Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 14

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Anfang April 1933

Von Weitem sah man schon, dass die Flagge der Nationalsozialisten vor der Schule im Wind flatterte. Jacob und Simon hielten kurz inne, als sie den Pausenhof betraten, sahen sich an und liefen dann wortlos weiter. Was würde auf sie zukommen? Bereits jetzt waren sie im Klassenzimmer in die letzte Reihe verbannt worden, in der eigentlich nur diejenigen Platz nehmen mussten, die schlechte Zensuren schrieben. Je besser man war, desto weiter rückte man nach vorne. So hatte der Lehrer sofort einen Überblick, wer zu den Dummköpfen und wer zu den schlauen Füchsen gehörte. Jetzt war alles anders. Jacob saß ganz hinten. Nicht weil er dumm war. Nicht weil er schlechte Noten schrieb. Einzig und allein, weil er Jude war.

Ein paar Mitschüler beobachteten, wie sie auf die Fahne reagieren würden, doch Jacob hatte gelernt, seine Wut zu schlucken. Gefühle auszublenden. Zu ignorieren. Obwohl es bei einem Boxkampf hauptsächlich darum ging, den Gegner K.O. zu schlagen, musste man seine Emotionen im Griff behalten. Gingen sie mit einem durch, verlor man. Auch im richtigen Leben. Zeigte man Schwäche, verlor man. So einfach war das.

Jacob fiel es schwer, einige Mitschüler nicht zu beachten, die die Hacken zusammenschlugen und ›Heil Hitler‹ donnerten, als die beiden Jungen an ihnen vorbeigingen. Jacobs Blick wanderte über die Fenster im ersten Stock, in dem sich das Lehrerzimmer befand, und er sah Völkl hinter der Scheibe, der sie beobachtete. Jacob hielt seinem Blick stand, so lange, bis er durch die Eingangstür geschritten war.

Simon klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken, bevor er die Treppen nach oben ging, während Jacob gleich nach rechts in den Gang bog, der zu seinem Klassenzimmer führte.

Hannah war schon da. Seit ihrer Begegnung im Wald hatten sie kaum mehr miteinander gesprochen. Sie trug ihr blaues Dirndlkleid mit einer weißen Leinenbluse. Ihr Vater nahm sie in letzter Zeit immer mit zur Schule, wenn er in die Praxis fuhr. Hannah und ihre Freundinnen kicherten und lachten vergnügt. Sie nahm keinerlei Notiz von ihm, als er sich an ihrem Rücken vorbeidrückte und sich auf seinen Platz in der letzten Reihe fallen ließ.

Draußen im Gang hallten die Stiefel des Lehrers. Völkl war auf dem Weg in die erste Stunde. Alle Kinder liefen sofort auf ihre Plätze. Hannah setzte sich neben ihre Freundin Elsa in die erste Reihe. Die beiden schienen wie siamesische Zwillinge verwachsen, man sah sie kaum noch getrennt.

Sobald Völkl über die Türschwelle trat, sprangen alle auf und rissen den rechten Arm nach oben. »Heil Hitler«, riefen sie wie aus einem Mund.

»Heil Hitler«, kam es zurück. Stille kehrte ein.

»Packt eure Sachen weg. Anstelle von Biologie haben wir ab heute ein neues Fach.« Er blickte in die Runde. »Rassenkunde.«

Jacob merkte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss und sein Herz trommelte. Rassenkunde? Das konnte nicht Völkls Ernst sein.

»Ihr wisst, dass es bei Hunden verschiedene Rassen gibt. Ein Schäferhund, der sehr gelehrig ist, dem man viel beibringen kann, ist nicht mit einem Dackel zu vergleichen. Auch bei Pferden gibt es stolze Reitpferde, mit denen man Preise gewinnen kann, und es gibt gewöhnliche Ackergäule, die einen Pflug ziehen. Hier würde keiner die Tatsache in Frage stellen, dass es Unterschiede zwischen den Rassen gibt, obwohl alle zur selben Tierart gehören.«

Die Klasse lauschte. Viele Kinder hingen interessiert an Völkls Lippen. Jacob beobachtete Hannah, die an ihren Fingernägeln kaute. Er kannte sie schon zu lange. Es war Unsicherheit. Wusste sie, worauf das Ganze hinauslaufen würde? Mochte sie ihn womöglich doch noch?

»Jetzt stellt sich mir die Frage, weshalb es bei Tieren zu dieser Einteilung kommen kann, aber beim Menschen nicht, wo es doch auch bei uns unübersehbare Unterschiede gibt. Auch bei uns gibt es sogenannte Schäferhunde, eine Elite. Und es gibt sogenannte Promenadenmischungen. Viecher, bei denen man besser daran täte, sie als Welpen in einer Regentonne zu ersäufen.«

Herbert Bauer nickte eifrig und drehte sich zu Jacob um. Dem Jungen fiel der Boxkampf ein, bei dem Herbert geschworen hatte, ihn vollständig zu zerstören. Der Zeitpunkt dafür schien näher zu rücken.

»Auch beim Menschen kann man schon allein das Aussehen ansprechen. Ein Neger sieht völlig anders aus als ein Arier. Schließlich ist er rußschwarz. Ein Jude sieht ebenso völlig anders aus als ein Arier.«

Jacob hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mit den Händen klammerte er sich an seiner Tischkante fest. So fest, dass die Knöchel weiß wurden.

»Beschäftigen wir uns heute erst einmal mit den äußeren Merkmalen eines Juden. Ein Neger ist schon fast zu einfach. Da könnte mir ein Kleinkind alle Unterschiede sofort aufzählen. Glücklicherweise haben wir auch keinen in der Klasse sitzen.« Er schien in Gedanken zu sein und schüttelte angewidert den Kopf. »Ich werde beim Direktor einen Klassenausflug beantragen, damit wir gemeinsam eine Völkerschau besuchen können. Dann hat jeder von euch die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen.« Er rieb die Hände aneinander. »Aber jetzt zu den Juden. Die kennt ihr ja aus dem täglichen Leben. Merkmale?«, fragte Völkl in die Klasse.

Herberts Hand schoss so schnell in die Luft wie eine Kanonenkugel. Sein Hintern berührte schon gar nicht mehr die Sitzfläche seines Stuhles.

»Ja, bitte, Herbert?«

»Juden sind raffgierig, betrügerisch und hinterhältig«, sprudelte es aus ihm heraus und er bleckte die Zähne zu einem kalten Lächeln, während er wieder Jacob anstierte.

»Ich wollte zwar vielmehr auf die äußeren Merkmale hinaus, aber das ist natürlich alles richtig, was du gesagt hast.« Völkl nahm die Kreide aus dem Behälter und schrieb das Wort ›Jude‹ mit großen Lettern an die Schiefertafel. Außen herum notierte er die Adjektive, die Herbert gerade genannt hatte.

»Noch jemand?«

Zögerlich wachte die Klasse auf und immer mehr Kinder hoben die Hand, um zu antworten.

»Christusmörder«, rief ein Junge aus der zweiten Reihe.

Das Wort schien Völkl besonders gut zu gefallen, da er es sogar doppelt unterstrich. Um das Schlagwort ›Jude‹ sammelten sich nun mehr und mehr Begriffe. Jedes der Wörter schmerzte wie ein Peitschenhieb, und Jacob wünschte sich in diesem Moment, dass es noch einen wie ihn in der Klasse gäbe. Einen zweiten Juden, damit er die Gemeinheiten leichter ertragen konnte. Geteiltes Leid.

Alle schienen etwas zu sagen zu haben, bis auf Hannah. Ihre Hand blieb unten, die Lippen unbewegt. So keimte trotz allem etwas Freude in ihm auf, dass Hannah stumm blieb.

»Jetzt haben wir die Charakterzüge der Juden besprochen. Aber es gibt natürlich auch die Äußerlichkeiten, an denen ihr einen Juden sofort erkennen könnt.«

Herbert streckte die Hand wieder nach oben. Endlich hatte er ein Fach gefunden, in dem auch er punkten konnte. Sonst gehörte er nicht zu den hellen Köpfen in der Klasse. Nicht umsonst drehte er die zweite Ehrenrunde.

Jacobs Wut schlug um in Hass. Hass auf Herbert, der selbstgefällig grinste und so viele Gemeinheiten sagte. Hass auf den Lehrer, der dieses dämliche Fach angefangen hatte. Hass auf die Schule. Hass auf sich selbst, da er Jude war. Tränen stachen in seinen Augen, doch er konnte sich nicht die Blöße geben und losheulen. Er musste weit weg von hier. An einen Ort, an dem es ihm gutging. Wie war es mit dem Wald? Jacob versuchte, das Harz der Kiefern zu riechen. Den Gesang der Vögel zu hören. Den Ausblick vom Gipfel eines Berges zu sehen.

»Hakennase. Engstehende Augen. Kurze Stirn. Wulstige Lippen. Dunkle, krause Haare.«

Völkl nickte beeindruckt. »Ausgezeichnet, Herbert. Ich trage dir deine erste Eins in Rassenkunde ein. Ich nehme an, dass du auch schon mit deinen Eltern viel über dieses Thema gesprochen hast?« Herbert nickte eifrig.

Hannahs beste Freundin Elsa, die hervorragend malen konnte, durfte nach vorne kommen und ein Portrait eines Juden zeichnen.

»Vergiss die Plattfüße und die krummen Beine nicht, Elsa«, erinnerte sie Völkl. An der Tafel prangte nun eine entsetzliche Karikatur, die eher einem Dämon glich als einem Menschen.

»Hannah?« Das Mädchen zuckte zusammen, als hätte es gerade einen Stromschlag erhalten. »Komm bitte nach vorne.«

Mit einem Mal war Jacob wieder da. Seine Gedanken, die ihn weit weggetragen hatten, waren zurück. Zurück in der Realität. Zurück im Klassenzimmer. Hannahs Mund stand leicht offen und ihre Finger zitterten, als sie neben den Lehrer trat.

»Eine arische Schönheit«, lobte der Lehrer, als wäre Hannah ein Gemälde und kein Mensch aus Fleisch und Blut. Er nahm den Zeigestab heraus und Hannahs Wangen färbten sich in Erwartung eines Hiebs kalkweiß. »Blaue Augen. Blonde Haare. Ein symmetrisches Gesicht.« Das Ende des Zeigestabs berührte fast ihr Gesicht. »Schlanker Körperbau. Gerade Beine.« Jacobs Blick fiel auf ihre Füße, die in geschlossenen Sandalen steckten.

»Noch ist ihr Becken schmal, aber es wird etwas breiter werden, damit sie dem Führer schon in ein paar Jahren arische Kinder gebären kann. Dafür muss sie sich natürlich mit einem arischen jungen Mann paaren.« Hannahs Gesichtsfarbe glich einer Chilischote und sie schielte auf Völkl, während der den Zeigestab an ihrer Hüfte hoch und runter führte. »Auch die anderen Geschlechtsmerkmale sind noch nicht richtig ausgereift.«

Jacob war völlig klar, worauf Völkl als nächstes zeigen würde. Er schien komplett übergeschnappt zu sein. Solche Themen wurden sonst hinter vorgehaltener Hand besprochen. Im Flüsterton. Nicht beim Namen genannt.

Jacob musste ihr aus dieser Situation helfen. Koste es, was es wolle. Wie automatisiert bewegten sich seine Beine und er ging zwischen den Bänken nach vorne. Einige starrten ihn überrascht an, als er an ihnen vorbeischritt.

»Was zum Teufel suchst du hier vorne?«, herrschte ihn Völkl an. In Hannahs Gesicht standen Überraschung und Entsetzen gleichermaßen.

»Sie wollten doch mit den Äußerlichkeiten des Juden weitermachen. Ich dachte, dass ich schon einmal vorkomme, jetzt, wo der Arier fertig ist.«

Völkl kniff die Augen zusammen, sofern das bei seinen kleinen Schlitzen überhaupt noch möglich war. Aber er nickte.

Jacob stellte sich neben Hannah.

»Du kannst dich wieder hinsetzen«, flüsterte er ihr zu, doch sie schüttelte den Kopf und blieb neben ihm stehen.

Die ersten Kinder meldeten sich. Völkl rief natürlich Herbert auf.

»Deformation der Beine!«

»Richtig. Das zeigt die Unfähigkeit zum Marschieren«, erklärte Völkl fachmännisch. »Fast schon krankhaft. Typische Skelettverformungen, Anfälligkeiten für Krankheiten. Froschbauch. Zwergwuchs. Quadratschädel. Mangelnder Muskeltonus. X- oder O-Beine. Henkelohren. Nicht zu vergessenen der ammoniakalische Windelgeruch.«

Die Klasse tobte vor Lachen.

»Die Plattfüße kommen daher, dass der Jude immer auf Wanderschaft ist. Er ist zur Heimatlosigkeit verdammt und irrt rastlos in der Welt umher.« Völkls Augen hatten einen irren Glanz angenommen. Seine Stimme überschlug sich fast, so sehr war er in Ekstase.

»Dann die Kopfform eines Juden. Ein auffällig deformierter Schädel.«

Jacob konnte nicht anders. Er brach in schallendes Gelächter aus, klopfte sich auf die Schenkel und deutete von dem schrecklichen Gemälde an der Tafel auf sich selbst. Totenstille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.

Völkl baute sich vor Jacob auf und fletschte dabei die Zähne wie eine Raubkatze. Zum Angriff bereit.

»WAS IST SO LUSTIG?«, brüllte er, so laut er konnte. Da Jacob nicht augenblicklich verstummte, packte ihn Völkl am Kragen und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Tafel. Die Kreideablage drückte sich schmerzhaft in Jacobs Rücken. Das Gesicht des Lehrers war seinem so nahe, dass sein unangenehmer Atem über seine Haut strich. Völkls Augen quollen beinahe aus ihren Höhlen und seine dicken Wurstfinger krallten sich in Jacobs Hals, der nach Luft japste.

»Dir wird das Lachen schon vergehen, Bürschlein!«, zischte er Jacob ins Ohr. Seine Füße berührten kaum noch den Boden. Die Sekunden fühlten sich wie Stunden an. Würde Völkl ihn umbringen? Sauerstoff. Er brauchte Sauerstoff!

»Hören Sie auf!« Eine leise Stimme drang an Jacobs Ohren. »Hören Sie sofort auf! Sie bringen ihn um!« Die Stimme wurde lauter, bis sie in einem Schrei gipfelte. Hannahs Stimme.

Zu Jacobs Überraschung ließ Völkl ihn los und tigerte nun vorne auf und ab. Wie ein Leopard, der kurz von seiner Beute abgelassen hatte. Würde ein erneuter Angriff kommen? Jacob sank auf dem Boden zusammen und rang nach Luft. Bei jedem Atemzug, der durch seine Lungen strömte, versuchte er, sich mehr zu beruhigen. Wie bei einem Boxkampf. Als er den Kopf hob und in die Klasse blickte, bemerkte er, dass alle wie erstarrt waren. In den Gesichtern der Mitschüler stand das Entsetzen. Hannah löste sich aus ihrer Versteinerung, kam auf ihn zu und ging neben ihm in die Hocke.

»Bist du in Ordnung?«, fragte sie besorgt und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Sie war eiskalt. Jacob nickte.

»Ich glaube schon.« Sein Hals fühlte sich immer noch an, als wäre ein Strick um ihn gelegt.

»Kommen Sie schnell, Herr Direktor.« Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Klassenzimmertür offenstand. Elsa eilte herein, dicht gefolgt vom Direktor.

»Was ist hier bitteschön los?« Der Direktor blickte von der Klasse auf Völkl und seine Augen blieben dann an Jacob hängen, der noch am Boden kauerte. »Völkl! Was ist hier los? Ich habe gehört, dass Sie ein Kind gewürgt haben!«

»Diszipliniert«, korrigierte Völkl. Offenbar hatte er sein Selbstvertrauen zurückgewonnen.

»Kommen Sie sofort in mein Büro! Ihr beide auch«, meinte er und deutete auf Jacob und Hannah. »Natürlich nur, wenn du mitkommen kannst und willst.« Die Sanftheit in seiner Stimme erschreckte Jacob. Kaum einer der Lehrer hatte ein freundliches Wort für ihn übrig. Nur Spott, Beleidigungen, Zorn.

Sie folgten dem grauhaarigen Mann in sein Büro.

»Rufen Sie Dr. Sedlmayr an«, sagte er zu seiner Sekretärin, die sofort den Hörer in die Hand nahm und in einem Buch blätterte, um die Nummer herauszusuchen.

»Ich möchte erst allein mit den Kindern sprechen. Dann sind Sie an der Reihe«, meinte er an Völkl gerichtet. Der schnaubte wie ein Rhinozeros und verschränkte zornig die Arme.

»Bitte, kommt rein und nehmt Platz.«

Im Raum stand ein großer Schreibtisch mit Stühlen auf beiden Seiten. Die Wände zierten Landschaftsbilder. Zögerlich traten die beiden Kinder auf die Stühle zu und setzten sich.

»Was hat sich vorhin im Klassenzimmer ereignet?« Keiner traute sich zu antworten. »Ihr müsst keine Angst vor mir haben. Ihr dürft offen mit mir reden.« Sein Lächeln war warm und wirkte echt, doch Jacob war in letzter Zeit misstrauisch geworden. Man konnte niemandem mehr trauen. Vor allem nicht in der Schule.

»Herr Völkl hat heute ein neues Unterrichtsfach begonnen«, antwortete Hannah stattdessen. Sie schien weniger misstrauisch, aber sie hatte auch noch keine Demütigungen am eigenen Leib erfahren. Bis heute. »Rassenkunde. Dabei hat er die äußeren Merkmale eines Juden aufgelistet, aber auch Charakterzüge, die einen Juden angeblich beschreiben.« Angeblich? Also dachte Hannah nicht so. Jacob fiel ein Stein vom Herzen. Sie wiederholte beinahe alle Wörter, die an der Tafel gestanden hatten.

»Dann musste erst ich nach vorne kommen.« Der Direktor zog die grauen, buschigen Augenbrauen nach oben, unterbrach das Mädchen aber mit keiner Silbe.

»Herr Völkl hat anhand meines Aussehens ein arisches Mädchen beschrieben. Er ist dabei auch auf meine Geschlechtsmerkmale eingegangen.« Der Direktor verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. Mit ihm gab es offenbar doch wenigstens einen Menschen an dieser Schule, der noch klar denken und fühlen konnte.

»Dann ist Jacob plötzlich neben mir gestanden, um mir aus der Patsche zu helfen.« Sie lächelte ihm von der Seite zu und ihre Augen glitzerten dabei.

»Was geschah weiter?«, wollte der Direktor wissen.

»Herr Völkl hat ganz schreckliche Sachen gesagt, dann ist er plötzlich auf Jacob losgegangen, hat ihn gegen die Tafel gepresst und ihm die Kehle zugedrückt.«

Bevor der Direktor antworten konnte, riss jemand die Tür von außen auf und Völkl trampelte ins Zimmer.

»Mir reicht diese Warterei. Ja, ich habe dem Bengel hier eine Lektion erteilt. Er hat einen Lachanfall bekommen und somit meinen Unterricht lächerlich gemacht. Irgendwie musste ich dem Ganzen ja Einhalt gebieten.«

»Haben Sie den Jungen gedemütigt? Vor der gesamten Klasse?«

»Gedemütigt, gedemütigt. Irgendjemand muss die Jugend doch aufklären. Woher soll sie sonst das Wissen bekommen? Der Führer gibt vor, dass wir über die Juden informieren.«

»Nicht auf diese Art und Weise«, zischte der Direktor, und plötzlich befanden sich Hannah und Jacob inmitten einer verbalen Auseinandersetzung. »An meiner Schule werden Kinder nicht gedemütigt! Auch Juden sind Schüler meiner Schule und haben das Recht, respektiert zu werden. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Im selben Moment klopfte es an der Tür, und Georg Sedlmayr trat ein. Er sah besorgt aus, eilte sofort auf seine Tochter zu und stellte sich schützend hinter sie.

»Alles in Ordnung?«, fragte er seine Tochter. Hannah nickte. Jacob merkte, dass sie sich freute, ihren Vater zu sehen und er musste zugeben, dass es ihm selbst auch so ging. »Und bei dir, Jacob?« Auch dieser nickte.

Der Direktor erzählte Georg Sedlmayr schnell von den Ereignissen, der mit jedem Wort zorniger wurde.

»Was sind Sie nur für ein Lehrer? Ein Pädagoge!?«, griff Sedlmayr Völkl offensiv an. »Wie weit ist es denn schon gekommen? Wollen Sie den Jungen das nächste Mal auspeitschen wie im Mittelalter? Oder an die Wand nageln? Genug ist genug.«

»Sie sollten besser Ihre Zunge hüten« rief Völkl und seine ohnehin schon breite Brust spannte sich vor Wut. »Ich habe gute Kontakte zur SA. Die werden Sie genauer unter die Lupe nehmen, wenn Sie hier so einen Aufstand veranstalten.«

»Diesen Aufstand veranstalten Sie schon selbst. Ein richtiges Kasperltheater. Tut mir leid, Herr Direktor, aber ich muss den Jungen mitnehmen und untersuchen. Vielleicht ist er nach dem Angriff ernsthaft verletzt worden. Das würde die Schule in ein ganz schlechtes Licht rücken, wenn an die Öffentlichkeit dringt, dass hier Kinder gewürgt werden. Und die Lehrer auch noch damit durchkommen.«

Völkl schluckte schwer, dann blieb ihm der Mund offen stehen. Ihm fiel keine passende Antwort mehr ein.

»Ich bitte Sie, von einer Meldung an die Zeitung abzusehen«, begann der Direktor. Also jetzt bezog er doch Stellung für eine Seite.

»Das hängt ganz davon ab, wie weiter mit jüdischen Schülern hier umgegangen wird.« Sedlmayr nahm Hannah am Arm und zog auch Jacob auf die Beine. »Auch meine Tochter ist vor der gesamten Klasse gedemütigt worden. So etwas dulde ich nicht! Sie werden mit Konsequenzen rechnen müssen.« Der Direktor erbleichte.

»Davon können wir doch sicherlich absehen. Aber ich finde auch, dass Herr Völkl den beiden eine Entschuldigung schuldet.« Völkl erschrak, als hätte der Direktor gerade sein Todesurteil laut ausgesprochen.

»So?«, meinte Sedlmayr trocken. Er blieb stehen und sah dem Lehrer tief in die Augen.

»Kommt nicht wieder vor«, knurrte er in Hannahs Richtung und marschierte dann mit donnernden Schritten aus dem Raum.

»Habe ich mir schon gedacht«, murmelte Sedlmayr und verabschiedete sich vom Direktor.

Hannah und Jacob gingen zusammen mit ihm aus dem Büro, holten noch schnell ihre Schultaschen aus dem Klassenzimmer und fuhren dann mit ihm zu seiner Arztpraxis. Dr. Sedlmayr schien die Art Mensch zu sein, die man sich in seiner Nähe wünschte, wenn es Probleme gab.

»Dieser gottverdammte Sedlmayr!« Winters Hände zitterten vor Wut, als er den Hörer in der Kanzlei auf die Gabel hängte. Völkl, ein Lehrer aus dem Humanistischen Gymnasium, hatte ihn über die Vorkommnisse informiert. Nur weil er den Unterricht umsetzen wollte, wie ihn der Führer vorschrieb, hatte ihm eines der jüdischen Bälger einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und er war damit durchgekommen. Der Direktor selbst hatte sich gegen seinen Lehrer verschworen und einem Mädchen und einem Juden geglaubt. Unmöglich.

Winter ging ins benachbarte Büro und berichtete Erwin Holzer von Völkls Erzählungen. Auch dieser schüttelte fassungslos den Kopf. Die Stimmung bei ihnen war ohnehin schon angespannt, da Hitler vor ein paar Tagen auf dem Rückweg von Berchtesgaden durch Rosenheim gefahren war. Sie hatten gehofft, nein, erwartet, dass er die Ausstellung »Deutsche Frauen – Deutsche Waren« des landwirtschaftlichen Hausfrauenvereins besuchen würde, doch er hatte sich nicht blicken lassen.

Holzer hatte im Stadtrat, aus dem die KPD mittlerweile völlig verbannt war, durchsetzen können, dass die Innstraße, die der Führer auf seiner Durchreise benutzt hatte, nach Hitler benannt wurde. Auch einige andere Straßen erhielten neue Namen. Die Münchner Straße ehrte Hindenburg und die Hubertusstraße trug nun den Namen von General Epp. Winter selbst schlug vor, die Straße, die an Görings Geburtshaus vorbeiführte, Göringstraße zu nennen, was Begeisterung auslöste.

Ein Dorn im Auge waren aber nach wie vor die Sozialisten. Winter hatte über Sedlmayr recherchiert und herausgefunden, dass er einen Bruder hatte, der als Abgeordneter der SPD im Reichstag in Berlin saß. Ob der Doktor auch ein heimlicher Sozialist war?

»Wir sind schon auf dem richtigen Weg, Erich. Wir brauchen einfach noch ein wenig Zeit.«

»Zeit? Es geht hier nicht schnell genug!«

»Mit dem neuen zweiten Bürgermeister haben wir den richtigen Mann an der Spitze. Er hat schon dafür gesorgt, dass einige Lehrer, die sich regimefeindlich geäußert hatten, ausgestellt wurden. Völkl hat alles richtig gemacht. Wir sollten lieber den Direktor im Auge behalten.« Und Sedlmayr, fügte Winter in Gedanken dazu.

»Schritt für Schritt. Wir können nicht alles auf einmal schaffen. Die KPD ist schon so gut wie besiegt, auch die SPD haben wir im Griff. Die Gebäude und Büros jeglicher Vereine, Organisationen und Verbände, die im Verdacht stehen, der sozialdemokratischen Bewegung anzugehören, wurden von unseren Leuten auf verdächtiges Material durchsucht. Schon bald sind alle auf unserer Seite, glaub mir.«

»Besser, wir kümmern uns so schnell wie möglich um diese Angelegenheiten«, zischte Winter grimmig.

»Ein Brief ist vorhin für dich gekommen, Erich«, meinte Holzer und reichte ihm den versiegelten Umschlag.

»Er ist aus München. Vom Parlament«, sagte dieser überrascht. Gierig riss Winter den Umschlag auf, zog den Brief heraus und verschlang die Sätze. Bei jedem Wort wurde sein Lächeln breiter.

»Ich wurde zum Ortsgruppenleiter befördert«, japste Winter atemlos.

Holzer sprang freudig auf.

»Gratuliere, Erich! Das sind ja hervorragende Neuigkeiten. Den großen Fischen scheint deine Arbeit zu gefallen.«

Winter wusste nicht, was er sagen sollte. Glück. Zufriedenheit. Stolz. Ein buntes Gefühlskaleidoskop.

»Du musst eine Feier geben, Erich. Einen großen Empfang im Rathaus! Wir laden alle wichtigen Leute ein. Alles, was Rang und Namen hat. Die ganze Stadt wird dich feiern!«

Holzer hatte Recht. Winter sah sich in Gedanken vor Hitler persönlich stehen. Er schüttelte ihm die Hand und wurde zum Ehrenbürger ernannt. Vielleicht hatte sein Vater doch das Richtige getan. Diese kleine Stadt konnte für ihn ein Sprungbrett sein. Straßen würden nach ihm benannt werden, Schulen. Winter grinste von einem Ohr zum anderen. So gut hatte er sich seit Wochen nicht gefühlt.

»Ich mache mich gleich an die Einladungen«, sagte er zu Holzer und verschwand freudestrahlend in seinem Büro. Der beste Tag für solch eine Feierlichkeit erschien ihm der Samstag nach Hitlers Geburtstag.

Von Liebe und Hoffnung

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