Читать книгу Silas - Rebecca Vonzun - Страница 4
Der Serin
ОглавлениеWeit, weit weg, lange nachdem man die grossen, lärmigen Menschenstädte mit den vielen Autos und den stinkigen Abgasen hinter sich gelassen hatte, auch nach den kleinen Dörfern, hinter den grossen blauen Bergen, wenn man die riesigen Wiesen, die Nebelhügel und das grüne Moor durchquert hatte… Wenn man nach dem Ende der Welt sogar die Erde hinter sich liess und die Dörfer, die Berge, Wiesen, Hügel und Moore irgendwann nur noch als kleine, schemenhafte Punkte erkennen konnte… Wenn man davonschwebte ins Nichts, lange, lange durch die Dunkelheit… kam man früher oder später an einen rätselhaften Ort. Auf einen kleinen Planeten inmitten vom Nirgendwo, von einem sanft strahlenden Licht umgeben.
Erst einmal da, zog einen etwas Gigantisches, Seltsames, welches sich vom Horizont abhob sogleich magisch in den Bann. Es war gross und zugleich unheimlich und wunderschön, auch wenn man von hier aus noch nicht sehen konnte, was genau es war. Ging man etwas näher heran, konnte man langsam mehr wahrnehmen. Riesige, knorrige, ineinander verschlungene Wurzeln, dicke Baumstämme, krumm und seltsam… Faserige Lianen in allen Grüntönen, Flechten, Blätter und Blüten, alles wild miteinander verwachsen, fast wie eine Wand. Der Wunderwald. Die Bäume waren so hoch wie Hochhäuser, die Stämme so dick wie Fernsehtürme und das Blätterdach gewaltig wie eine riesige, dunkle, schützende Decke, die den Wunderwald von der übrigen Welt abtrennte.
Ab und zu fiel ein Sonnenstrahl durch die tellergrossen Blätter und liess die Tautropfen in den Blütenkelchen – so gross wie Pokale – glitzern und glänzen. Ein Duft lag in der Luft, so süss und köstlich, nach Blumen, Moos und feuchter Erde, nach Pilzen, Regen und Sonne gleichzeitig. Es duftete sogar ein bisschen nach Regenbogen.
Betrat man diese seltsame Wunderwelt, merkte man schnell, dass man nicht alleine war. Zahllose kleine, bunte Käfer, Schnecken, Würmer, Raupen und Ameisen tummelten sich im Unterholz. Auf dem moosigen Laubboden huschten kleine Mäuse über und unter die Wurzeln, da und dort sah man das flauschige Schwänzchen eines Kaninchens hinter einem Baum verschwinden. Und überall wurde man beobachtet von Augen: in Baumhöhlen und auf den Ästen, hinter Steinen und in Nestern. Der Wald wimmelte von Siebenschläfern, Eich- und Streifenhörnchen, Maulwürfen und allem, was man sich nur vorstellen konnte. In der Luft schaukelten grosse, bunte Schmetterlinge, Mücken schwirrten in Schwärmen und liessen den Himmel flimmern, Vögel hüpften von Ast zu Ast.
So war die Luft erfüllt von einem pausenlosen Zwitschern, Piepsen, Knistern und Rascheln, irgendwo erklang in der Ferne das leise Plätschern eines Baches – fast wie eine Melodie. Es war ein Ort, den man nie mehr verlassen wollte, hatte man ihn einmal betreten, so schön war es dort.
Auf einmal durchdrang ein neues Geräusch diese Musik des Waldes, man musste ganz genau hinhören… doch, ganz deutlich, jetzt schon wieder….
„Au…au! Auaa…“ Ein feines Stimmchen. Oder etwa doch nur das Piepsen der kleinen Waldohreule auf dem Ast?
Folgte man dem leisen, seltsamen Geräusch über moosige Hügel, grosse, dicke Wurzeln, unter Blättervorhängen hindurch und durch dichtes, endloses Dorngestrüpp und hätte man sich dabei umgesehen, hätte man gemerkt, wie sich der Wald allmählich veränderte. Und je tiefer man eindrang, desto auffälliger war diese Veränderung. Hier, in der Mitte, in den tiefsten Tiefen des Wunderwaldes, im Herzen des Waldes sozusagen, war es viel stiller. Es herrschte eine magische Ruhe. Vom Zwitschern, Piepsen, Knistern und Rascheln – ja, sogar vom Plätschern des Baches – war hier nichts mehr zu hören, fast so, als ob man sich unter einer riesigen Glasglocke befände. Es war dunkler, nur noch ab und zu fand ein nahezu unsichtbarer Sonnenstrahl – fast wie ein feiner Goldfaden – den Weg durchs Gestrüpp und zeichnete auf den Waldboden ein paar helle Punkte. Tiere sah man hier seltener. Einige Eulen blickten achtsam mit einem Auge aus ihrem Astloch, da und dort huschte ein scheues Eichhörnchen blitzschnell in das sichere Blätterdach eines Baumes. Es war als ob ein Zauber in der Luft lag. Kein gefährlicher oder böser Zauber, vielmehr ein gewaltiger, riesiger Zauber, der alles um sich herum verstummen, der alle andächtig und ruhig werden liess.
Und wurde man ganz still und lauschte, schien es, als ob der Wald atmete. Ein – aus – … tiefe, langsame Atemzüge, leicht zu verwechseln mit einem Windhauch…
Und genau deshalb hörte man in diesem Moment das seltsame Geräusch umso deutlicher. Es durchdrang jetzt diese friedliche Stille geradezu störend und es war nun leicht zu erkennen, dass dies ganz bestimmt nicht nur das Piepsen einer Waldohreule sein konnte!
„Auuuuuu! Ach… oh!“ Die Stimme klang gedämpft und kam ganz eindeutig aus der Richtung der kleinen Lichtung neben einem winzigen Bach. Dort stand ein mächtiger Baum. Würde man seinen Stamm mit den Armen umfassen, bräuchte es dazu mindestens sieben Kinder, so dick war er. Seine Rinde war grob und rau, überwachsen mit Flechten und Moos, hatte Risse und Löcher. Der Baum war uralt. Wie ein Gigant überragte er alle anderen Bäume und streckte seine Äste weit höher als man erahnen konnte, über die Baumwipfel seiner Nachbarn, über das Waldblätterdach bis hoch in den Himmel, wo seine obersten Zweige schliesslich das Licht berührten. Dieser Baum wuchs schon seit mehr als tausend Jahren, er war der Anfang und das Ende des Wunderwaldes, er war der Baum des Lebens.
In seinen obersten Ästen, welche die Sonne berührte, pulsierte das Leben. Zahllose Vögel bauten dort ihre Nester, legten ihre Eier und fütterten ihre Brut. Da waren sie wieder, die Eichhörnchen und Siebenschläfer, Käfer, Würmer, Spinnen und Raupen, die auf den Ästen des Lebensbaumes wohnten und die man weit, weit unten, am anderen Ende des Baumes, vermisst hatte. Da war es wieder, das Gepiepse, das Gezwitscher, das Geknister und Geraschel. Da oben blühte der Baum, jeder Zweig war bedeckt von unbeschreiblich schönen Blumen, gross wie Kohlköpfe, leuchtend und funkelnd wie Zauberblumen und duftend wie Orchideen. Bunte Schmetterlinge schaukelten und saugten den Nektar. Da und dort wuchsen sogar ein paar Früchte, sonderbare Früchte, so wie wir sie hier nicht kennen. Sie sahen ein bisschen aus wie Trauben, waren aber viel grösser und gelb, einige sogar ein bisschen orange. Man hatte fast das Gefühl, sie leuchteten von innen und wenn man genau hinsah, sah man durch die durchsichtige Haut in ihrer Mitte kleine, goldene Kerne schimmern.
„Aaaaauaaah………..!“ Schnell, wieder zurück nach unten… was klang hier bloss so seltsam?
Der Lebensbaum hatte in den mehr als tausend gelebten Jahren schon so einiges erlebt. Unwetter, Stürme, hungrige Hörnchen oder Rehe, die sich an seiner Rinde sattfrassen. Käfer und Spechte suchten sich ihr Futter in seinem Gehölz, bohrten Löcher, ritzten Spalten und hatten mit den Jahren seinen untersten Teil immer mehr ausgehöhlt. Nicht umsonst jedoch war der Lebensbaum der Baum des Lebens, all seine kleinen und grossen Verletzungen schadeten ihm nichts, er wuchs immer weiter und das Leben strömte nach wie vor mit viel Energie durch seine Adern. Dennoch glich der unterste Teil seines Stammes mittlerweile einer riesigen Höhle. Der gigantische Riss jedoch, der den Eingang bildete, war verborgen unter einer Art Vorhang aus Efeu und somit für einen Besucher, der nur flüchtig hinsah, kaum zu erkennen.
„Oooh…uff!“ Ja, genau durch diesen Efeuvorhang schien das Stimmchen zu kommen. Es klang inzwischen ziemlich erschöpft.
In der grossen Baumhöhle hinter den Buschfarnen und dem Efeuvorhang lag in einem seidenfeinen Nest aus Federn und Gras ein grosses Ei. Das Ei schimmerte bläulich und wenn man die Höhle betrat, erkannte man feine Risse auf seiner Oberfläche.
„Uff, uff, ahhh!“
Die Stimme erklang nun etwas lauter. Sie kam direkt aus dem Ei! Und da, in exakt diesem Moment, durchbrach etwas Kleines, Kräftiges die bläulich schimmernde Schale mit einem lauten Krachen. Heraus purzelte ein kleines Wesen und blieb zusammengerollt im Federnest liegen, japsend und keuchend. Das kleine Wesen sah aus der Nähe betrachtet fast aus wie ein winziger Mensch. Hände, Finger, Füsse, Zehen, zwei kleine Beinchen, zwei Arme, alles war da. Und – ein langer Schwanz. Die Haut schimmerte bläulich wie das Ei und auf dem Kopf des kleinen Dinges wucherte eine dunkelblaue Mähne, wirr und wild standen die Haare in alle erdenklichen Richtungen und liessen die abstehenden, spitzen Ohren fast verschwinden.
Der Kleine atmete nun etwas ruhiger und hob schliesslich vorsichtig seinen Kopf. Zwei grosse, graue Augen umgeben von dichten, langen Wimpern, blickten sich neugierig in der Höhle um. Die Stupsnase übersät mit Sommersprossen zuckte… zuckte nochmals… und mit einem lauten HATSCHI! setzte sich das Kerlchen schliesslich auf. Es reckte und streckte sich, blinzelte zwei, drei Mal und wirkte etwas verloren, so ganz alleine in der grossen, finsteren Baumhöhle.
Dieses einmalige Ereignis mitzuerleben ist für uns eine grosse Ehre. Es kann in hundert Jahren nur ein einziges Mal vorkommen, dass ein Serin ausschlüpft und genau das war es: Die Geburt eines Waldserin. Waldserins sind sehr selten. Sie kommen nur dann, wenn sie gebraucht werden. Doch wozu konnte man einen Serin brauchen? Serins sind kleine Retter. So ist die Geburt eines Serins nicht nur eine Ehre, weil sie so selten vorkommt… sondern auch ein Zeichen der Beunruhigung. Denn wenn ein Serin auftaucht, bedeutet dies, dass etwas nicht stimmt. Und doch bedeutet es gleichzeitig unfassbares Glück… denn nur wenn alles stimmt, das Wetter, die Wärme, die Anzahl der Regenbogen und die Richtung des Windes, kann es einmal in hundert Jahren klappen, dass sich ein Waldserin-Ei bildet. Niemand weiss, wie und woraus diese Eier entstehen. Niemand weiss, woher sie kommen. Ein Serin-Ei ist einfach plötzlich da. Und dieses Ei war – gut verborgen – in der Höhle des Lebensbaums vor sich hingewachsen, immer grösser und schöner geworden, bis heute der grosse Tag gekommen war und der Winzling sich schlussendlich seinen Weg in die Freiheit nach draussen durch die Eierschale erkämpft hatte.
Der kleine Serin wusste nicht, dass er ein Serin war. Er wusste weder, wer, noch wo er war und er wusste auch nicht, was er jetzt machen sollte. Schliesslich rollte er sich wieder zusammen neben der zerbrochenen Eierschale, machte sich ganz klein und kuschelte sich in sein Nest aus Gras und Federn. Er legte sein Köpfchen auf eine besonders weiche Daune, umschlang sich selbst mit seinem langen Schwanz, schloss die grossen Augen und schlief fast auf der Stelle ein.