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2.5 Der Friedensvertrag und der Weg zum Kongress

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Am 12. April 1814, dem Tag vor Napoleons formeller Abdankung, war der jüngere Bruder des bourbonischen Thronprätendenten, Charles [<<34] Philippe de Bourbon, Graf von Artois (der spätere König Karl X.), in Paris angekommen. Auch in seinem Namen schloss Talleyrand nach Verhandlungen von wenigen Tagen Dauer am 23. April 1814 einen Waffenstillstand mit den vier alliierten Großmächten, dem auch noch Portugal beitrat. Darin wurde auch die Räumung jener etwa 50 befestigten Plätze vereinbart, die in Mitteleuropa noch in der Hand von französischen Truppen waren.24

Die freundliche Aufnahme seines Bruders in Paris brachte den Thronprätendenten Louis, Bruder des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI., auf die Idee, entgegen den Empfehlungen Talleyrands und des Zaren die vom französischen Senat verabschiedete Verfassung nicht zu akzeptieren. Am 20. April verließ er sein Exil nahe Oxford, setzte auf einem britischen Schiff über den Kanal und erklärte, sich unter Berufung auf seine ererbte Machtstellung ohne weiteres als Ludwig XVIII., von Gottes Gnaden König von Frankreich und Navarra bezeichnend, am 2. Mai in St. Ouen, am Stadtrand von Paris, dass er die Verfassung nicht anerkennen werde. Er versprach die Wahrung gewisser Grundrechte und die Einrichtung einer Volksrepräsentation, machte aber deutlich, dass er nicht gewillt sei, sein Königtum zu Bedingungen zu übernehmen, die andere ihm diktiert hatten. Am 3. Mai hielt er seinen Einzug in Paris.

Der neue, aus eigener Machtvollkommenheit agierende König akzeptierte gleichwohl eine Verfassungsurkunde, die unter Wahrung seiner Prärogativrechte, also in einem von ihm als Souverän angestoßenen und kontrollierten Verfahren, entstand. Er beteiligte sich in der zweiten Maihälfte persönlich an der Ausarbeitung einer „Charte constitutionelle“ für Frankreich, die am 4. Juni 1814 feierlich proklamiert wurde. Sie wahrte, etwa bei der Entscheidung über Krieg und Frieden, die königlichen Rechte gegenüber dem Zwei-Kammer-Parlament und wurde mit der von Jacques Claude Beugnot ganz im Sinn des monarchischen Prinzips formulierten Präambel „eines der klassischen Dokumente der Restaurationsideologie.“25 [<<35]

In diese bewegten Tage der französischen Innenpolitik fiel die formelle Beendigung des Kriegszustandes zwischen Frankreich und seinen Gegnern. Talleyrand, den Ludwig XVIII. am 13. Mai im Amt des Außenministers bestätigte, verhandelte mit Razumovskij und Nesselrode als Bevollmächtigten des russischen Zaren, mit Metternich und Stadion in Vertretung des österreichischen Kaisers, Castlereagh, Aberdeen, Cathcart und Stewart für den britischen König bzw. Prinzregenten sowie Hardenberg und Humboldt für den König von Preußen. Ein österreichischer Entwurf hatte die wenigen bisher getroffenen territorialen Absprachen des Frühjahrs 1814 zusammengefasst: Rückkehr der Bourbonen auf den spanischen Thron; Unabhängigkeit und territoriale Vergrößerung der Niederlande; Umgestaltung der Schweizer Eidgenossenschaft unter Beteiligung und Garantie der Großmächte sowie Wiederherstellung der Staatenwelt Italiens, während für die deutschen Gebiete eine Ergänzung der souveränen Fürstenstaaten um ein föderales Band zur Garantie von Unabhängigkeit und Sicherheit vorgesehen war.

Für die Verhandlungen hatte es einen großangelegten Plan zur Neuverteilung der politischen Kräfte in Europa gegeben, den der preußische Staatskanzler Hardenberg nach eingehenden Besprechungen mit dem österreichischen Gesandten Stadion und mit Billigung Castlereaghs Ende April 1814 ausgearbeitet hatte. Er sah noch substantielle Abtretungen von polnischen Gebieten zugunsten von Preußen (bis zur Warthe; ca. 1,3 Mio. Menschen) und Österreich (um Krakau und Zamość; ca. 300.000 Menschen) vor. Preußen verlangte außerdem das ganze Königreich Sachsen, die Herzogtümer Berg, Westfalen und Nassau sowie Entschädigungsgebiete beiderseits des Rheins zwischen Mainz und Wesel. Für beträchtliche Unruhe sorgte Preußens Anspruch auf die bisher unter dem Dach des Rheinbundes souveränen Kleinfürstentümer Waldeck-Pyrmont, Lippe-Detmold, Reuß und Schwarzburg. Österreich sollte nicht nur Tirol, Salzburg und das Innviertel wieder erhalten, sondern durch einen breiten, über Vorarlberg und Breisgau bis an den Oberrhein reichenden Gebietsstreifen wieder im deutschen Südwesten verankert werden. Für die süddeutschen Mittelstaaten Bayern (mit geschlossenem Territorialbesitz zwischen Franken und der Pfalz), Württemberg, Baden (das weit nach Nordwesten an die Mosel verschoben wurde), Hessen-Darmstadt [<<36] und Hessen-Kassel erarbeitete Hardenberg detaillierte Entschädigungskonzepte, die auch das linke Rheinufer einbezogen. Für die Niederlande schlug er eine beträchtliche Vergrößerung um Belgien, eine Grenze an der Maas zwischen Venlo und Lüttich sowie südlich der Maas einen Gebietskorridor bis Luxemburg vor. In Übereinstimmung mit den Interessen der Briten begründete er: „Holland, dessen Bedeutung für die Abstützung des Systems, das man in Europa einzurichten beabsichtigt, und besonders für die Unabhängigkeit Norddeutschlands und Preußens allgemein anerkannt wird, muß stark gemacht werden und eine territoriale Kraft erhalten, die es befähigt, sich erfolgreich gegen jeden Angriff zu verteidigen.“ König Vittorio Emanuele I. von Sardinien-Piemont, der im Mai 1814 nach Turin zurückkehren konnte, sollte Genua, Nizza und einen Teil seiner savoyardischen Stammlande erhalten. Für die Westgrenze Frankreichs schlug Hardenberg einige Korrekturen vor, u. a. die Abtretung der Festung Landau in der Pfalz. Der schwedische König sollte, wie im Kieler Frieden von Anfang 1814 vereinbart, Norwegen übernehmen, die monarchischen Staaten in der Mitte und im Süden Italiens wiederhergestellt werden und „Deutschland … einen Bund souveräner, aber untereinander durch einen Bundesvertrag wohl geeinter Staaten bilden.“26

Am Rhein freilich wollte Metternich den Preußen eine begehrte Schlüsselposition, die Festung Mainz, nicht zugestehen und dort lieber Bayern verankert sehen, mit dessen Vertreter Wrede er in Paris eingehende Gespräche führte. Der Zar lehnte allerdings alle Abstriche an seinen Ansprüchen auf Polen Anfang Mai rundheraus ab. Und mit der Etablierung Ludwigs XVIII. war auch der Versuch der Siegermächte obsolet, Frankreichs Mitsprache bei der Neuordnung Europas zu verhindern. Graf Münster, der Vertreter Hannovers, schrieb dem englischen Prinzregenten am 5. Mai, ein wieder von den Bourbonen regiertes Frankreich könne auf keinen Fall als besiegte Macht behandelt werden.27

Der zwischen Frankreich und den vier genannten Mächten jeweils wortgleich abgeschlossene Vertragstext (geheime Zusatzabreden betrafen [<<37] je unterschiedliche bilaterale Punkte), datierend vom 30. Mai 1814, wird heute in der Regel als „Erster Pariser Friede“ bezeichnet, um ihn von jenem „Zweiten“, für Frankreich ungünstiger ausfallenden Friedensvertrag zu unterscheiden, den die Alliierten nach Napoleons Herrschaft der „Hundert Tage“ und seiner endgültigen militärischen Niederlage am 20. November 1815 mit Ludwig XVIII. abschlossen. Dem Vertrag vom 30. Mai traten auch die übrigen kriegführenden Parteien Schweden, Portugal (mit einem Vorbehalt wegen Grenzziehungen in Südamerika) und Spanien (erst am 20. Juli 1814) bei.28

Das Vertragswerk nannte neben der Wiederherstellung des Friedens in seiner Präambel eine gerechte Kräfteverteilung unter den Mächten, die Sicherheit und Stabilität Europas und die Fixierung möglichst dauerhafter Bestimmungen als politische Ziele. In einem Zusatzartikel wurden alle Friedensverträge der napoleonischen Zeit und ihre territorialen Regelungen nochmals ausdrücklich außer Kraft gesetzt.

• Frankreich bekam seinen Gebietsstand vom 1. Januar 1792 mit einigen geringfügigen Korrekturen garantiert. An der Saar und in Savoyen wurden sogar Gebietserweiterungen gegenüber dem Stichtag zugestanden, etwa der Besitz der rechtsrheinischen Festung Landau in der Pfalz, der Gebiete von Chambéry und Annecy in Savoyen, von Mühlhausen, Mömpelgard und der südfranzösischen Grafschaften Avignon und Venaissin. Für den Zugang zur Stadt Genf von der Schweiz her wurden Regelungen über die gemeinsame Nutzung von Straßen getroffen. In Art. 18 wurde auf die Zahlung einer Kriegsentschädigung, an der vor allem Preußen interessiert gewesen wäre, ausdrücklich verzichtet. Den Käufern von außerhalb der alten Grenzen gelegenen französischen Nationalgütern wurde die Rechtsgültigkeit ihrer Erwerbungen ausdrücklich zugesagt.

• Die nördlichen Niederlande (der Vertragstext spricht in Art. 6 von „La Hollande“) wurden unter die Herrschaft des Hauses Oranien-Nassau [<<38] in Person des Prinzen Wilhelm VI. von Oranien, der seit 1813 den Titel eines Souveränen Fürsten der Niederlande führte, gestellt; sie sollten eine substantielle Gebietsvergrößerung erhalten.

• Der Schweizerischen Eidgenossenschaft wurden Unabhängigkeit und Selbstregierung nach von den Großmächten garantierten Grundsätzen zugesagt.

• Frankreich anerkannte die Regelungen des Kieler Friedens zwischen Großbritannien, Dänemark und Schweden vom 14. Januar 1814, der u. a. den Übergang Norwegens von Dänemark an die Krone Schweden festlegte, um diese für den Verlust Finnlands zu entschädigen.

• Auch die koloniale Welt war in die Gebietsregelungen des Friedensvertrags einbezogen. Frankreich erhielt seine überseeischen Besitzungen zurück; ausdrücklich genannt wurden das südamerikanische Guayana und Guadeloupe, für das der König von Schweden, seit 1813 Besitzer dieser Antilleninsel, eine hohe Entschädigungszahlung kassierte. Den 1795 übernommenen Ostteil der Insel Hispaniola/Santo Domingo (das Gebiet der heutigen Dominikanischen Republik) sollte Frankreich an Spanien zurückgeben. Die Briten behielten allerdings Tobago, St. Lucia und die „Île de France“ (Mauritius samt den Seychellen) für sich und ließen sich auch die Verdrängung des Johanniterordens von der Insel Malta förmlich anerkennen.

• Die britische Regierung verpflichtete die Franzosen in einem Zusatzartikel zu unterstützenden Maßnahmen bei der Durchsetzung des Verbots des Sklavenhandels binnen einer Übergangsfrist von fünf Jahren.

• Für Rhein und Schelde wurde die Errichtung eines Regelwerks vereinbart, das eine grundsätzliche Freiheit der Schifffahrt und eine akkordierte Erhebung von Abgaben garantieren sollte. Solche Regularien sollten später auch für andere Flussläufe getroffen werden.

• Noch sehr unbestimmt fielen die territorialen Rahmenbedingungen für den mitteleuropäischen Raum nördlich und südlich der Alpen aus. Art. 6 schrieb eine staatenbündische Lösung für den deutschen Raum fest („Les Etats de l’Allemagne seront indépendans et unis par un lien fédératif“). Auf der Apenninenhalbinsel wurde Österreich eine Einflusszone im Norden vorbehalten (ein geheimer Zusatzartikel nannte die Flüsse Po und Ticino sowie den Lago Maggiore als Grenzen der [<<39] künftigen österreichischen Besitzungen in Italien), südlich davon sollte es zur Wiederherstellung selbständig-souveräner Staatswesen kommen („L’Italie … sera composée d’Etats souverains“).

Weitere territoriale Dispositionen, die als Richtschnur bei den noch zu treffenden Entscheidungen im Sinne der ausdrücklich so genannten Herstellung eines wirklichen und dauerhaften Gleichgewichts-Systems in Europa („un système d’equilibre réel et durable en Europe“) dienen sollten, wurden in geheimen Zusatzabsprachen getroffen. Hier wurden die Besitzansprüche Österreichs in Norditalien festgeschrieben, ebenso die Entschädigung von Sardinien-Piemont mit dem Gebiet von Genua. Die Grenzen für die Vergrößerung der Niederlande, durch die sichergestellt werden sollte, dass dieses Land sich künftig mit seinen eigenen Ressourcen verteidigen konnte, wurden vorläufig durch Kanalküste, Frankreich und Maas umschrieben, die Regelung des künftigen Grenzverlaufs rechts der Maas noch aufgeschoben. Die früher zum Reich gehörigen Gebiete links des Rheins, deren Besetzung und territoriale Integration zu Frankreichs ersten erfolgreich realisierten Kriegszielen gehört hatte und die es jetzt zurückgeben musste, sollten der weiteren Vergrößerung Hollands sowie der territorialen Entschädigung deutscher Staaten dienen, von denen vorerst nur Preußen namentlich genannt wurde.

Noch in Paris regelten Österreich und Bayern wenigstens einen Teil ihrer nachbarschaftlichen Differenzen in einer Vertragsabsprache vom 3. Juni 1814. Bayern gab mit sofortiger Wirkung Tirol und Vorarlberg an Österreich zurück und erhielt dafür Würzburg und Aschaffenburg. Ferner war die Rückstellung der größeren Teile Salzburgs sowie des Innviertels an Österreich vorgesehen, aber erst, wenn Bayern dafür in ausreichender Weise anderswo (in Aussicht genommen wurden Mainz, das Gebiet des alten pfälzischen Kurfürstentums und Teile des Großherzogtums Frankfurt) entschädigt worden sei.29 Um den Besitz Salzburgs sollte sich allerdings noch ein zwei Jahre währendes, zähes Ringen unter den beiden Nachbarmächten anschließen. Vorerst wurden Österreich und [<<40] Bayern gemeinsam beauftragt, die Gebiete links des Rheins und südlich der Mosel gemeinsam in provisorische Verwaltung zu nehmen, während nach Mainz vorerst eine gemischt preußisch-österreichische Garnison gelegt werden sollte.

Schon zu Beginn der Verhandlungen, Mitte April, ist in Castlereaghs Korrespondenz die Idee zu greifen, an den Abschluss des Friedens einen allgemeinen Kongress („general Congress“) anzuschließen, auf dem auch Frankreich vertreten sein sollte.30 Die Idee fand Eingang in Art. 32 des Friedensvertrags, der diesen „congrès général“ aller Teilnehmer am vorausgehenden Krieg binnen zweier Monate nach Wien berief, um dort die Regelungen des Friedenswerks im Sinne des gewünschten Gleichgewichtssystems zu vervollständigen.

Damit ergab sich allerdings die Frage nach dem Einfluss, der dem „Verlierer“ Frankreich und den „kleinen Siegermächten“ Spanien, Portugal und Schweden auf einem solchen Kongress zukommen würde. In der Sicht der vier Großmächte (die sie im ersten geheimen Artikel festhielten) waren nur sie selbst dazu berufen, den Entscheidungen des Kongresses Richtlinien vorzugeben („bases arrêtées par les puissances alliées entr’Elles“). Sowohl Castlereagh als auch Metternich wollten deshalb alle wesentlichen Entscheidungen (vor allem über Polen) in einer weiteren exklusiven Verhandlungsrunde treffen; als Vehikel dafür diente eine von Castlereagh mit langem Vorlauf geplante Einladung des britischen Prinzregenten an die Monarchen Russlands, Österreichs und Preußen nach London. Der Kongress wäre dann nur noch ein „ratifying instrument“ für die dortigen Entscheidungen der Großmächte geworden.31 In diesem Sinn ist die Einschätzung Metternichs eine Woche vor Unterzeichnung des Friedens zu verstehen: „Mit Anfang August wird der Congreß in Wien eröffnet. Da wir uns in der Zwischenzeit … mit den deutschen Fürsten einverstehen werden und unsere Ausgleichung unter den Großmächten definitiv in England stattfinden wird, so wird dieser Congreß weniger zum Negociiren als zum Unterfertigen bestimmt sein [<<41] und sich in der ersten Hinsicht … auf die Erwägung einiger durch ganz Europa laufenden gesellschaftlichen Fragen beschränken.“32 Diese Einschätzung sollte sich freilich als viel zu optimistisch erweisen.

Auf Einladung des britischen Prinzregenten Georg reisten Zar Alexander I., König Friedrich Wilhelm III. und Metternich von Paris aus Anfang Juni 1814 nach London, um dort zwischen dem 6. und dem 22. Juni im Kreis der Vier über weitere Grundsatzentscheidungen zu beraten, die dem nach Wien einberufenen Kongress vorgelegt werden sollten. Der Zar und seine jüngere Lieblingsschwester, Großfürstin Katharina, brachten durch eine Reihe persönlicher und diplomatischer Ungeschicklichkeiten die konservative Regierung des Earl of Liverpool gegen sich auf. Nicht zuletzt deswegen konnte über die wichtige Causa Polen nicht offiziell verhandelt werden, und die Pläne des Zaren hinsichtlich einer Verbindung des Herzogtums Warschau mit den früheren Gebietsgewinnen aus den polnischen Teilungen blieben den Verbündeten unklar. In den offenen Fragen um Polen, aber auch hinsichtlich der künftigen Verfassung Deutschlands, setzte Metternich stark auf eine Kooperation mit Preußen und signalisierte deshalb wiederholt seine Bereitschaft zu Zugeständnissen hinsichtlich des preußischen Interesses an Sachsen.33

In London erfolgte nur eine wichtige Präzisierung der Pariser Regelungen, bei der die Briten erfolgreich Regie führten: die Übergabe der vormals Österreichischen Niederlande („Belgique“) an Prinz Wilhelm, Souveränen Fürsten der Niederlande („Hollande“), und die Verbindung beider („amalgame“) zu einem neuen niederländischen Staatswesen, dessen Grenzen rechts der Maas vorerst noch nicht genau festgelegt waren. Die Bestimmungen zur provisorischen Verfassung vom Juli 1814 legten fest, dass diese Union eine „tiefgehende und vollständige“ („intime et complète“) sein und auf der Basis der in den Niederlanden gültigen Verfassungsregelungen erfolgen sollte; faktisch ging es also um einen „Anschluss“ der belgischen Gebiete an die Niederlande. Großbritannien sicherte sich für diese Vermittlungsdienste aus dem überseeischen Besitz [<<42] der Niederlande die Kolonie am Kap der Guten Hoffnung, Cochin an der indischen Malabarküste und einen Teil des südamerikanischen Niederländisch-Guayana (Essequibo, Demerara und Berbice).34

Abgesprochen wurde weiterhin, im Hinblick auf mögliche Schwierigkeiten mit Frankreich Truppen in Kriegsstärke von je 75.000 Mann mobilisiert zu halten und in den besetzten Gebieten keine unumkehrbaren Fakten zu schaffen, bevor über deren künftige Zugehörigkeit vertraglich entschieden sein würde. Die Wichtigkeit dieser Zusage erhellt aus der Tatsache, dass russische Truppen in Sachsen und preußische auf dem linken Rheinufer standen. Die umstrittene Zuordnung der Festungsplätze Mainz und Luxemburg wurde noch nicht festgelegt. Metternich und Hardenberg führten eine Reihe von Gesprächen über die mögliche Ausgestaltung des „föderativen Bands“ für die deutschen Staaten.

Es erwies sich bald, dass die ursprüngliche Terminplanung, den großen Kongress in Wien Ende Juli 1814 zu beginnen, nicht zu halten war. Eine erste Verschiebung gab es Mitte Juni, denn der Zar wollte noch einmal zurück nach Russland und Castlereagh brauchte Zeit für die politische Vertretung seiner Anliegen im britischen Unterhaus. Um Organisation und Ablauf des Kongresses festzulegen, sollten die Bevollmächtigten der vier Mächte ab Anfang August zusammenkommen, aber auch dieser Termin wurde nochmals verschoben, da der Zar, der London am 22. Juni verließ, apodiktisch verkündete, er werde erst am 27. September in Wien erscheinen.

Metternichs Planung am Ende der Londoner Verhandlungen sah schließlich den 10. September als Termin für die Aufnahme der Vorgespräche zwischen Castlereagh, Hardenberg, Nesselrode und ihm selber vor, die Ankunft des Zaren, des Preußenkönigs und der übrigen Monarchen für Ende September und den Kongressbeginn mit 1. Oktober. Vorher wollte er mit Preußen „den Plan der deutschen Verfaßung ins Reine bringen“ und anschließend Hannover, Bayern und Württemberg zur Diskussion dieses Planes zuziehen. Diese Idee hatte Metternich von [<<43] Humboldt übernommen, der die Einsetzung eines „Vorbereitenden Komitees für die deutsche Verfassung“ in Wien empfohlen hatte, um schon zur Eröffnung des Kongresses einen Verfassungsentwurf für einen Deutschen Bund vorliegen zu haben. Darum sollte Humboldt sich im August in Wien kümmern. Mit weiterhin übertriebenem Optimismus hinsichtlich des Kongressverlaufs schrieb Metternich an den Kaiser: „Wenn der rußische Kaiser sich nicht ganz auf Abwegen verliert, so unterliegt es keinem Zweifel, daß wir dieses große Werk in weniger als 6 Wochen beendigen werden.“35

Zusammen mit Hardenberg unternahm Metternich zwischen dem 30. Juni und dem 2. Juli 1814 die Rückreise auf den Kontinent, die die beiden leitenden Minister zunächst nach Paris führte. Im Gespräch mit König Ludwig XVIII. warb Metternich für die Idee eines „unabhängigen Polen“ – gemeint war: möglichst unabhängig von Russland.36 Über das badische Bruchsal, wo er nochmals mit Alexander I. zusammentraf, Ludwigsburg und München kehrte Metternich am 20. Juli 1814 nach Wien zurück.

Außenminister Talleyrand konzipierte inzwischen, gewissermaßen an die eigene Adresse gerichtet, die französischen Instruktionen zum Kongress.37 Er spielte darin das Prinzip der Legitimität stark in den Vordergrund. Mit den Beispielen Frankreich und Spanien im Rücken und mit dem Eintreten für die Rechte weiterer alter Monarchien wie Neapel und Sachsen konnte Talleyrand „am unauffälligsten die spezifischen Interessen Frankreichs unter dem Regime der restaurierten Bourbonenherrschaft verteidigen.“38 Dabei half ihm auch die Tatsache, dass Frankreich keinerlei territoriale Ansprüche stellen und Talleyrand sich deswegen auch als Anwalt jener Staaten gerieren konnte, die wie Polen oder Sachsen im Fokus der Forderungen der Großmächte lagen, darüber hinaus als Fürsprecher der Interessen der Klein- und Mittelstaaten. [<<44]

Kontakte nach England erwiesen sich für die Franzosen dabei als besonders nutzbringend. Auf Empfehlung des Herzogs von Wellington lud Talleyrand Castlereagh ein, auf seiner Reise zum Wiener Kongress in Paris Station zu machen, und der britische Außenminister akzeptierte diese Einladung trotz einiger Bedenken. Man sprach über die Niederlande und Schweden, und Castlereagh versicherte sich des Rückhalts in Paris gegen die polnischen Pläne des Zaren. Aus der Sicht Frankreichs bedeuteten diese Gespräche, die Castlereagh Ende August 1814 mit Ludwig XVIII. und seinem Außenminister in Paris führte, einen ersten Schritt zur Anerkennung als Gesprächspartner im europäischen Mächtekonzert.

Metternich verbrachte den August und die erste Hälfte des September 1814 auf seinem Sommersitz in Baden südlich von Wien. Das in Aussicht genommene Vorbereitungstreffen mit seinen alliierten Kollegen kam nicht mehr zustande. Über den Berliner Gesandten Graf Zichy hielt er Verbindung mit Hardenberg und dachte über einen möglichen Kompromiss mit dem Zaren nach: Ein Anfall der Gebiete östlich der Weichsel an Russland schien ihm, unter der Voraussetzung, dass damit nicht ein Königstitel für Polen verbunden würde, vertretbar. Zu seiner Beunruhigung war man in Berlin nicht bereit, im Gegenzug eine Abschwächung des Anspruchs auf Sachsen auch nur zu erwägen. Auch die zwischen Berlin und Wien vereinbarte Erarbeitung eines Grundlagenplans für die Neugestaltung der Verhältnisse in Deutschland machte keine Fortschritte. Zwar war Wilhelm von Humboldt seit der zweiten Augustwoche in Wien, doch Hardenbergs „Entwurf der Grundlagen einer deutschen Bundesverfassung“ (die sog. „41 Artikel“ in ihrer zweiten Fassung)39 erreichten ihn dort erst Ende August und die offizielle Übergabe an Metternich in Baden verzögerte sich bis zum 9. September.

So beschäftigte sich der leitende Minister Österreichs im August mit der Reorganisation seiner Staatskanzlei, in der die Vorbereitungen auf den Kongress bereits auf Hochtouren liefen, und bestimmte den mit den deutschen wie mit den italienischen Verhältnissen vertrauten Diplomaten Johann Freiherr von Wessenberg zum zweiten Vertreter Kaiser [<<45] Franz’ I. auf dem Kongress, nachdem Johann Philipp Graf von Stadion diese Funktion abgelehnt hatte.

Als Metternich die Nachricht erhielt, dass der britische Außenminister Castlereagh und der Chefberater des Zaren Nesselrode am 13. September 1814 in Wien eingetroffen waren, machte er sich am 15. auf die kurze Reise von Baden in die Hauptstadt. Am 17. vervollständigte Hardenberg den Kreis der leitenden Minister der vier alliierten Mächte. Bis zur geplanten Kongresseröffnung am 1. Oktober blieben noch zwei Wochen, und in den kritischen Fragen Polen, Sachsen, Neuverteilung der Gebiete am Rhein sowie bei der Gestaltung des deutschen Staatenbundes war man noch keinen Schritt vorangekommen. [<<46]


1 Lieven, Russland gegen Napoleon, S. 349f.

2 Demel/Puschner, Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, Nr. 7, S. 60f.

3 Geheimartikel bei Angeberg, Congrès, S. 1f.

4 Demel/Puschner, Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, Nr. 8, S. 63.

5 Angeberg, Congrès, S. 9–12.

6 Angeberg, Congrès, S. 25f.

7 Sellin, Geraubte Revolution, S. 73.

8 Angeberg, Congrès, S. 50–52; Treichel, Quellen, Nr. 5, S. 25–36; Demel/Puschner, Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, Nr. 9, S. 65–68.

9 Treichel, Quellen, Nr. 7, S. 41–48; Demel/Puschner, Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß, Nr. 10, S. 69–71. Art. 4 garantierte Bayern „la souveraineté pleine et entière“, der Geheimartikel 1 „l’indépendance entière et absolue“.

10 Webster, British Diplomacy, Nr. 3–31, S. 3–56, Nr. 54–60, S. 94–107.

11 Angeberg, Congrès, S. 73–82, v. a. S. 76f., 78f. (Deklaration); Sellin, Geraubte Revolution, S. 84 (Zitat).

12 Webster, British Diplomacy, Nr. 32–33, S. 56–63, Zitat S. 58; Instruktion für Castlereagh vom 26. Dezember 1813 ebd., Nr. 70, S. 123–128.

13 Fournier, Châtillon, S. 56–79, 286–288 (Zitat S. 287), 306–308; Demelitsch, Actenstücke, S. 240–252.

14 Fournier, Châtillon, S. 105–138.

15 Wittichen/Salzer, Briefe Gentz, Nr. 145, S. 244; Vertragsentwurf: Angeberg, Congrès, S. 110–113. Vgl. Fournier, Châtillon, S. 146–174; Demelitsch, Actenstücke, S. 254–287; Kerautret, Les grands traités, S. 104–117.

16 Sellin, Geraubte Revolution, S. 114. Vgl. Webster, British Diplomacy, Nr. 82, S. 157 (18. Februar).

17 Text: Angeberg, Congrès, S. 116–120; Kerautret, Les grands traités, S. 118–123.

18 Sellin, Geraubte Revolution, S. 114f.

19 Fournier, Châtillon, S. 183–232; Demeltisch, Actenstücke, S. 127–143, 374–391.

20 Angeberg, Congrès, S. 143–146 (25. März 1814).

21 Sellin, Geraubte Revolution, S. 121–142, Zitat S. 141; Willms, Talleyrand, S. 200–204.

22 Angeberg, Congrès, S. 156.

23 Angeberg, Congrès, S. 148–151; Kerautret, Les grands traités, S. 126–133; Fahrmeir, Revolutionen und Reformen, S. 140 (Zitat).

24 Angeberg, Congrès, S. 156–161; Kerautret, Les grands traités, S. 139–144.

25 Sellin, Geraubte Revolution, S. 195–273, Zitat S. 272.

26 Müller, Quellen, Nr. 1, S. 33–59 mit Karte 1, Zitate S. 44f., 34.

27 Webster, Congress, S. 46 Anm. 1.

28 Text: Treichel, Quellen, Nr. 27, S. 153–168 (preuß. Exemplar), Angeberg, Congrès, S. 161–178, 206f. (österr. Exemplar plus Geheimartikel aller Verträge); dt. Übersetzung bei Grewe, Fontes Bd. 2, Nr. 34, S. 278–294 (preuß. Exemplar).

29 Teile des Vertrags in Übersetzung bei Müller, Quellen, S. 164 Anm. 5.

30 Webster, British Diplomacy, Nr. 98, S. 177.

31 Webster, Congress, S. 45.

32 Müller, Quellen, Nr. 2, S. 59f.

33 Müller, Quellen, Nr. 5, S. 66–70.

34 Angeberg, Congrès, S. 182f. (Datierung und Ortsangabe dort falsch, richtig: London 21. Juni), 207–209 (21. Juli), 209–213 (13. August).

35 Müller, Quellen, Nr. 4, beide Zitate S. 65; Treichel, Quellen, Nr. 28, S. 168f.

36 Fournier, Studien und Skizzen, S. 303.

37 Müller, Quellen, Nr. 14, S. 121–144 (10. September 1814); vgl. Willms, Talleyrand, S. 223f.

38 Willms, Talleyrand, S. 227.

39 Müller, Quellen, Nr. 65, S. 314–336.

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