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In der Pathologie
ОглавлениеLieber Lars,
hier in der Pathologie ist alles viel vitaler, viel lebendiger als in der Anatomie. Die Leichen in der Pathologie haben nicht die typische Graufärbung, die vom konservierenden Formaldehyd stammt. Es ist ein komisches Gefühl, Körper vor sich zu haben, in denen vor wenigen Stunden noch das Leben steckte.
Heute nahm ich an meiner ersten Sektion in der Pathologie teil. Im Sektionssaal ist in großen Lettern an die Wand geschrieben „media vita in morte sumus“.
Ich habe das einmal recherchiert. Der Satz bedeutet, dass wir mitten im Leben dem Tod begegnen, und er geht auf einen frühmittelalterlichen gregorianischen Choral zurück. Der komplette Text lautet
Mitten im Leben
sind wir im Tod.
Welchen Helfer suchen wir
als dich, Herr,
der du wegen unserer Sünden
mit Recht zürnst.
Heiliger Gott,
heiliger starker,
heiliger und barmherziger Erlöser:
überlass uns nicht dem bitteren Tod.
Es liegt etwas Geheimnisvolles um das Sterben, und ich kann es nicht ergründen.
Heute lernte ich übrigens, was Senckenberg-Tumore sind. Wenn man die Leiche auf dem Sektionstisch lagert, dann gibt es auf der Unterseite der Leichenhaut Abdrücke von den Abflusslöchern des Sektionstisches. Diese regelmäßigen kreisrunden Aufwölbungen der Haut bezeichnet man als Senckenberg-Tumore. Man sieht sie, wenn man die Leiche auf die Seite dreht. Natürlich sind das keine echten Tumore. Das ist typisch Frankfurter Pathologenhumor.
Als ich heute die Pathologie verließ, fühlte ich mich ganz trist. Gut, dass du zuhause auf mich mit einem wunderbaren Essen gewartet hast. Ja, es ist wahr, während meiner Sektionen und meiner Arbeit als Hilfswissenschaftlerin in der Anatomie schmeckt mir das vegetarische Essen deutlich besser. Das milde gelbe Curry mit Zucchini, Champignons und Basmatireis hat meinen Geschmack heute voll getroffen. Auch die Cashewkerne, mit denen Du die Mahlzeit getoppt hast, waren sehr raffiniert.
Danke, Lars. Ich genieße unsere Zweisamkeit nach dem langen Jahr der Trennung ganz neu.