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Frei wie ein Vogel
ОглавлениеLisa schließt die Kuppel über uns, nachdem wir in der Kanzel Platz genommen haben. Über ein Seil sind wir mit einer Winde verbunden. Kurz darauf gibt es einen starken Ruck, und wir werden plötzlich beschleunigt. Sofort geht der Segelflieger nach oben.
Seit Lisa und ich Papa vor drei Jahren den ersten Segelflug geschenkt haben, schwärmt er, wie schön es ist, durch den Himmel zu gleiten. Das ist heute das erste Mal, dass ich mit Lisa fliege. Sie hat gerade frisch ihren Segelflugschein gemacht. Mit 14. Das war der früheste Zeitpunkt. Früher kann man den Schein nicht machen. Ich könnte den Schein frühestens in einem Vierteljahr machen. Das wäre ja was – Lisa und ich in zwei Segelfliegern in der Luft.
Lisa ist so cool. Heute werde ich es ihr sagen. Heute ist ein guter Tag.
Vor uns sind schon zwei Segelflieger nach oben gegangen. Papa mit Heidi. Und Johannes mit Hannah. Johannes hat mit Papa seit einem knappen Jahr die Segelflugschule besucht. Lisa kam kurz danach auch dazu. Theorie und Praxis.
Wir fliegen eine Wolke an. Sie zieht uns zur Basis nach oben. Wir lassen die Wasserkuppe mehr und mehr hinter uns. Mein Blick geht weit über die Rhön.
Papa kurbelt seinen Flieger in verwegenen Rechtsdrehungen nach oben. Johannes und Lisa folgen ihm.
Da drückt es mich auf einmal. Ich muss pinkeln. Dringendst. „Lisa? Kannst du mal eben eine Pause machen?“
„Was? Ich kann nicht mal eben rechts ranfahren. Was hast du? Musst du kotzen? Kotze mir nicht ins Genick. Oder ist sonst irgendwas?“
„Ach … nichts. Passt schon.“
Der Druck wird immer stärker. Jetzt würde ich was für einen Klobesuch geben. Ich wollte, der Segelflug wäre schon vorbei.
Lisa dreht sich zu mir um. „Schau mal, in Richtung Westen ist eine große Wolkenstraße. Ja. Dein Vater hat sie auch gesehen. Wir fliegen die ganzen Wolken in Richtung Westen ab.“
Ach, du meine Güte.
Wir ziehen uns wieder in engen Rechtskurven nach oben, immer weiter weg von der Wasserkuppe. Immer weiter weg von der Toilettenanlage am Segelflugplatz. Himmel, ich gäbe was für einen Klobesuch. Ich kann an nichts anderes mehr denken.
Lisa lacht. „Segelflugverein Ikarus. Der Name ist echt legendär. Der Fluglehrer hat übrigens gesagt, dass nicht Ikarus, sondern Daidalos abgestürzt ist. Das ist natürlich Quatsch. Ikarus ist abgestürzt. Nicht Daidalos. Die verwechseln hier Vater und Sohn. Dabei ist bei den beiden Griechen viel klarer erkennbar, wer Vater und wer Sohn ist. Ganz im Gegensatz zu dir und deinem Vater. Du bist unverkennbar Stephan Krönlein, nur eben in jung, Lars.“
Meine Gedanken fangen an zu kreisen. Genau wie dieses Segelflugzeug. Kann sie das Thema nicht lassen? Ich halte es nicht mehr aus. Dann. Plötzlich. Es wird warm in meiner Hose. Zu spät. Ich kann es nicht halten. Es wird immer wärmer. An den Schenkeln und hinter zum Po. Du meine Güte. Der Druck lässt nach. Hoffentlich merkt Lisa nichts.
„Gute Steigwerte, schau nur, Lars. Es geht immer höher.“ Lisa ist voller Begeisterung in ihrem Element.
Die Steigwerte des Wasserpegels in meiner Hose kann ich auch nicht leugnen. Nach fünf Minuten wird es zunehmend kalt. Unangenehme Sache. Natürlich habe ich keine Ersatzhose in die Rhön mitgenommen. Was mache ich nur?
„Ich lüfte mal das Cockpit. Hier riecht es irgendwie nach Pipi.“ Lisa fingert am Rädchen, das die Luftzufuhr regelt.
Besser, ich sage jetzt nichts.
Der Flug geht noch über eine Stunde. Die kalte, nasse Hose ist echt blöd. Da werde ich mir nach dem Aussteigen etwas einfallen lassen müssen. Was nur?
Papa macht wieder eine verwegene Rechtsdrehung, dann zieht er seine Kiste nach unten. Von weitem erkenne ich wieder die Wasserkuppe unter uns.
Lisa folgt meinem Papa ebenso verwegen nach unten. Wir bekommen ganz schön Fahrt drauf. Da ist er. Der Flugplatz. Papa schwenkt als Erster auf die Landebahn ein. Dann kommen wir. Wir haben Johannes und Hannah abgehängt. Es geht auf einmal alles ganz schnell. Der Boden kommt immer näher. Wir setzen auf. Es ruckelt. Sehr. Dann ist die Reise vorbei.
„Luft, Luft“, ruft Lisa und öffnet hastig die Kanzel. Sie springt aus dem Segelflieger. „Kommst du nicht, Lars?“
„Ach, ich warte hier noch auf Johannes und Hannah. Geh ruhig schon einmal vor. Ich bleibe noch.“
„Also, ich muss jetzt erst einmal für kleine Mädchen…“ Lisa geht in schnellen Schritten zu den Toiletten.
Ich weiß, dass sie sich für ein menschenwürdiges, gleichberechtigtes Pinkeln einsetzt. Nur – und da bin ich mir sicher – für meine Lage hätte sie jetzt kein Verständnis. Ich winke Papa herbei.
Ja.
Er hat mich gesehen. Papa kommt. „Ja, Lars? Was gibt es? War das nicht ein herrlicher Flug?“
„Ja. Schon. Aber für mich zu lange. Ich musste mal. Kannst du mir deinen Pullover leihen, dass ich mir den umhänge? Meine Sachen sind alle nass. Auch meine Jacke.“
Papa reicht mir seinen Pullover. Er verzieht keine Miene. „Kann ich sonst noch was für dich tun?“
„Ja. Lenke bitte Lisa von mir ab. Sie darf nicht wissen, was mir passiert ist.“
Mit militärischem Gruß nimmt Papa meinen Wunsch als Befehl entgegen.
Ich krabbele aus der Kanzel und hänge mir Papas Pullover um. Kurz schlage ich mir beim Aufstehen meinen Kopf an der Kuppel des Segelfliegers an. Dann sehe ich, dass Lisa von der Toilette zurückkehrt. Papa verwickelt sie gleich in ein Gespräch. Ich glaube, sie fachsimpeln über den Segelflug.
Mir ist alles Recht. Hauptsache, ich muss Lisa heute nicht mehr unter die Augen treten. Ich halte mich an Johannes und Hannah. Es dauert nicht lange, da kehren auch sie zur Wasserkuppe zurück.
Und schon geht es zurück nach Frankfurt.