Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 7

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30. Januar 1933

Rosenheim

Die Luft schmeckte nach Schnee, als Hannah und Jacob nach Hause stapften. Ein klarer, wolkenloser Tag mit klirrender Kälte. Ihre Stiefel knirschten über die Schneedecke, auf der die Eiskristalle in der Sonne glitzerten. Seit Wochen hatte es nicht getaut, und der Schnee hielt sich hartnäckig auf den Feldern und Wiesen vor der Stadt. Wie schön es war, dachte Hannah. Im Süden erstreckte sich die lange Bergkette, deren Gipfel weiß schimmerten. Rosenheim. Diese Stadt war ihr Zuhause. Ihre Heimat. Ihr schützendes Nest, in dem sie sich sicher und geborgen fühlte.

Heimat – das waren die leuchtend gelben, von Löwenzahn gespickten Wiesen im Frühling, die rauschenden Kornfelder im Sommer, das Gefühl von Klee unter den nackten Fußsohlen. Im September waren es die prächtigen Apfel- und Birnbäume, deren Äste unter der Last erzitterten, wenn man die Früchte erntete und daraus Saft presste. Heimat – das waren die Sonnenblumen, die tief ihre Häupter senkten, die Heuernte der Bauern, der Almabtrieb der Kühe, die mit ihren scheppernden Glocken ins Tal trotteten. Es war der erste Frost im Herbst, die hungrigen Igel, die es sich im Laub heimisch machten, die dichten Nebelschwaden, die schwer auf den Boden und das Gemüt drückten. Heimat – das waren die schneereichen Winter, die Bäume, die wie mit Puderzucker bestäubt waren, Schneeschuhwanderungen und Skifahrten mit der Familie.

Hannah schirmte ihre Augen mit der flachen Hand ab, als die Sonne ein letztes Mal zwischen den Berggipfeln hervorspähte. Ihre Augen schweiften über die Felder, und als sie Jacobs Silhouette wahrnahm, zog sie die Luft lautstark durch die Zähne ein.

»Mir ist kalt«, rief sie Jacob hinterher, doch er schien sie gar nicht zu hören. »Jacob!«, schrie sie noch einmal. Lauter. Kräftiger. Kalt füllte die Luft ihre Lungen. Endlich drehte er sich um.

Die eisigen Temperaturen brachten seine Ohren wie Kohlen zum Glühen und aus seinem Mund formte sich der Atem zu Wolken. Er sah sie direkt an und watete durch das Schneemeer auf Hannah zu. Diese ließ die Schlittschuhe von den Schultern rutschen. Lange waren sie jetzt schon draußen in der Kälte gewesen. Zu lange. Den gesamten Nachmittag hatten sie beim Eislaufen am See verbracht.

»Was ist los? Warum bleibst du stehen?«

»Ich kann nicht mehr. Ich gehe keinen Schritt mehr weiter.« In ihren Augen blitzte und trotzte es, und Hannah vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen. »Ich kann meine Fingerspitzen nicht mal mehr fühlen. Wir hätten schon viel eher umkehren müssen.« Vorwurfsvoll schob sie die Unterlippe nach vorne und blickte Jacob direkt in die Augen. Schuldgefühle schimmerten darin.

»Wir hatten doch so viel Spaß«, begann er, um sich zu rechtfertigen, doch sie unterbrach ihn mit lautem Zähneklappern.

»Ich will nach Hause. Sofort.« Hannahs Blick senkte sich auf ihre Schuhe. Das Mädchen bewegte die Fußspitzen auf und ab. Alles taub.

»Wir haben es gleich geschafft.« Jacobs Stimme war plötzlich nah an ihrem Ohr. Samtweich wie der Flaum eines Kükens. Tatsächlich. In nicht allzuweiter Ferne war der Weidezaun auszumachen. Die Pfosten sahen aus, als hätten sie weiße Hauben auf.

»Jetzt komm schon, Hannah. Es ist nur noch ein kleines Stück.« Seine Hand ruhte auf ihrem Rücken. Die beiden waren beinahe gleich groß, doch Jacobs lange Beine deuteten darauf hin, dass er noch ein gutes Stück wachsen würde. »Hier nimm.« Jacob hielt ihr seine Handschuhe dicht vors Gesicht, sodass ihr der Geruch von Leder in die Nase stieg. Er bückte sich, hob ihre Schlittschuhe auf und hängte sie sich zu seinem eigenen Paar über die Schulter. Dabei fiel ihr auf, dass auch seine Hände zitterten.

»Weiter jetzt. Sonst frieren wir hier noch fest. Ich meine es wirklich ernst.«

Jacob war ihr bester Freund seit Kindertagen. Sie hatten zusammen laufen gelernt, Sandburgen gebaut, waren um die Wette gerannt. Er hatte ihr beigebracht, wie man Kirschkerne spuckte, später wie man auf die höchsten Bäume kletterte und im Wald Fährten las. Sie hatten zusammen Streiche ausgeheckt, und Jacob hatte dabei die Schuld stets auf sich genommen, damit sie ohne Ärger davonkam. Es war für die Erwachsenen ohnehin immer schwer zu glauben, dass hinter Hannahs lieblichem Puppengesicht mit den blauen Augen und den blonden Haaren der Schalk schlummerte. Seit zwölf Jahren waren sie unzertrennlich.

Endlich löste sich Hannah aus ihrer Starre. Schritt für Schritt. Immer weitergehen. In der Ferne erkannte man die Umrisse der Häuser. Aus den Fenstern dämmerte Licht. Von hier waren sie winzig wie Stecknadelköpfe. Hannah entfuhr ein erleichterter Seufzer, als sie endlich die Allee der Obstbäume erreichten, die die Zufahrt zu ihrem Haus säumten.

Das große Gutshaus war seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Rechts und links vom Eingangstor thronten steinerne Löwen. Dichter Efeu kletterte an den Hausmauern empor und klammerte sich ganz oben an die Dachbalken. Mit einem Quietschen schwang das Eisentor auf. Unter dem Schnee knirschte der Kies, als Hannah und Jacob über die Einfahrt liefen. Wahrscheinlich hatte sich ihr Vater schon Sorgen gemacht, wo sie so lange blieb. Sie hasste es, ihn in Unruhe zu versetzen.

Am Fenster ein Schatten, wahrscheinlich Sofia. Als junge Frau war sie aus Russland gekommen, um als Dienstmädchen zu arbeiten. Sofia sorgte dafür, dass die Böden glänzten, die Federbetten nach Frühling dufteten, dass am Sonntag ein Kuchen auf dem Tisch stand. Sofia erledigte die Einkäufe, kümmerte sich um den Kräutergarten und die Rosenbüsche ihrer Mutter. Trotz der täglichen Anforderungen, die der Haushalt bereithielt, wirkte sie nie angestrengt oder überlastet. Stets fand sie freundliche Worte. Für Hannah war sie alterslos. Obwohl ihre Haut an die Rinde des Kastanienbaumes im Garten erinnerte, waren ihre Stimme und ihr Lachen mädchenhaft jung, genau wie ihre Gestalt. Wenn Sofia saß, dann aufrecht, mit geradem Rücken.

Als Hannahs Fuß die erste Treppenstufe erreicht hatte, riss Sofia die Haustür auf.

»Schnell. Schnell. Reinkommen. Ist zu kalt. Mussen frieren.« Besorgt strich sie Hannah über die Wangen. »Mussen leise sein. Familie hören Radio«, flüsterte sie und hielt den Zeigefinger an die Lippen. Sie nahm Hannah und Jacob die Mäntel ab. Die beiden warfen sich einen verwunderten Blick zu. Hannah hatte sich so sehr aufs Heimkommen gefreut, wollte von ihrem Tag erzählen, doch keiner schien auch nur bemerkt zu haben, dass sie erst in der Dämmerung nach Hause gekommen war.

»Ist Hitler«, raunte ihnen Sofia zu, als sie den Flur entlanggingen.

Als sie das Wohnzimmer betrat, fiel Hannahs Blick zuerst auf ihren ältesten Bruder Hermann, der angestrengt lauschend am Kamin lehnte. Eines seiner Bücher lag noch geöffnet auf seinem Schoß. Vergessen. Er nahm sie nicht einmal wahr, als sie an ihm vorbeilief.

Dr. Georg Sedlmayr, Hannahs Vater, polterte im Wohnzimmer auf und ab. Im Mundwinkel hing seine Pfeife. Das linke Bein zog er dabei etwas nach. Eine schwere Verletzung aus dem Krieg. Oft schmerzte ihn das Bein so sehr, dass er sich in unbeobachteten Momenten setzen musste, doch er beklagte sich nie. Seit vielen Jahren führte er in der Innenstadt eine eigene Arztpraxis. Urlaub war für ihn ein Unwort. Seine Pflicht war es, den Leuten zu helfen. Georg Sedlmayr war kein großer Mann. Er maß keine einsachtzig, doch die Art, wie er ging und beim Reden mit den Händen sprach, ließ ihn viel größer erscheinen. Auf seiner Stirn bemerkte Hannah eine tiefe Zornesfalte. Sofort ging ihr Atem unwillkürlich schneller. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Aufgebracht. Wütend.

»Hindenburg hat Hitler zum Reichskanzler ernannt«, sagte Hannahs Mutter, um die Frage zu klären, die ihr auf der Zunge brannte. »Was bedeutet das? Reichskanzler?«

Aus dem Radio brach eine tobende Stimme hervor: »Unendlich ist die Kolonne der heranrückenden Freiheitskämpfer, auf deren braunen Hemden der Fackelschein gespenstisch hin und her huscht«, tönte der Sprecher.

Braune Hemden? Freiheitskämpfer? Hannah hatte davon schon gehört, genauso wie der Name »Hitler« in aller Munde war. Sein Gesicht zierte sämtliche Zeitungen: Braune Haare. Stechend blaue Augen. Der charakteristische Oberlippenbart. Von Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihren zwei Brüdern wusste sie, dass er der NSDAP angehörte. In der Schule, auf den Straßen, beim Einkaufen hörte man die Leute reden. Hitler sei der Mann für Deutschland.

Hannah sah von einem zum anderen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass auch Jacobs Eltern, Hans und Sarah Sternlicht, auf dem grünen Samtsofa saßen. Rechts und links von ihnen seine Brüder. Der vierzehnjährige Simon war groß gewachsen für sein Alter. Breitschultrig und stark wie ein Bär. Keiner konnte ihm beim Armdrücken das Wasser reichen. Simon und Karl, Hannahs anderer Bruder, besuchten dieselbe Klasse. Beim genaueren Beobachten fiel Hannah auf, dass bereits Bartstoppeln an Simons Kinn sprossen. Der neunjährige Levi war das Nesthäkchen der Familie. Sein Mund war halb geöffnet, und auch er horchte konzentriert. Jedes Wort saugte er auf wie ein trockener Schwamm. Auf seinen farblosen Wangen drängten sich so viele Sommersprossen wie Sterne am Himmelszelt und sein rotes Haar leuchtete. Hannah hatte Levi fest ins Herz geschlossen. Er war wie der kleine Bruder für sie, den sie selbst nicht hatte.

»Über zehn Jahre hat die NSDAP auf den Machtwechsel hingearbeitet. Jetzt ist es ihnen endlich gelungen, die Macht an sich zu reißen!«, grollte die Bassstimme ihres Vaters, aber heute blieb der sonst freundliche Klang fern. Hannah ließ sich auf einen der Holzstühle sinken und zwirbelte ihre zu zwei langen Zöpfen geflochtenen Haare.

»Fackelzüge!«, stieß Georg Sedlmayr verächtlich aus. »Hitler gewinnt immer mehr und mehr Anhänger. Ich kann gar nicht so viel fressen wie ich kotzen könnte!« Hannah erschrak über die ungewohnte Wortwahl ihres Vaters. So sehr er sich gerade aufplusterte wie ein Kampfhahn, sie wusste, dass er das weichste Herz verbarg. Kein Kätzchen konnte er miauen hören, kein Kind weinen. Vor ihr stand ein Fremder, der ihr mit seinem Auftreten Angst machte.

»Hitler als Reichskanzler. Dass ich nicht lache! Hindenburg hat jeglichen Respekt verloren. Dieser dämliche alte Ziegenbock!«

Energisch griff er nach dem Gehstock, der zumeist in der Ecke lehnte, da er sich weigerte ihn zu benutzen. »Eins sag ich dir, Hans!«, donnerte Georg Sedlmayr und zeigte mit der Spitze des Stockes auf das Radio. »Dieser Mann ist gefährlich.«

»Wir können jetzt erst einmal nur abwarten«, schaltete sich nun Hans Sternlicht ein. Auf seiner Halbglatze spiegelte sich das Licht der Wohnzimmerleuchter. Hannah mochte es, dass seine Stimme eine leichte Rauchnote hatte. Sie mochte die lächelnden, blauen Augen, die Jacob von ihm geerbt hatte. Seine Ruhe. Den scharfen Verstand. Er trug einen langen Bart, in den sich einige graue Haare webten. Hans Sternlicht und Georg Sedlmayr waren eng befreundet. Vertraute. Sie waren Kameraden gewesen und gemeinsam aus dem Krieg heimgekehrt.

»Ungewöhnlich ist es aber trotzdem. Da gebe ich dir recht«, ergriff Hans erneut das Wort. »Vor ein paar Jahren noch hat die NSDAP bei der Reichstagswahl lediglich ein paar Prozent der Stimmen erhalten.«

»Genau das ist der springende Punkt! Hitler und seine Anhänger werden übermächtig. Glaub mir, Hans! Hitler bedeutet Krieg!«

Die Luft im Wohnzimmer schien zum Zerreißen gespannt und plötzlich herrschte Totenstille. Georg Sedlmayr hatte von Krieg gesprochen. Das lange Schweigen, das eintrat, schmerzte Hannah mehr in den Ohren als lautes Gebrüll.

»Jetzt übertreibst du aber, Schorsch. Rede doch nicht solch einen Blödsinn! Du machst ja noch die Pferde wild und setzt den Kindern Flausen in den Kopf.« Theresa Sedlmayr, Hannahs Mutter, schüttelte erzürnt den Kopf. Sie war eine hochgewachsene Frau schmaler Statur. Auch nach drei Geburten war ihre Taille gertenschlank. Von ihrer französischen Mutter hatte sie die leicht schrägen Augen und die tintenschwarzen Wimpern geerbt. Nach wie vor war sie eine Schönheit.

»Binnen vier Jahren muss der deutsche Bauer der Verelendung entrissen sein. Binnen vier Jahren muss die Arbeitslosigkeit endgültig überwunden sein«, drang die Stimme aus dem Radio.

Auch in Rosenheim war die Arbeitslosigkeit ein leidiges Thema. Die Bürgerinnen und Bürger tuschelten am Zaun des Nachbarn darüber. Sie suchten nach Arbeit auf einem der vielen Höfe, die genug Geld abwarf, um die hungrigen Mäuler daheim zu stopfen. War die Lage wirklich so aussichtslos? Im ganzen Land? Ihr Vater arbeitete seit Jahren als Arzt. Hans Sternlicht unterhielt eine Apotheke in der Innenstadt.

»Hitler ist der Einzige, der die Bevölkerung aus der Not und der sozialen Unterdrückung befreien kann.« Karl, der bisher an der Wand gelehnt hatte, richtete sich nun zu voller Größe auf. Schon jetzt überragte er Hannah um einen halben Kopf. Seine Beine waren lang und dünn wie Stelzen. Die Haare honigfarben.

»Wie kommst du denn auf diesen Kuhmist?«, blaffte Georg Sedlmayr seinen Sohn an. »Als ob du auch nur einen Funken Ahnung von Politik hast. Befreiung. Befreiung! Hindenburg stürzt uns alle ins Verderben.« Seine Brust hob und senkte sich, als würde ihn das Sprechen anstrengen. »Wir hatten schon einmal einen Krieg. Seitdem bin ich hellhörig. Wie wir wissen, ist dieser verdammte Krieg nicht gut für uns ausgegangen.«

»Das hier ist doch etwas völlig anderes, Schorsch«, fauchte seine Frau. »Du wirst ja richtig wild mit deinem Kriegsgefasel. Wie immer malst du den Teufel an die Wand!«

»Denk an meine Worte, Resi!«

Theresa Sedlmayr verzog den Mund und schüttelte den Kopf.

»Wir werfen einen Blick ins Arbeitszimmer Adolf Hitlers. Im hellen Licht steht er am Fenster und blickt hinaus auf die vorbeimarschierende SS, auf die ungeheuren Menschenmassen, die ihm zujubeln. Adolf Hitler steht mit todernstem Gesicht am Fenster. Er ist eben aus seiner Arbeit herausgerissen, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung, die auf seinem Gesicht liegt. Er ist nur unterbrochen worden und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über die Massen von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbeimarschieren. Arbeiter der Stirn und der Faust.« Der Sprecher überschlug sich fast vor Begeisterung.

Wie konnte ihr Vater denn so negativ sein? Alles klang großartig. Vielleicht übertrieb er ja wirklich, wie ihre Mutter es gesagt hatte. Im Radio konnte man doch nicht einfach irgendwelche Lügen erzählen. Schließlich hörten so viele Menschen zu.

Dr. Sedlmayr polterte zum Wohnzimmer hinaus und warf die Tür ins Schloss, die aber mit einem Knall wieder aufsprang.

»Ich sehe wohl besser mal nach ihm«, sagte Hans Sternlicht.

»Er muss jetzt nicht seine ganze Wut an den Türen auslassen«, schimpfte Hannahs Mutter. Mit beiden Händen strich sie sich das Kleid glatt, das vom Sitzen etwas verknittert war.

In der Küche hörte Hannah Sofia mit dem Geschirr klappern.

»Schorsch besteht bestimmt darauf, dass ihr zum Abendessen bleibt. Wir haben frisches Bauernbrot gebacken«, sagte Theresa Sedlmayr zu Jacobs Mutter.

»Warum ist Papa so wütend? Wird es wirklich Krieg geben?«, flüsterte Hannah ihrer Mutter zu.

»Hannah«, rief sie laut aus, sodass alle sich ihr zuwandten. »Ich hätte wirklich nicht geglaubt, dass auch du so ein dummes Schäfchen bist. Jetzt hör auf vom Krieg zu reden. Genau das habe ich vorhin gemeint. Dein Vater setzt dir Flausen in den Kopf.«

»Hoffentlich! Hoffentlich wird es Krieg geben. Hitler will doch was gegen die Arbeitslosigkeit machen. Außerdem wurde Deutschland beim Versailler Vertrag über den Tisch gezogen. Ich würde sofort in den Krieg ziehen, wenn es sein muss«, mischte sich Karl ein.

»Natürlich würdest du das, mein Engel. Aber jetzt will ich kein Wort mehr vom Krieg hören. Verstanden!«

Im ersten Stock hörte man die beiden Männer noch lautstark diskutieren.

»Komm, wir decken den Tisch, während Sofia das Essen vorbereitet«, raunte Jacob Hannah zu.

Georg und Hans kamen mit erhitzten Gesichtern die Treppe herunter. Laut schnaubend ließ sich Hannahs Vater auf einen der Holzstühle fallen.

Von draußen drangen plötzlich Geräusche herein. Durch die Gassen auf der Rückseite des Hauses hallten Lieder und lautes Gelächter. In der nächsten Sekunde waren alle Kinder am Erkerfenster, das auf die Straße blickte. In nicht allzu weiter Ferne erkannte man einen Zug von Menschen, der sich die Straße entlangschlängelte. Das Licht der Fackeln tanzte über ihnen und erfüllte die Dunkelheit. Hannah drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Lachen. Rufe. Was musste es für ein Gefühl sein, da dazuzugehören! Der Wunsch, sich dem Treiben anzuschließen, keimte so schnell in ihr hoch wie eine Knospe in der Frühlingssonne.

»Seht mal da!«, rief Karl, der auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers aus dem Fenster geblickt hatte. Zwei Jungen standen vor dem Tor und winkten. »Das ist ja Max!« Karl eilte zur Garderobe und griff nach seinem Mantel.

»Hiergeblieben!« Georg Sedlmayr lief, so schnell es sein Bein erlaubte, hinter seinem Sohn her. Er packte ihn am Arm, bevor dieser die Haustür aufreißen konnte.

»Zurück ins Wohnzimmer sag ich dir!« Seine Stimme war scharf wie ein Messer. Hannah erstarrte. Noch nie hatte ihr Vater gegen eines der Kinder so die Stimme erhoben, geschweige denn eines je grob angefasst.

»Alle meine Freunde sind da draußen. Es ist meine Entscheidung, was ich mache. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.« Karl riss sich los und rannte zur Tür hinaus. Die Nacht war klar. Ein samtiges Schwarz mit einem Himmel voller Sterne.

Georg Sedlmayr warf die Tür ins Schloss und fluchte vor sich hin. Karl war weg. Die Sternlichts warfen sich irritierte Blicke zu. Keiner wollte sich einmischen.

»Lass den Jungen doch seinen Spaß haben. Schließlich habe ich Max selbst gesehen. Was ist schon dabei.« Theresa schnalzte mit der Zunge.

»Göring wird gleich im Radio zu hören sein«, brummte Hannahs Vater.

»Göring ist hier in Rosenheim geboren worden«, erklärte ihr Hans, da er Hannahs fragenden Blick aufgefangen hatte. »Er hat die ersten drei Jahre seines Lebens bei Familie Graf verbracht. Eure Großmutter war damals mit Frau Graf befreundet, und sie sind öfter mit den Jungen spazierengegangen. Göring und dein Vater sind ja beinahe gleich alt.«

Das Radio wurde wieder laut. »Hunderttausend und Aberhunderttausend SA, SS, Stahlhelm, Volk und immer wieder Volk strömte vorbei, um den geliebten Führer zu sehen. Strömte vorbei, um damit kundzutun, dass heute ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte gekommen ist. Darin sehen wir auch den Zusammenschluss der deutschen Nation. Hunderttausend im ganzen Land, Millionen deutscher Menschen fällt eine Zentnerlast von der Brust herunter, sie glauben wieder, dass das Volk zu sich selbst zurückgefunden hat. Die neue Reichsregierung wird vom ersten Tage an bestrebt sein, nicht in alten ausgefahrenen Gleisen dahinzuwandern, sondern neue Wege zu führen, um zum Erfolg zu kommen.«

»Ich kann den Blödsinn nicht mehr mit anhören.« Georg Sedlmayr drehte das Radio ab.

»Es ist schon spät geworden, Schorsch. Wir wollen euch keine Umstände machen und machen uns am besten gleich auf den Heimweg«, sagte Hans.

»Das kommt ja überhaupt nicht in Frage. Der ganze Pöbel ist auf den Straßen unterwegs. Ich lasse nicht zu, dass ihr auch nur einen Fuß nach draußen setzt. Ausgeschlossen! Sofia wird euch die Betten im Gästezimmer herrichten. Hermann schläft bei Karl, und deine Jungen können dann sein Zimmer haben. Jacob kann von mir aus zu Hannah.«

Theresa zog laut die Luft durch die Zähne, doch ihr Mann ignorierte sie. Georg Sedlmayr duldete keinen Widerspruch, sodass die Sternlichts doch am gedeckten Tisch Platz nahmen. Das Essen verlief schweigend. Es war genug gesagt worden. Nachdem das Abendbrot beendet war, nutzten Hannah und Jacob sofort ihre Chance, um sich schnellstmöglich abzuseilen. Karl war weg, und keiner wusste, wann er wiederkommen würde.

Als sie aus dem Badezimmer kam, lag Jacob schon auf der Gästematratze auf dem Fußboden. Hannah löschte das Licht und hörte Jacob in der Dunkelheit laut atmen.

»Papa hat mir heute Angst gemacht. Glaubst du auch, dass es Krieg geben wird?« Keine Antwort. »Jetzt sag schon endlich. Glaubst du es auch?«

»Ich glaube nicht, dass es so schlimm wird, wie dein Vater gemeint hat. Du wirst sehen, morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus.« Die Bettdecke raschelte. »Schlaf jetzt, Hannah. Mach dir nicht zu viele Gedanken.«

Hannah drückte ihr Gesicht ins weiche Federbett mit dem frisch gewaschenen Bezug, doch heute konnte sie den Duft nach Frühling einfach nicht riechen.

Von Liebe und Hoffnung

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