Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 16
ОглавлениеMai 1933
Die Anzahl der in Rosenheim lebenden Juden war im Vergleich zu den im Umkreis liegenden Städten hoch. Viele jüdische Familien waren Ende des 19. Jahrhunderts in die Stadt gezogen, da die Wirtschaft lebendig war und sie hier vom Einzelhandel leben konnten. Hans Sternlicht war mit seinen Eltern als Junge von Polen nach Deutschland gekommen und hatte später die Apotheke seines Vaters übernommen. Obwohl er noch Polnisch beherrschte, fühlte er sich hier zu Hause.
Jacob schlenderte nach Schulschluss durch die Straßen. Vorsichtig wie ein Fuchs spitzte er die Ohren, um dem Gerede der anderen Kinder zu lauschen. Er hatte gelernt zu warten, bevor er ihnen in die Falle tappte. Als Boxer kannte er natürlich einige Tricks und war in der Lage sich zu verteidigen, doch schon zweimal hatte ihn Herbert mit seinen Freunden von der Hitlerjugend in eine Sackgasse getrieben und auf ihn eingeschlagen. Wie immer benötigte er seine Eskorte, da er allein nicht den Mumm aufbringen konnte, um gegen Jacob zu kämpfen. Die Schmach bei der Niederlage im Boxen war noch allgegenwärtig. Deshalb mussten immer zwei Jungen Jacobs Arme auf den Rücken drehen und ihn festhalten, wenn Herbert ihm ins Gesicht schlug. Zweimal war er schon mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Simon war jedes Mal ausgerastet, doch als er seinen Bruder rächen wollte, war er selbst mit einer blutigen Lippe nach Hause gekommen. Es waren einfach zu viele Gegner.
Etwas leichter hatte es noch ihr jüngster Bruder Levi. In der Grundschule verstanden die Kinder den Unterschied zwischen einem Juden und einem Deutschen noch nicht richtig und spielten ausgelassen miteinander. Es gab Tage, da beneidete Jacob ihn. Um seine Sorglosigkeit. Um seine Freunde. Um sein Lachen.
In den letzten Monaten war Jacob vorsichtig geworden. Er wechselte täglich seine Route, nahm Straßen, die zunächst in die falsche Richtung führten, nur um Herberts Bande aus dem Weg zu gehen. Nicht weil er die Schläge nicht einstecken konnte. Die Tränen seiner Mutter versetzten ihm jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er nach einer Schlägerei nach Hause kam. Er fühlte sich schuldig, da er ihr so Kummer bereitete. Seine Sinne hatten sich dadurch geschärft. Jacob konnte mittlerweile die Körpersprache der anderen entschlüsseln, ihre Gespräche belauschen und ihre Fährten lesen. Schon länger hatten sie ihn nicht mehr in die Finger bekommen.
Als Jacob um die Ecke bog, erspähte er Herbert, der mit ein paar Freunden am alten Stadttor lehnte. Wenn er nach Hause wollte, musste er das Tor passieren. Aber er wusste, dass er hier in Sicherheit war. Vielleicht würden sie ihm einige Beleidigungen an den Kopf werfen, ihm drohen, doch einen Angriff mitten auf dem großen Platz würden diese Feiglinge sicher nicht riskieren. Möglichst unauffällig schlenderte Jacob auf sie zu, blieb immer wieder betont fröhlich an einem der Schaufenster hängen und blickte interessiert hinein.
Einer aus der Bande bemerkte ihn und rempelte Herbert mit dem Ellenbogen an.
»Hallo Jude!«, schrie Herbert ihm laut zu, doch Jacob ignorierte ihn und ging gelangweilt weiter. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Gruppe und sein Herz pochte heftig gegen seinen Brustkorb. Warum trieben ihm diese Idioten nur immer den Schweiß auf die Stirn?
»Hörst du jetzt auch noch schlecht? Du hast doch so große Henkelohren.«
»Ach, hallo«, sagte Jacob freundlich und grüßte einen ihrer Stammkunden, der ebenfalls durchs Tor schritt.
»Gibt es Probleme?«, fragte der alte Herr und drehte sich zu Herbert um.
»Nein danke, alles gut.« Am Ende würde es nur noch schlimmer kommen, wenn er Erwachsene um Hilfe bat. Der Mann hielt einen Wimpernschlag inne und setzte dann seinen Weg fort.
»Hast du das schon gesehen?« Herbert deutete auf ein großes Plakat, das nach dem Tor in einem Schaukasten hing. Es zeigte ein blondes Mädchen, das in die Kamera lächelte. Darunter stand irgendein dämlicher Werbespruch für die Partei. Oder war es eine Werbung für den BDM? Jacob hatte bisher noch gar nicht so genau hingesehen.
»Wir haben jetzt eine Berühmtheit in unserer Klasse. Vielleicht müssen wir zukünftig einen Hofknicks machen, wenn Hannah das Klassenzimmer betritt.«
Jacob stockte der Atem. Mit schnellen Schritten ging er auf das Plakat zu und tatsächlich. Sie war es. Hannahs blonde Affenschaukeln. Hannahs Lächeln. Hannahs blaue Augen. Sie trug eine schneeweiße Bluse und so etwas wie eine schwarze Krawatte und blickte mit glänzenden Augen in die Ferne. ›Jugend dient dem Führer‹ stand in großen Lettern über ihrem Bild. Darunter war ein Aufruf vermerkt, dass alle Zehnjährigen sich bei der HJ melden sollten.
»Willst du das Bild jetzt auch noch abknutschen, oder wie?«
Jacob hatte nicht bemerkt, dass seine Finger die Scheibe berührten. Erst jetzt spürte er die glatte Oberfläche und zog die Hand zurück, als hätte er sich auf einer heißen Herdplatte verbrannt. Dann rannte er. Jacob raste in vollem Tempo davon. Ihm war alles egal. Er wollte nur weg. Er schob den Schlüssel ins Schloss und riss die Haustür auf. Als er in den Hausgang stolperte, rannte er in den Keller hinunter und lehnte sich im Dunkeln an die kalte Steinwand. Hastig sog er die Luft ein. Dann sank er in die Hocke. Wie konnte ihn dieses Bild nur so aus der Bahn werfen? Es ist nur ein verdammtes Bild!, versuchte er sich einzureden, doch es gelang ihm nicht. Elsa, Matilda und wie sie alle hießen, die Mädchen an seiner Schule. Warum ausgerechnet Hannah? Warum hatte sie ihm erst noch geholfen und lächelte nun von einem Werbeplakat. Die Jugend des Führers. Sie gehörte nun zu ihnen.
Die Wut kochte in ihm hoch und Jacob merkte erst jetzt, dass er weinte. War er verletzt? Enttäuscht? Zu viele Gefühle stritten in ihm und er drehte sich um und trat mit dem Fuß ein paarmal heftig gegen die Wand. Bis der Schmerz alles andere betäubte und keinen Platz für weitere Gedanken mehr ließ. Jacob wartete noch einige Minuten, bis alle Tränen versiegt waren, dann löste er sich aus seiner Erstarrung und ging die Treppe nach oben bis zur Wohnungstür.
Als er hineinging, fielen ihm sofort die fremden Schuhe auf. Stimmen drangen aus der Küche.
»Schatz, du bist es?«, sagte Sarah Sternlicht, als ihr Sohn die Küche betrat, und küsste ihn auf die Wange. »Ist alles in Ordnung? Du siehst so mitgenommen aus.«
»Schon gut, Mama«, meinte er schnell und ließ Leitungswasser in ein Glas laufen. Sie sah ihn weiterhin mitfühlend an, sagte aber nichts.
»Jacob, wie geht es dir?« Auch Georg Sedlmayr, der Hans besuchte, war die Besorgnis in der Stimme anzuhören.
»Was soll schon sein«, gab er patzig zur Antwort zurück. Er brauchte das ständige Mitleid der Erwachsenen nicht. Im selben Moment fühlte er sich schon wieder schuldig, da Georg es nur gut gemeint hatte.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein«, entschuldigte er sich, doch Georg winkte lächelnd ab.
»Jeder hat mal einen schlechten Tag. Das ist doch ganz normal.« Wie scheinheilig er am Tisch saß. In einem jüdischen Haus, während er seine Tochter als Werbegesicht für den Führer einsetzte. Jacob schluckte eine freche Antwort hinunter und trank von dem Wasser. Sein Mund war staubtrocken.
»Jemand hat bei Fichtl ein Hakenkreuz an den Laden geschmiert«, sagte Hans Sternlicht zu Jacob. Dieser sah erschrocken auf. Moses Fichtl unterhielt eine Schneiderei im Zentrum der Stadt.
»Kauft nicht beim Juden. Die Teerfarbe war kaum von der weißen Wand zu bekommen.« Sarah seufzte. »Wenn sie das bei uns auch anfangen, dann kauft am Ende keiner mehr in der Apotheke ein und wir haben kein Geld mehr.« Tränen standen in ihren Augen.
»Jetzt sieh nicht alles gleich so schwarz, Liebling«, versuchte Hans seine Frau zu beruhigen und griff nach ihrer Hand.
»Nicht so schwarzsehen? Hast du gesehen, wie deine Söhne in letzter Zeit nach Hause kommen? Mit blauen Augen. Blutigen Lippen. Sie werden beleidigt, angespuckt. Wir werden beleidigt. Die Läden werden beschmiert. Wo soll das alles noch hinführen? Ich kann nicht mehr!«, schluchzte sie und schneuzte in ihr besticktes Taschentuch.
»So schlimm ist es gar nicht«, versuchte Jacob seine Mutter zu beruhigen. »Simon und ich kommen schon klar.«
Sarah zog ihn zu sich und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Unsicher tätschelte er ihren Rücken, während ihre Tränen seine Schulter nässten.
»Sie hat recht. So geht es doch nicht mehr! Wollen sie uns aus der Stadt treiben? Aus dem Land? Wo sollen wir denn alle hin?« Auch Hans Sternlicht klang verzweifelt.
Jacob wünschte sich weg. Weit weg. Ein blaues Auge zu kassieren war die eine Sache, aber die eigenen Eltern so hilflos zu sehen, schmerzte noch viel mehr.
»Macht euch keine Sorgen, solange ich meine Medikamente bei euch kaufe. Ich habe doch auch schon die letzten Jahre fast eure ganze Apotheke mitfinanziert«, versuchte Georg Sedlmayr die Situation aufzulockern, doch keinem konnte er damit ein Lächeln entlocken.
»Jacob wird in der Schule schlecht behandelt. Die Lehrer fragen ihn über Stoff aus, den sie nicht einmal durchgenommen haben, damit sie ihm eine schlechte Zensur eintragen können. Dann wird er auch noch geschlagen.«
»Nur das eine Mal, Mama«, log Jacob. Von dem einen Mal hatte er ihr erzählt. Mehr musste sie nicht wissen.
»Es ist bestimmt nur vorübergehend, meinst du nicht auch, Schorsch? In ein paar Monaten wird sich alles wieder legen.«
Alle Augen blickten auf Georg Sedlmayr. Er beugte sich über den Tisch und verschränkte die Finger ineinander. »Ich weiß es nicht, Hans. Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich würde gerne sagen, dass alles besser wird. Einfacher. Aber ich kann es nicht.«
Jacobs Vater nickte langsam, als würde er die Worte erst jetzt begreifen. Keiner wusste, wie die Zukunft aussah.