Читать книгу Carl Schmitts Gegenrevolution - Reinhard Mehring - Страница 6
Zur Einführung in die Thematik
ОглавлениеAm 7. Januar 2015, dem Tag des Pariser Terroranschlags auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, Auftakt weiterer Terrorserien, erschien Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung (Soumission).11 Heute wirkt er durch die neuere politische Entwicklung in Frankreich, den Umsturz des Parteiensystems und den Wahlsieg Emmanuel Macrons (2017) sowie der neuen Lage seit der Corona-Pandemie etwas überholt. Houellebecq publizierte den Roman in die Endphase der sozialdemokratischen Regierung François Hollande hinein und imaginierte hier, in den Kategorien Carl Schmitts gesprochen, eine „legale Revolution“ durch eine Partei des politischen Islamismus, die, analog Hitler, einen Legalitätskurs zur Machtergreifung verfolgte, weil sie auf die strategische Schwäche der parlamentarischen Systemparteien setzte, um über eine Regierungsbeteiligung zur diktatorischen Macht zu gelangen. Houellebecq entwarf den Musterfall einer legalen Revolution nach dem Drehbuch Schmitts. Sein Ich-Erzähler, Literaturwissenschaftler und Huysmanns-Spezialist ähnelt mit seiner zynischen und sexistischen Lebensführung sowie seiner Ausflucht in den katholischen Rechtsintellektualismus auch Schmitt selbst; auch der wurde immer wieder als nihilistischer Ästhetizist gedeutet, der den Sprung in den autoritären Katholizismus suchte, ohne ihn ernstlich zu leben. Auch die Korrelation von Sexismus und Politik, der Dreiklang autoritärer Liquidierung und Unterwerfung der Frau, des sacrificium intellectus und der politischen Autonomie und Freiheit ähnelt Schmitts gegenrevolutionärer Botschaft. Wie Schmitt 1933 unterwirft sich Houellebecqs Ich-Erzähler am Ende der Diktatur, nachdem ihm persönliche Privilegien und akademische Reputation garantiert wurden.
Aktuell ist die Lage der liberalen und parlamentarischen Demokratie heute, nicht erst seit Corona, alles andere als rosig. Schwenkten die Historiker von den Konfrontationsgeschichten des Kalten Krieges nach 1989 auf triumphale Glücksgeschichten und Erfolgsnarrative um, so wird die Zukunft der Demokratie seit dem 11. September 2001 negativer erzählt. Unter den terroristischen und fundamentalistischen Bedrohungen wurden liberale Freiheiten der Sicherheit geopfert. Erlebte das 20. Jahrhundert die Weltherrschaft der USA, so scheint China heute im hegemonialen Ausscheidungskampf zu triumphieren.12 Es zeigt dabei wenig Neigungen, sich zu demokratisieren, und nutzt die digitale Revolution vielmehr für die Optimierung eines repressiven Überwachungsregimes. Wir diskutieren die aktuelle Krise der Demokratie heute in Europa vereinfacht mit Chiffren und Stichworten wie: Putin, Erdogan, Bolsonaro, Trump. Seit der Milleniumswende erlebten wir ein katastrophales Scheitern vorgeblicher Demokratisierungsmissionen im Mittleren und Nahen Osten, Afghanistan- und Irak-Krieg, den Untergang des „Arabischen Frühlings“ in Diktatur und Bürgerkrieg, ein Scheitern des europäischen Verfassungsprozesses an Volksabstimmungen und nationalen Parlamenten, das vielfach bedenkliche exekutive Krisenregime der globalen Finanzkrise, Ukraine-Krieg, IS-Terror und Syrienkrieg, Migrationskrise, autoritäre Tendenzen u.a. in den Višegrád-Staaten Nordosteuropas (Viktor Orbán, Andrej Babiš u.a.), separatistische Neigungen nicht nur in Katalonien, „Brexit“, einen dramatischen Umbruch der Parteiensysteme u.a. in Italien und Frankreich, rechtspopulistische Herausforderungen in vielen europäischen Staaten. Die großen europäischen Kernstaaten regierten schon vor den Corona-Zeiten mehr oder weniger im Krisenmodus. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie folgte 2020 ein globaler Ausnahmezustand, der zu starken Einschränkungen von Grundrechten und Prinzipien der liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führte. Eine unproblematisch stabile liberale und parlamentarische Demokratie findet sich heute fast nirgendwo. Fast überall zeigt sich eine „Wendung“ zum autoritären, exekutiven oder totalen Staat, wie sie Schmitt im Untergang der Weimarer Republik für die frühen 1930er Jahre schon als Folge einer Zwischenkriegs- und Krisenzeit diagostiziert hatte.
In der Bundesrepublik erinnerte die Regierungsbildungskrise 2017/18 am Beginn der vierten Amtszeit Angela Merkels erneut an Weimarer Verhältnisse: 1930 war die Sozialdemokratie in Weimar aus einer Koalitionsregierung ausgestiegen und es gab bis zum Januar 1933 nur noch sog. Präsidialkabinette, vom Reichspräsidenten gestützte Minderheitsregierungen, um Neuwahlen zu vermeiden, die extremistische Parteien (NSDAP, KPD) gestärkt hätten. Bundespräsident Steinmeier erinnerte an diese historische Parallele, als er seine SPD 2018 zur Regierungsverantwortung und neuerlichen Merkel-GroKo ermahnte. Die Furcht vor Neuwahlen blieb die Amtszeit Merkel IV hindurch aktuell, ein plötzlicher Bruch der arg gebeutelten und geschrumpften GroKo wurde nur pragmatisch vermieden. Einige Jahre lang erlebten wir das katastrophale Scheitern der Conservative Party und des politischen Systems des United Kingdom an der Brexit-Entscheidung von 2016. Das Mutterland der parlamentarischen Demokratie und des Liberalismus zerlegte sich selbst. Es zerstörte dabei nicht nur seine parlamentarische Kultur, sondern diskreditierte auch das Instrument der Volksabstimmungen, das vor wenigen Jahren noch vielfach als Hoffnungsanker galt. Trump verleugnete Ende 2020 seine Wahlniederlage und rief fast unverblümt zum Sturm auf das Capitol auf, sodass ein zweites Impeachment-Verfahren eingeleitet wurde. Die Mehrheit der Republikaner hielt aber weiter zu Trump und lehnte eine Amtsenthebung ab. In der Bundesrepublik wäre sie deshalb vielleicht ein Beobachtungsfall für den Verfassungsschutz. Natürlich ermöglichen solche Krisen auch heilsame Reformen und Regenerationsprozesse. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass die Verheißungen liberaler Demokratie aus diesen Krisen unbeschadet wiederauferstehen. Verkündigte mancher nach 1989 noch sehr vollmundig den definitiven Triumph der demokratischen Mission der Westlichen Welt, ist heute der kritische Befund der Zwischenkriegszeit nach 1918 erneut aktuell, dass der „bürgerliche“ Liberalismus in seinen elementaren Bestandsvoraussetzungen eklatant gefährdet und geschwächt ist.
Wer einem solchen Krisenbefund zustimmt, wird sich über das weltweite aktuelle Interesse an Carl Schmitt (1888–1985) nicht wundern.13 Schmitt war ein scharfer Kritiker des Liberalismus, Vordenker des „autoritären“ und „totalen“ Staates, Apologet des Weimarer Präsidialsystems und „Kronjurist“ des Nationalsozialismus. Als junger, hochbegabter Jurist beobachtete er schon vor 1918 den Wandel zur Militärdiktatur unter den Bedingungen des Krieges und folgte diesem Zug zur Diktatur dann als Lebensthema. Als Staatsrechtslehrer konzentrierte er sich dabei auf die deutschen Verhältnisse. 1921 publizierte er eine erste große Monographie Die Diktatur, die ihm sogleich Berufungen nach Greifswald (1921) und Bonn (1922) eintrug. 1928 wechselte er nach Berlin und kehrte 1933 nach kurzem Kölner Intermezzo wieder dahin zurück. 1945 verlor er infolge seiner starken nationalsozialistischen Belastung seine Berliner Professur.
Seit den 1920er Jahren publizierte er in rascher Folge grundlegende und schlagkräftige Schriften, die heute in vielen Sprachen intensiv diskutiert werden. Genannt seien nur: Politische Theologie (1922), Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Der Begriff des Politischen (1927), Verfassungslehre (1928), Der Hüter der Verfassung (1931), Legalität und Legitimität (1932). Schmitt trennte strikt zwischen Liberalismus und Demokratie. Den Parlamentarismus betrachtete er dabei als eine liberale Form politischer Willensbildung und Entscheidung. Schmitt betonte aber eine Spannung von Idee und Realität; er meinte, dass die parlamentarische Debatte sich in der modernen Demokratie nicht mehr „rationalistisch“ an politischer Argumentation und Überzeugung ausrichtet, sondern dass der einzelne Abgeordnete zum abhängigen Agenten im „Parteienstaat“ der Parteilinie mutiert. In seiner Verfassungslehre kennzeichnete er das liberale Verfassungsdenken vor allem durch die strikte Gesetzesbindung, Gewaltenteilung und starke Grundrechtsbestimmungen. Er meinte, dass die Verbindung von Demokratie mit Liberalismus, die uns heute um der Liberalität willen selbstverständlich erscheint, eigentlich historisch ist und demokratische Gleichheit sich auch antiliberal und außerparlamentarisch in anderen Formen politischer Willensbildung äußern und organisieren kann. Die Weimarer Republik eröffnete der „unmittelbaren Demokratie“ hier u.a. den außerparlamentarischen Weg des Volksbegehrens und Volksentscheids. Der politische Extremismus nutzte diese Instrumente zur Schwächung des parlamentarischen Systems.
Anders als die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik bot die Weimarer Verfassung mehr Möglichkeiten für eine antiparlamentarische Regierungsbildung.14 Der Reichspräsident wurde in Weimar direkt vom Volk für sieben Jahre gewählt. Nach dem Tod Friedrich Eberts übernahm Paul von Hindenburg, der einstige Generalfeldmarschall, Kriegsheld und Träger der Militärdiktatur, das Amt; 1932 wurde er gegen Hitler wiedergewählt. Weil der Reichstag seit 1930 keine parlamentarisch getragene Regierung mehr wählte, stützte Hindenburg Minderheitsregierungen. Im Januar 1933 ernannte er Hitler, den erklärten Totengräber der Republik, zum Kanzler und ermöglichte so den Untergang Weimars. Schmitt rechtfertigte die „kommissarische Diktatur“ des Präsidialregimes exponiert und trat spätestens seit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 zum Nationalsozialismus über. Er suchte nun die Nähe zu nationalsozialistischen Spitzenpolitikern wie Hermann Göring und Hans Frank und wirkte bis 1936 in wichtigen Funktionen an der nationalsozialistischen Gleichschaltung des Rechtssystems und der Rechtswissenschaft mit. Bis 1942 rechtfertigte er den nationalsozialistischen Imperialismus als herrschaftliche „Großraumordnung“.
Schmitt beobachtete nicht nur einen Zug zur Diktatur, sondern rechtfertigte diese Entwicklungen auch sehr grundsätzlich. Er war tatsächlich davon überzeugt, dass eine politische Ordnung Deutschlands jenseits der liberalen und parlamentarischen Demokratie legal und legitim möglich sei. Dabei verstand er sich als Jurist, der auf dem Boden des geltenden Rechts argumentiert. Begrifflich trennte er zwischen Legalität und Legitimität. Die Rede von „Legitimität“ meidet das stärkere Wort vom „Naturrecht“ und betont den historischen Wandel der Rechtsauffassungen. Als antiliberaler Denker und lebensphilosophischer „Existentialist“ lehnte Schmitt ein katholisch-christliches „ewiges“ Naturrecht ebenso ab wie das universale Vernunftrecht der Aufklärung und des deutschen Idealismus nach Kant. Schmitt dachte radikal politisch und nationalistisch. Die „dynastische Legitimität“ der Kaiser und Könige hatte seiner Auffassung nach im Weltkrieg kläglich versagt und abgedankt. Zur Rechtfertigung des Rechts blieb deshalb nur die „demokratische Legitimität“. Schmitt erklärte mit seiner Verfassungslehre den politischen „Willen“ der Nation zum Geltungsgrund des Rechts, zur Legitimität der Legalität. Diesen „Willen“ bezeichnete er auch als „Macht oder Autorität“ und sprach im Vokabular des Existentialismus von einem „Recht auf Selbsterhaltung“. Als Jurist bemühte er sich weniger um die rechtsphilosophische Klärung seiner Legitimitätsauffassung als um die nationalistische Mobilisierung des politischen „Willens“, der die Verfassung tragen sollte. Er setzte keinen starken Rechtsbegriff gegen die herrschende Legalität und Legitimität, sondern analysierte zunächst nur die Rechtsgrundlagen der geltenden Verfassung.
Die Weimarer Republik entstand nach dem Ersten Weltkrieg unter äußerst schwierigen Rahmenbedingungen; Schmitt betrachtete sie zwar als ein „Diktat“ der Sieger des Ersten Weltkriegs, akzeptierte sie aber auch als „Verfassungsentscheidung“ nach dem klassischen Drehbuch des Nationalstaats: durch die Wahl einer Nationalversammlung, Verfassungsentwürfe und die positive Entscheidung der Nationalversammlung. Schon die Verfassungslehre meldet aber Vorbehalte an: Der tragende politische Wille kann schwächeln, schwinden oder auch revolutionäre Alternativen suchen. Die Autorität der Verfassung steht zur Disposition der revolutionären verfassunggebenden Gewalt.
Artikel 1 der Weimarer Verfassung verfügte: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das Grundgesetz stellt heute den Menschenwürdegrundsatz und die Menschen- und Grundrechte voran. Erst in Artikel 20 GG heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erfolgte 1948 als Antwort auf den Zweiten Weltkrieg. Schmitt dachte als Staatsrechtler noch nicht unter diesem Primat der Menschenrechte. Man muss wohl auch sagen: Er glaubte nicht an universale Menschenrechte, sondern betonte den politischen Ursprung und die Machtgrundlagen des Rechts. Normen galten seiner Auffassung nach nur, wenn und weil sie von einem existierenden Willen, einer faktischen Macht oder Autorität gesetzt und erhalten werden.
In seinen grundlegenden Schriften Politische Theologie und Der Begriff des Politischen führte Schmitt sehr drastisch aus, was er über diesen politischen „Willen“ dachte. Entscheidungen formieren sich in Unterscheidungen:
„Die spezifische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ „Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist […] Den existentiellen Konfliktfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wir, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“ (BP 26f)
Schmitt entwickelte aus diesem Ansatz eine Programmschrift zur Mobilisierung des nationalistischen Kampfes gegen die Versailler Friedensordnung, den Genfer Völkerbund und den Weimarer Liberalismus und Parlamentarismus. Seine Schrift Der Begriff des Politischen, 1927, 1932, 1933 und 1963 in verschiedenen Fassungen erschienen, wirkt bis heute als Kampfschrift der „Neuen Rechten“. Die Rede vom „existentiellen“ Willen, von Seins- und Lebensformen, demokratischer „Homogenität“ und Gleichheit im Kampf gegen Feinde, der Ton nationalistischer Xenophobie und ethnischen Homogenitätswahns spricht heute noch manchen an. Schmitt malte und buchstabierte ihn im Nationalsozialismus auch aggressiv antisemitisch, rassistisch, revanchistisch und imperialistisch aus. Alle illiberalen und diskriminierenden Töne, aber auch manche Gegenstimmen finden sich in seinem polysemen und kakophonen Werk. Im Februar 1956 notierte Schmitt dazu in sein Tagebuch:
„Modernes Gespräch: Wieviele Sprachen sprechen Sie eigentlich? Zwei tote Sprachen, Griechisch und Latein kann ich gut lesen; ich spreche leidlich 5 nationale, d.h. halbtote Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch; und beherrsche mindestens sieben lebendige, d.h. ideologische, wirksame, d.h. internationale Sprachen, nämlich humanistisch, liberaldemokratisch, faschistisch, marxistisch, römisch=katholisch christlich=evangelisch, ferner: positivistisch und hegelianisch. Macht also zusammen 14 Sprachen, deren Vokabulaire, Grammatik und Syntax mein Gehirn präsent haben muss. Sonst wäre ich nämlich schon längst ein- und untergebuttert. So aber lebe ich noch und genieße der Freiheit meines Geistes.“ (GL 341)
Schon früh verknüpfte Schmitt Macht und Recht systematisch miteinander. Seine Politische Theologie bindet das Recht der Macht an eine politische Ordnungsleistung. Nicht jede Macht ist im Recht, sondern nur diejenige, die eine effektive Ordnung stiftet. Der bekannte Schlüsselsatz der Schrift lautet hier: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Es heißt dort auch:
„Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht ist ‚Situations-recht‘. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, das also richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist“. (PT 20)
Unter Berufung auf Thomas Hobbes spricht Schmitt von einem notwendigen Zusammenhang oder Konnex des juristischen Entscheidungsdenkens: des sog. „Dezisionismus“, mit einem „Personalismus“, und er betont, dass die personalistischen Voraussetzungen des Entscheidungsdenkens eigentlich nur in einem „theistischen“ Weltbild gesichert sei. Nur hier werde der Mensch als metaphysisches Wesen souverän über die Natur erhoben. Schmitt schmückte seinen Sprung in die Metaphysik normativ „aus dem Nichts“ geborener Entscheidung mit Berufungen auf Kierkegaard, Sorel und eine „Philosophie konkreten Lebens“. So schreibt er: „In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.“ (PT 22) „Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes“ (PB 200), schreibt er 1934. Schon 1923 beruft er sich auch auf Mussolini und die „schöpferische“ Aktion und Gewalt.
Schon damals gerät sein Werk auf die abschüssige Bahn der „Gegenrevolution“: Schmitt konstruiert einen Kampf zwischen „Autorität“ und „Anarchie“, „theistischem“ und „materialistischem“ Weltbild, und er setzt die personale Herrschaft und Entscheidung gegen ein Zerrbild vom liberalen und positivistischen Gesetzesdenken, das die Herrschaft des Rechts als Zwang einer juristischen Subsumptionslogik auslegt. Schmitt tritt mit seiner Souveränitätslehre 1922 schon in eine erbitterte Gegnerschaft zur „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens und entblödet, schämt oder scheut sich nach 1933 nicht, Kelsens Gesetzesdenken als „jüdischen Geist“ zu denunzieren. Immer wieder betonte er nach 1933, dass sein „Dezisionismus“ eigentlich ein „konkretes Ordnungsdenken“ sei; seine starke These, dass souveräne Entscheidungen „personalistische“ und „theistische“ Voraussetzungen haben, dass die Freiheit des Menschen religiös und metaphysisch begründet sein muss, warf Schmitt aber in den Auslegungspfad der Führerideologie und des Mythos. Seine „Philosophie konkreten Lebens“ oszilliert zwischen einem theistischen und einem existentialistischen Credo. Eine konsistente philosophische Systematik findet sich im Werk nicht. Nach seiner Kritik am „bürokratischen Funktionsmodus“ des Gesetzesdenkens wurde Schmitt auch zum Apologeten der „unmittelbaren Gerechtigkeit“ des nationalsozialistischen „Führerstaates“, für den er dekretierte: „Gesetz ist Wille und Plan des Führers.“ Erst spät realisierte er, dass Hitler einen terroristischen Leviathan schuf. Verklärte er Hitler 1934 noch zum souveränen Diktator und Richterkönig im Ausnahmezustand, so notierte er 1948 in sein Tagebuch:
„Was ist seit 1918 in Deutschland geschehen? Aus dem Dunkel des sozialen, moralischen und intellektuellen Nichts, aus dem reinen Lumpenproletariat, aus dem Asyl der obdachlosen Nichtbildung stieg ein bisher völlig leeres unbekanntes Individuum auf und sog sich voll mit den Worten und Affekten des damaligen gebildeten Deutschland.“ (GL 112) „Nun hatte man den Ernstnehmer, den Ernstmacher, einen nichts als Realisator, einen nichts als Durchführer und Vollstrecker, den reinen Vollstrecker der bisher so reinen Ideen, den reinen Schergen.“ (GL 113) „Die Idee bemächtigt sich eines Individuums und tritt dadurch immer als fremder Gast in die Erscheinung. Der fremde Gast war Adolf. Er war fremd bis zur Karikatur. Fremd gerade durch die aseptischleere Reinheit seiner Ideen von Führer, Charisma, Genie und Rasse. Er war ein voraussetzungsloser Vollstrecker.“ (GL 114)
Schmitt möchte hier verstehen, weshalb Deutschland auf Hitler hereinfiel. Der souveräne und „charismatische“ Führer erscheint ihm plötzlich nur noch als Projektionsfläche und Phantom diverser Zuschreibungen. So merkwürdig und fragwürdig solche Überlegungen auch sind, formulieren sie doch auch eine Kapitulationserklärung der eigenen personalistischen Führersehnsucht: Die Flucht aus der Norm in die Entscheidung, der Abbau liberaler Verfahren und Machtkontrollen übereignete das Recht der Willkür und Tyrannei. Viele einstige Weggefährten brachen mit Schmitt und beschrieben seine „zynische“ und „dämonische“ Gestalt teils atemberaubend negativ. Moritz Bonn, ein einstiger Förderer, meinte: „Wie alle schwachen Geister lechzte er nach der befreienden Tat; ob Tat oder Untat, war ihm schließlich einerlei“.15 Karl Löwith kritisierte Schmitts „Dezisionismus“ 1935 als politischen Opportunismus16 und zielte damit auch gegen den philosophischen Existentialismus seines akademischen Lehrers Heidegger. Für das nihilistische Pathos bloßer „dezisionistischer“ Entschlossenheit erinnerte er an einen Freiburger Witz: „Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu.“17 Schmitts politischer Theorie und Verfassungslehre wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie die Staatszwecke nicht positiv formulierte. Max Weber hatte einst gehofft, dass der moderne Parlamentarismus den Typus des „Verantwortungspolitikers“ ausprägen würde. Diese Hoffnung auf eine qualifizierte demokratische Führerauslese war spätestens mit der Selbstpreisgabe der Weimarer Republik an den Nationalsozialismus erledigt: Das Volk wählte sich falsche Führer. Wenn Schmitt nach 1945 endlich zugab, dass der „charismatische Führer“ ein destruktiver Hasadeur war, verwarf er auch seine frühere „personalistische“ Antwort.
Schmitt flüchtete aus den Krisen der Weimarer Demokratie in die totalitäre Diktatur. Sein Werk war in den kritischen Analysen stärker als in den radikalen Antworten. Manche frühere Positionen revidierte er nach 1945. „Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal wahr“ (VRA 415), schrieb er seinen Lesern nun ins Stammbuch, äußerte sich nicht mehr offen nationalistisch und verzichtete auf öffentliche Kommentare zur Bundesrepublik, der er privatim aber die Souveränität und Legitimität bestritt. Die Neue Rechte beruft sich heute gerne auf Schmitt als „Klassiker“ des Rechtsintellektualismus, da direkte NS-Anschlüsse unmöglich sind, rezipiert ihn aber meist nur mimetisch und epigonal auf niedrigem Niveau. Sie übernimmt Schlag- und Stichworte ohne originäre Analysen. Von Mohler über Maschke zu Kubitschek zeigt sich hier auch ein intellektueller Absturz. Es gibt heute erneut eine Sehnsucht nach einfachen Antworten und starken „Führern“. Die „charismatischen“ Führer und Autokraten aber entpuppen sich vielfach erneut als populistische Idioten, Dummköpfe, Hochstapler und Hasadeure. Ist Schmitts Befund einer Entliberalisierung der Demokratie heute wieder sachlich aktuell, so zeigen die populistischen Demagogen, dass der Ruf nach dem souveränen Führer und radikalen Systemalternativen keine tragende Antwort bietet. Liberalismus ohne Demokratie verkennt den Gleichheitsanspruch des Individualismus, Demokratie ohne Liberalismus und Liberalität aber wird totalitär. Nur die strikte Befristung und Beschränkung der Macht schützt vor falschen Führern.