Читать книгу Von Liebe und Hoffnung - Raphaela Höfner - Страница 11

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28. Februar 1933

Erschrocken fuhr Hannah aus dem Schlaf, als sie im Wohnzimmer das Telefon klingeln hörte. Ihre langen Haare klebten im Nacken und sie strich sich eine Strähne von den Augen. Das Mädchen schlug die Federdecke weg und tapste barfuß über den kalten Boden. Auf Zehenspitzen schlich sie in ihrem Nachthemd die Treppe nach unten.

Ihr Vater musste schon beim ersten oder zweiten Klingeln aufgesprungen sein, da er trotz des verletzten Beines schneller unten war als sie. Eine noch nie gesehene Sorgenfalte zog sich quer über seine Stirn, während er sich den Hörer ans Ohr presste. »Und dir ist auch sicher nichts passiert?«

Hannahs Herz hämmerte hart gegen ihre Brust. Was konnte passiert sein? Wer war am Telefon? Vorsichtig schlich sie zu einem der grünen Samtsessel und ließ sich auf das Polster sinken.

»Das ist nicht dein Ernst!«, fuhr ihr Vater fort. »Brandstiftung! Sind sie sich absolut sicher?«

Hannah setzte sich alarmiert auf. Plötzlich erschien ihre Mutter im Wohnzimmer. Sie bemerkte ihre Tochter sofort auf dem Stuhl. »Was machst du denn hier unten? Belauschst du etwa deinen Vater?«

Georg Sedlmayr fuhr herum, legte dann die Hand über die Sprechmuschel und wandte sich seiner Frau und seiner Tochter zu.

»Der Berliner Reichstag hat gebrannt! Onkel Tim ist am Apparat«, meinte er aufgelöst. Obwohl Theresa gerade erst aufgestanden war, hatte sie sich bereits das Haar glatt gekämmt und einen Seidenmantel über das Nachthemd geworfen.

»Wie bitte? Frag ihn, wie das passieren konnte.«

Georg war wieder in das Gespräch vertieft, doch Theresa ließ nicht locker.

»Jetzt frag ihn doch endlich, wie das passieren konnte. War er vor Ort? Wie viel ist abgebrannt?« Fragen über Fragen. Als ihr Mann nicht antwortete, ging Theresa auf ihn zu und wollte ihm das Telefon aus der Hand nehmen.

»Einen Augenblick bitte, Tim.« Georg drehte sich zu seiner Frau um. »Resi, was soll das. Ich bin gerade am Telefon. Wenn ich fertig bin, erzähle ich alles.« Theresa warf ihr schulterlanges Haar zurück und verschränkte mit wütender Miene die Arme vor der Brust. Onkel Tims Stimme am anderen Ende der Leitung konnte man leider nicht verstehen, aber er redete offenbar wie ein Wasserfall. Endlich verabschiedete sich Georg und hängte auf.

»Was ist nun?«, fuhr ihn Theresa an.

»Brandstiftung«, erwiderte er knapp, und Theresa schlug sich theatralisch die Hände vor den Mund.

»Wie ist das möglich? Wer zündet denn den Reichstag an?«

Tim Sedlmayr war Georgs älterer Bruder und Abgeordneter der Sozialisten im Berliner Reichstag. Seit etlichen Jahren lebte er nun schon mit seiner Frau und den beiden Kindern in der Hauptstadt. Er bekam alle politischen Auswirkungen sofort aus erster Hand mit.

»Bereits in der Nacht wurde die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat verfasst. Direkt nach dem Brand! Die Öffentlichkeit weiß noch gar nichts davon. Tim hat es nur im Vorfeld erfahren, da er Abgeordneter ist und es die Runde gemacht hat. Unfassbar! Mit diesem Gesetz sind praktisch alle Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt. Tim meint, dass dieser Schritt den Weg zur Verfolgung aller politischen Gegner legalisiert. Er muss aufpassen.«

»War er dabei, als der Reichstag in Flammen aufging?«, wollte Theresa wissen, ohne auf die Aussage ihres Mannes einzugehen.

»Nein. Er hat einen Anruf erhalten und ist sofort losgefahren. Ein gigantisches Feuer hat ganz Berlin erhellt. Die Kuppel ist von den Flammen fast vollständig verschlungen worden.« Theresa zog lautstark Luft durch die Schneidezähne. »Auch der Sitzungssaal ist abgebrannt. Tim meint, dass die Polizei verschiedene Brandnester entdeckt hat. Alles deutet auf Brandstiftung hin.«

»Wer könnte das Feuer gelegt haben?«, schaltete sich Hannah nun ein und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Theresa schenkte ihr einen überraschten Blick.

»Sie haben einen Maurer festgenommen. Einen Marinus van der Lubbe.«

»Nie gehört den Namen«, meinte Hannahs Mutter. »Wahrscheinlich waren es wieder die Kommunisten. Selbst hier in unserer kleinen Stadt treiben sie ihr Unwesen.«

»Die Nazis wollen doch nur, dass wir das alle glauben. Tim meinte auch, dass sie das Feuer womöglich selbst gelegt haben und jetzt einen Schuldigen suchen, den sie der Presse zum Fraß vorwerfen können. Das klingt für mich plausibel. So schnell wie sie ihr neues Gesetz verfasst haben. So etwas schreibt sich doch nicht in einer halben Stunde, noch dazu mitten in der Nacht. Wahrscheinlich haben sie nur darauf gewartet, es schnellstmöglich aus der Tasche zu ziehen. Das alles ist doch bis ins kleinste Detail geplant worden! So können sie den Schwarzen Peter schön den Kommunisten zuschieben.«

»Was redest du da für einen Blödsinn? Und das vor Hannah. Morgen rennt sie in der Schule rum und erzählt den Lehrern davon. Solche Lügen kommen bestimmt gut an. Das fällt dann bloß auf uns zurück.«

Hannah schluckte ihre Wut hinunter. Ihre Mutter redete über sie, als wäre sie ein kleines, dummes Mädchen, das herumlief und jedem unter die Nase rieb, was in der Familie gesprochen wurde. Doch sie biss sich auf die Zunge. Es machte keinen Sinn, etwas zu erwidern.

»Mit deinen Hirngespinsten bringst du noch unsere komplette Familie in Gefahr. Was bedeutet es schon für uns hier unten in Bayern, wer das Feuer letztendlich gelegt hat? Es liegen mehrere hundert Kilometer zwischen uns und Berlin.«

»Tim hat mir noch erzählt, dass Hitler außer sich war. Er hat getobt, dass er alle Kommunisten aufhängen lässt, und noch in der Nacht hat Göring die kommunistische Presse verboten. Alle Parteibüros wurden geschlossen und 1500 Mitglieder der KPD warten im Gefängnis auf ihre Anklage. Hörst du das? Fast die ganze Reichsfraktion ist inhaftiert.« Theresa seufzte laut hörbar. »Dieser Herr van der Lubbe hat behauptet, dass er Verbindungen zur SPD gehabt hätte. Tim hat seinen Namen aber noch nie gehört. Jetzt können sie die Sozis auch noch zum Sündenbock machen. Die sozialdemokratische Presse wurde für vierzehn Tage verboten.«

»Da können wir nur hoffen, dass sich Onkel Tim nichts zuschulden hat kommen lassen.«

Georg erbleichte. »Denkst du wirklich, dass mein Bruder ein Brandstifter ist?«

»Ich denke gar nichts. Ich will jetzt in Ruhe frühstücken.« Sie drehte sich um und rief nach Sofia. »Ich würde es sehr begrüßen, wenn du erst einmal etwas Abstand zu Tim nimmst und nicht täglich mit ihm telefonierst.«

»Er ist mein Bruder!«

»Ich bin mir dessen schon bewusst, Schorsch. Aber am Ende werden noch die Telefone der Verdächtigen überwacht und ich habe keine Lust darauf, dass die Polizei auf unseren Namen kommt.«

»Er ist kein Verdächtiger!«, donnerte Georg Sedlmayr.

»Du widersprichst dir. Gerade eben hast du doch selbst gesagt, dass die Sozialisten auch daran beteiligt gewesen sein sollen. Tim gehört dieser Partei an. Ich zeige dir nur die Fakten auf.« Mit diesen Worten ging Theresa Sedlmayr in die Küche.

Georg Sedlmayr blickte auf das Telefon, als würde es jede Sekunde erneut klingeln und bessere Nachrichten liefern.

»Sind nicht bald Wahlen?«, erkundigte sich Hannah vorsichtig. »Es steht in den Zeitungen.«

Ihr Vater nickte. »Kannst du dir vorstellen, was das für die NSDAP bedeutet? Jeder wird sie wählen. Jeder! Die Partei hat jetzt eine blütenweiße Weste. Sie ist schließlich das Opfer gemeiner Angriffe. Bessere Presse gibt es nicht für sie!«

»Aber du wählst sie doch nicht, Papa. Mama nicht, und Hans und Sarah Sternlicht auch nicht.«

Er nickte abwesend. Plötzlich fuhr er zu ihr herum und fasste sie mit beiden Händen an den Oberarmen.

»Hannah, hör mir zu. Du darfst so etwas niemals außerhalb dieses Hauses sagen. Hörst du mich?!« Er packte so fest zu, dass es langsam schmerzte, doch das Mädchen nickte erschrocken. Was war nur in letzter Zeit mit ihrem Vater los? »Du bist jetzt kein kleines Mädchen mehr. Weißt du noch, was ich nach der Machtübernahme gesagt habe?«

»Hitler bedeutet Krieg.«

Ihr Vater küsste sie auf die Haare. »Ganz genau. Man wird große Schwierigkeiten bekommen, wenn man öffentlich etwas gegen ihn oder die Partei sagt. Ich habe schon einmal einen Krieg erlebt. Es ist immer gleich. Erst Euphorie, dann folgt die Katastrophe.« Bisher hatte ihr Vater vor ihr noch nie den Krieg angesprochen und war all ihren Fragen stets ausgewichen.

Das Telefon schrillte bedrohlich und Georg Sedlmayr riss beim ersten Läuten den Hörer von der Gabel.

»Sie machen jetzt Hausdurchsuchungen!«, hörte sie Onkel Tim atemlos ins Telefon sagen. Ihr Vater hatte das Gespräch laut gestellt. »Die SA darf jetzt jeden verhaften, ohne auch nur einen Grund zu nennen. Es gibt keinen Rechtsschutz mehr. Von ein paar Mitgliedern der SPD haben sie bereits die Wohnungen durchsucht, alle Briefe herausgekramt und gelesen. Die Wohnung sieht aus wie nach einem Bombenangriff. Ich habe Angst, dass sie auch uns unter die Lupe nehmen.«

»Beruhige dich, Tim. Sie werden nicht in deine Wohnung kommen. Dafür bist du ein zu kleiner Fisch im Ozean.«

»Sag das nicht. Die Wohnungen, die durchsucht wurden, waren jene von so kleinen Fischen. Was noch schlimmer ist: Hitler will für die Brandstiftung rückwirkend die Todesstrafe einführen.«

»Was! Das kann doch nicht wahr sein. Er weiß doch gar nicht, wer es war.«

»Das ist offenbar völlig egal. So kann er ein paar Parteigegner umbringen lassen. Als Abschreckung.«

»Eine Katastrophe. Bleib du nur in deiner Wohnung und versuche nicht weiter aufzufallen. Wie geht es Cilly und den Kindern?« Georg Sedlmayr klang ernsthaft besorgt.

»Alle sind hier. Wir werden das Haus die nächsten Tage nicht verlassen, bis wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Wir haben genug daheim an Konserven und Trinkwasser.«

Hannahs Vater stellte das Gespräch wieder auf lautlos.

»Tim«, sagte er eindringlich, »besitzt du etwas, was ihnen missfallen könnte? Irgendetwas, das dich belastet? Einen Brief? Dokumente?«

Onkel Tim antwortete, doch Hannah konnte seine Worte nicht mehr verstehen.

»Wenn sie jetzt jeden Brief öffnen, dann verbrenne alles, was du hast. Alles, was dich irgendwie belasten könnte. Alles!«

Die Treppe knarzte und Hannah bemerkte, wie Hermann die Stufen herunterkam. Als er sah, dass sein Vater am Hörer war, blieb er wie angewurzelt stehen und hob fragend die Augenbrauen.

»Onkel Tim aus Berlin. Der Reichstag hat gebrannt«, wisperte Hannah ihrem Bruder zu. Dieser schlug die Hand vor den Mund und eilte zu ihnen ins Wohnzimmer. Georg Sedlmayr hängte auf. Er erzählte seinem Sohn alle Informationen, die er zuvor auch mit Hannah geteilt hatte.

»Tim meint, dass er bald aus dem Reichstag verbannt wird. Alle anderen Parteien sollen auch raus. Die NSDAP plant, einstimmig gewählt zu werden.«

»Wie soll das denn möglich sein? Das hat bisher noch keine Partei geschafft.« Hermann klang zuversichtlich.

»Tim hat noch etwas gesagt«, begann Georg vorsichtig. »Hitler lässt sich permanent über die Juden aus. Alle jüdischen Abgeordneten sind aus dem Reichstag verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Keiner weiß, wo sie hingekommen sind. Er bezeichnet sie als Feinde des Reiches.« Stille.

Hannah merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, doch sie schluckte tapfer den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter. Hermann legte tröstend den Arm um ihre Schulter.

»Keine Angst, Hannah. Wir sind viel zu weit weg. Den Sternlichts passiert schon nichts. Hans ist kein Abgeordneter und schließlich wohnen sie nicht in der Hauptstadt. Die interessieren Hitler doch gar nicht.« Seine Worte taten gut, linderten die Angst, konnten sie aber doch nicht vollständig aus Hannahs Herzen verbannen.

»Es gibt Millionen von Juden. Die kann man nicht mir nichts dir nichts loswerden. Das ist einfach unmöglich«, meinte Hermann weiter.

»Wollen wir hoffen, dass sich Hitlers Judenhass legt. Er verspricht der Bevölkerung Arbeitsplätze und behauptet, dass die Juden ihre Arbeit besetzen. Anscheinend gab es schon etliche Ausschreitungen.«

»Aber das ist in Berlin, Papa. Da sind doch alle ziemlich verrückt dort. Hier auf dem Land ist alles anders.«

»Hier auf dem Land verspricht Hitler vor den Wahlen, dass die Bauern entschuldet werden sollen. Autobahnen sind geplant. Die Rüstungsindustrie wird angekurbelt. Das verspricht Millionen von Arbeitsplätzen. Auch hier bei uns.«

Hermann stimmte seinem Vater zu. »Das alles klingt wirklich so, als ob Hitler einen Krieg plant. Du hast recht, Vater.«

»Was geschieht, wenn Krieg ausbricht?« Hannah wagte kaum diese Frage laut auszusprechen. Ihre Stimme war dünn wie ein Seidenfaden. Hermann wandte sich seiner Schwester zu und beugte sich leicht zu ihr hinunter.

»Alles ist gut, Hanni. Vielleicht gibt es ja auch gar keinen Krieg. Vielleicht möchte Hitler einfach mehr Arbeitsplätze schaffen, damit jeder Bürger zufrieden ist. Jetzt mach dir keine Gedanken.«

Hermann meinte es gut mit ihr, doch Hannah wusste, dass er log. Er merkte doch selbst, dass Jacob und Simon Sternlicht in der Schule ausgegrenzt wurden. Dass sie eine einfache Zielscheibe für die Hänseleien der Lehrer waren, dass sie nicht zur Hitlerjugend mitdurften. Auch hier war der Hass auf die Juden angekommen.

»Fantasiert ihr jetzt immer noch?« Theresa Sedlmayr betrat in gewohnter Perfektion das Wohnzimmer. Inzwischen waren ihre Haare geflochten und aufwändig nach oben gesteckt, die Augen und Lippen geschminkt. »Ihr habt noch nicht einmal gefrühstückt. Wo bleibt überhaupt Karl?«

»Er kommt gleich«, anwortete Hermann wie aus der Pistole geschossen.

»Ich weiß gar nicht, was das Problem ist. Alle Kinder von meinen Freundinnen gehen schon zur Hitlerjugend oder zum Bund Deutscher Mädel. Allesamt sind sie begeistert. Allesamt«, betonte sie noch einmal. »Ich finde, ihr solltet euch auch da sehen lassen. Damit ihr wieder auf andere Gedanken kommt. Da wird so viel Sport getrieben, dass ihr todmüde ins Bett fallt.«

Irritiert sah Hannah zu ihrem Vater.

»Ja, wahrscheinlich ist das keine schlechte Idee. Eure Mutter hat recht.« Wie bitte? Hannah verstand die Welt nicht mehr. Erst kritisierte er alles und lehnte energisch alle Veränderungen ab, und jetzt auf einmal wollte er, dass sie zu den Treffen gingen? Theresa nickte zufrieden.

»Geht Elsa nicht auch dorthin? Das wäre doch schön, wenn ihr beide zusammen teilnehmt. Früher hast du dich viel öfter mit ihr getroffen.«

Hannah nickte nur stumm. Die Sache war ohnehin schon entschieden. Entschieden, ohne auf Hannahs Antwort zu warten oder ihre Meinung zu hören. Wie immer.

»Karl ist doch auch schon angemeldet.« Stolz schwang in Theresas Stimme mit. Hannah bemerkte, wie ihr Vater überrascht den Kopf zu seiner Frau drehte. Er hatte davon nichts gewusst. Oben im ersten Stock erwachte Leben. Karl stolzierte die Treppe herunter und als er ins Wohnzimmer trat und sich zu ihnen gesellte, bemerkte Hannah, dass auf seiner Brust das Hakenkreuz prangte. Theresa begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange. Georg Sedlmayrs Augen verengten sich bei dem Anblick, doch er sagte nichts.

»Jetzt, wo alle endlich wach sind, können wir ja zusammen frühstücken. Sofia hat schon den Tisch vorbereitet.«

Beim Gedanken an ein gemeinsames Frühstück schlug Hannahs Magen Saltos. Doch keiner protestierte. Alles schien wie immer zu sein, obwohl doch alles anders war.

Von Liebe und Hoffnung

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