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Leben aus der Vergangenheit?

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Von der Billigung der politischen und militärischen Stärke als oberster Priorität blieb die Friedensszene in Israel nicht verschont. Ihre Schwäche hat einer Art Festungsmentalität mit verzweifelten und trotzigen Abwehrmechanismen Platz gemacht. Das gilt in erster Linie für Jerusalem. Für die Zeitschrift „Palestine-Israel Journal“ ist die Stadt das eindrücklichste Sinnbild des Niedergangs in den bilateralen Beziehungen. Hier lebten einst in „stolzer Abgrenzung“ voneinander Juden, Moslems und Christen in einem „Mosaik getrennter Gemeinschaften“, hielt 1960 der Anwalt Dov Joséph (1899 – 1980) fest, der 1948 zu den Verteidigern der Stadt als Militärgouverneur gehörte. In den tiefsten Schichten würden sich für ihn Legenden, Fabeln und Tatsachen vermischen, die Jerusalem zweitausend Jahre lang als zentrales Symbol in der Religion jedes Kindes erhalten hätten. Sein aus dem zaristischen Russland stammender Vater sei ein frommer Jude gewesen, für den die Tradition, die Prinzipien und die Beobachtung der moralischen und rituellen Chiffren des Judentums alle um die Heilige Stadt und den Tempel als der Einwohnung Gottes („Shechiná“) gekreist hätten. Für den Kolumnisten Roger Cohen von der „New York Times“ ist sie eine „Stadt der Leidenschaften“. Entstünde in Ost-Jerusalem die palästinensische Metropole, würden viele Israelis das Land verlassen, um den psychischen Schockwellen zu entkommen, hat Zeev Sternhell ausgeführt. Zur Begründung seiner Zweifel an der liberalen Kraft der Zivilgesellschaft verwies der Soziologe Meron Benvenisti, einstiger Stellvertreter Teddy Kolleks (1911 – 2007) und für den arabischen Osten der Stadt zuständig, darauf, dass sich das jüdische Gedächtnis an die Zentralität Jerusalems seit zweitausend Jahren unverändert erhalten hat:

„Die Tatsache, dass in alten Zeiten die Grenzen der Stadt durch religiöse Autoritäten gemäß dem jüdischen Religionsgesetz geändert wurden, während sie heute von säkularen Kräften gezogen werden, konstituiert keinen grundlegenden Wandel. Das moderne Religionsgesetz setzt auf administrative Entscheidungen und dehnt die Grenzen der Stadt gemäß ihrer [von ihm selbst entschiedenen] Heiligkeit aus.“

Wenn der Bräutigam bei der Eheschließung ein Glas unter seinen Füßen zertritt, erinnert er an die Zerstörung des Tempels. Im Herbst 2017 verlangten ultraorthodoxe Kreise, die allein in Jerusalem über 40 Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung ausmachen, die Rückkehr zur jiddischen Sprache, weil das Hebräische von religiös abtrünnigen Juden verdorben worden sei.

Wie lange kann ein Land aus der Vergangenheit leben? Die wachsende Zahl der ausländischen Touristen, die ungebremste Reisefreudigkeit der Israelis – ein „Haaretz“-Redakteur zitierte den in Spanien wirkenden und an einer Grabstelle bei Tiberias verehrten Moses Maimonides (Akronym „Rambam“, 1135 – 1204), für den eine Reise aus dem Gelobten Land einer Gotteslästerung gleichkam –, die effizienten Forschungs- und Entwicklungszentren, die Universitäten, der ungestüme Konsum sowie die Massenkultur der Beliebigkeit zählen zu jenen Faktoren, die das Land vor der Selbstghettoisierung bewahren. Sie bleibt jedoch lebendig, wenn ein weitgereister Geschäftsmann uns vom Ölberg aus stolz „Mein Jerusalem“ mit Blick auf den Felsendom zeigt, der das „Noble Heiligtum“ überragt. Die in die Hunderttausende gehende Zahl der Israelis in New York, in Los Angeles oder in Berlin – „eine Art Wanderdünenphänomen“ (Scholem) – hinterlassen bisweilen den Eindruck von Super-Israelis mit allen Schattenseiten der Überkompensation ihres schlechten Gewissens.

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