest. Was würde ihre Mutter von ihr halten, wenn sie wüsste, dass ihre Tochter schon vier Jungen geküsst hatte? Was würde sie von Elsa halten? Ihrer besten Freundin. Eine Dirne in ihren Augen. Ein Flittchen. Theresa Sedlmayr würde ihr mit sofortiger Wirkung den Kontakt verbieten. Jetzt war es umso wichtiger, dass Fritz den Mund hielt.
»Soll ich dir sagen, wen ich am liebsten küssen würde?«
»Wen?«
»Herbert.« Elsas Augen glitzerten merkwürdig und sie leckte sich mit der Zunge über die Lippen.
»Bauer?«
»Ja natürlich Herbert Bauer. Sieht er nicht gut aus?«, schwärmte Elsa weiter.
»Er ist doch zwei Jahre älter als du.« Herbert erschien vor Hannahs innerem Auge. Groß. Breit. Riesige Bärentatzen. Grimmige Augen.
»Das ist ja gerade das Gute. Glaubst du, ich küsse irgendwelche Babys? Ich würde alles dafür geben, Herberts Lippen zu berühren. Alles.«
»Dann mach es doch einfach.«
»Einfach?« Elsa lachte spitz auf. »Fast alle Mädchen finden ihn toll. Da wird er sich ja nicht gerade mich aussuchen.« Sie klang resigniert.
»Schau mal, wir sind gleich da«, rief Hannah schnell, um das Thema zu wechseln. Sie wollte nicht zu viele Gedanken an Herbert Bauer verschwenden. Er war ihr bisher immer grob vorgekommen. Sicher nicht der ideale Kusspartner.
Am Wanderparkplatz warteten schon einige andere Mädchen. Eine der Leiterinnen winkte, als das Auto zum Stillstand kam. Anni und Matilda rannten wie junge Hunde auf sie zu und fielen erst Elsa und dann Hannah um den Hals. Matildas Haare dufteten nach Rose. Jetzt, wo Hannah wusste, dass ihre Freundinnen auf der Suche nach einem Kusspartner waren, machte es Sinn, dass sich alle hübsch gemacht hatten.
»Du glaubst nicht, wer schon oben auf der Hütte ist«, schrie Anni beinahe.
»Die Jungs. Sie sind vor zwanzig Minuten los, um oben Feuer zu machen«, kreischte Matilda. Elsa und die beiden anderen Mädchen fassten sich an den Händen und hüpften auf und ab. Hannahs Gedanken schweiften ab, und auf einmal sah sie Jacob vor sich, wie er beim Gekreische von Mädchen den Kopf schüttelte. Warum musste sie jetzt an ihn denken?
»Abmarsch«, rief ihre Leiterin, die sich mit dem Namen Vroni vorgestellt hatte. Hannah ließ sich absichtlich etwas zurückfallen, da sie die Gespräche über Jungen viel zu anstrengend fand. Außerdem konnte sie sowieso nicht mitreden. Ein unwissendes kleines Mädchen.
Die Wege waren noch feucht vom Morgentau und teilweise rutschig. Ein kleiner Feuersalamander suchte schnell das Weite und schlängelte sich unter einen moosbewachsenen Stein. Die Singvögel waren wieder da und pfiffen ihre Melodien durch die Wälder. Der Weg war nicht besonders steil, dennoch fielen immer mehr Mädchen zurück, die von Vroni ein Donnerwetter zu erwarten hatten. Als die Bäume langsam lichter wurden, sah Hannah eine Holzhütte, vor der ein großes Lagerfeuer brannte. Elsa, Anni und Matilda quiekten wieder auf, sodass ihr Echo durch den ganzen Wald hallte und ein paar Vögel erschrocken aufflatterten. Mit ungeahnten Kräften begannen sie einen Wettlauf, wer als erste am Feuer war. Hannah schüttelte nur den Kopf. Auch andere Mädchen rannten vor Vorfreude lachend an ihr vorbei und sie stellte überrascht fest, dass sie selbst nun die letzte in der Gruppe war.
»Hallo.«
Das Mädchen fuhr erschrocken herum und sah Jacob, der mit dem Rücken gegen einen der Baumstämme gelehnt stand. Seine Füße steckten in hohen Stiefeln, die voller Erde und durchnässt waren.
»Bist du durch den Wald gerannt?«, fragte Hannah ohne eine Begrüßung.
»Was ist schlimm daran?«
»Ich mein ja bloß. Was machst du überhaupt hier? Du darfst doch gar nicht an den Treffen teilnehmen.«
»Darf ich den Wald auch nicht mehr betreten? Ist das jetzt deiner Meinung nach auch verboten?« Er sah sich um und hob die Hände nach oben. »Dein Wald. Euer Wald!« Er wies mit einem Kopfnicken auf die Gruppe, die oben beim Lagerfeuer war.
»So ein Blödsinn! Geh doch meinetwegen in den Wald. Ich verstehe zwar nicht wieso, aber es ist mir auch egal.«
»Auch wenn es dich nichts angeht, aber ich prüfe die kaputten Bäume. Der Bauer, dem sie gehören, gibt mir Geld, wenn ich es ihm melde.«
»Aha.« Hannah blickte gelangweilt auf ihre Fingernägel.
Jacob lehnte auf einmal nicht mehr am Baum, sondern ging auf sie zu und blieb vor ihr stehen.
»Du bist jetzt also eine von denen.« Spott troff aus seiner Stimme.
»Besser eine von denen, als allein im Wald herumlaufen. Du bist doch ständig allein. Keiner will mehr mit dir befreundet sein.« Sobald die Worte aus ihrem Mund gesprudelt waren, bereute sie Hannah sofort. Jacob sah aus, als wäre er geschlagen worden. Betreten senkte er den Kopf und besah seine Schuhspitzen.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Weißt du es? Ich dachte, du wärst meine Freundin. Aber ich habe mich geirrt.« Er sah ihr direkt in die Augen, während er sprach: »Komm, geh, lauf zu deinen neuen Freunden. Die warten auf dich.« Er drehte sich um und rannte davon.
»Jacob! Jetzt bleib doch stehen! Jacob!«, rief Hannah ihm nach, doch er war bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Tränen brannten wie Säure in ihren Augen. Sie fühlte sich schuldig und sie wusste, dass er recht hatte. Noch vor wenigen Wochen hatten sie sich fast jeden Tag nach der Schule getroffen. Jetzt schien sie keine Zeit mehr für ihn zu haben. Die Treffen des BDM fanden immer häufiger statt, und die anderen sahen es nicht gerne, wenn sie sich mit einem Juden traf. Doch war ihr das nicht immer egal gewesen? War sie wirklich eine von ihnen geworden? Hannah wollte Jacob nachlaufen, ihn suchen, doch wo sollte sie anfangen? Sie stapfte in die Richtung, in die er verschwunden war.
»Jacob?« Immer wieder rief sie seinen Namen. Immer lauter und lauter. Keine Antwort. Mittlerweile war die Hose bis zu den Knien voller Matsch. Kälte und Nässe krochen in ihre Schuhe. Alles egal. Als sie Salz im Mund schmeckte, merkte Hannah erst, dass sie weinte. Er war weg.
Das Mädchen ging zurück auf den Wanderweg und marschierte zur Hütte hinauf, den lauten und fröhlichen Stimmen entgegen. Den Liedern, die sie jetzt anstimmten. All ihre neuen Freunde waren dort oben. Sie würden sich bestimmt schon fragen, wo sie blieb.
Je näher sie auf die Gruppe zutrat, umso einsamer fühlte sich Hannah. Jetzt hatte sie ihren einzigen ehrlichen Freund verloren. Einen Freund, den sie seit Kindertagen kannte. Einen Freund, der immer für sie da gewesen war. Hannah fühlte sich elend.