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RADIKALE PLURALISIERUNG, MEHROPTIONALITÄT

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Ein weiteres Stichwort, das die Situation der gegenwärtigen Gesellschaft charakterisiert, ist das des vielfach beschriebenen, soziologischen Schlüsselbegriffs „Pluralisierung“ (Beck 2006; Beck/Beck-Gernsheim 2004). Die Vervielfältigung aller individuellen und sozialen Lebensformen wird dem Menschen besonders dann bewusst, wenn sie ihre Großeltern von der „damaligen Zeit“ erzählen lassen. Die Lebensverhältnisse früherer Epochen erscheinen als weit weniger komplex und viel überschaubarer als die gegenwärtigen, vor allem waren sie weitaus stärker festgelegt. Der Sohn eines Bäckers, der in die Fußstapfen seines Vater trat, das Bäckerhandwerk erlernte und später das elterliche Geschäft übernahm, hatte relativ wenige Optionen, sein Leben zu gestalten. Besonders Mädchen wurden in feste Rollenzuweisungen und sozial vorgefertigte Muster gepresst, Ausbildungswege waren eingeschränkt auf wenige „typische Frauenberufe“. Auch für die familiären, sexuellen, individuellen Lebensstile blieb außerhalb der „Norm“ wenig Platz.

Identität basteln

Dagegen hat zunehmende Modernisierung der Gesellschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die individuellen und sozialen Lebens- und Handlungsoptionen ins Unermessliche gesteigert. Für das Individuum bedeutet diese gesellschaftliche Entwicklung eine enorme Steigerung der Möglichkeiten, seinen eigenen Lebensentwurf zu realisieren. Menschen heute können zwischen Hunderten oder Tausenden von Optionen wählen, wie sie ihre berufliche, soziale, familiäre Existenz „zusammenbasteln“. Das bedeutet enorme Freiheiten. Auf der anderen Seite erhöhten die immer stärkere Diversifizierung in den Bereichen Ökonomie, Beruf, Recht, Bildung, Freizeit, Medien etc. die Komplexität und Unübersichtlichkeit der die Individuen umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Bei nicht wenigen rufen diese Prozesse Ängste, Unsicherheiten und Ohnmachtsgefühle hervor. Man sieht sich ausgeliefert, ohne die Möglichkeit zu haben, auf die komplexen Verhältnisse Einfluss nehmen zu können.

„Was immer man tut, das Spiel geht weiter.“ (Günter Anders) – ein Wort, das man auf die Situation des Individuums in der flüchtigen, unüberschaubaren Gesellschaft übertragen kann. Menschen erleben, dass sie durch ihre Handlungen nur marginal auf das allgemeine Geschehen, nicht einmal auf ihre eigenen Lebensumstände (z.B. bei Verlust des Arbeitsplatzes durch Konkurs der Firma) Einfluss nehmen können. Zurück bleiben Frustration und Verlust der Fähigkeit, einen umgreifenden Sinn im Leben zu finden.

Globalisierung

Die Komplexität der Gesellschaft wird durch die zunehmende Internationalisierung, Globalisierung und Migration angeheizt. Die Strukturen internationaler Firmen und Banken sind kaum mehr überschaubar. Vorgänge in Asien beeinflussen das Leben hierzulande. Um nur ein eindrückliches Beispiel zu nennen: Die explosionsartige Ausweitung solarer Technologie in China hat durch den globalen Handel binnen weniger Jahre die aufstrebende Solarindustrie in Deutschland, in die noch vor kurzem nicht nur Politiker, Firmenchefs und Städte sondern auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Hoffnungen gesetzt hatten, in den Konkurs getrieben. Familien, die plötzlich ihre Erwerbs- und Einkunftsquelle verloren hatten, sehen sich zu Recht als Opfer des globalisierten Marktes. Ferner hat die Öffnung des europäischen Binnenmarkts und der Wegfall von Grenzen erhebliche Wanderungsbewegungen ausgelöst, insbesondere von Ost nach West und inzwischen verstärkt wieder von Süd nach Nord. Menschen unterschiedlichster Herkünfte leben im unmittelbaren Umfeld. In Mitteleuropa haben ca. 25 % der Menschen einen sog. „Migrationshintergrund“. Vielfalt ist selbstverständlich geworden – in der Kindergartengruppe, der Schulklasse, am Arbeitsplatz, im Freizeitangebot etc.

Pluralisierung

Diese Art von Pluralität kann einerseits als Bereicherung empfunden werden, andererseits wird sie als Bedrohung wahrgenommen. Man fürchtet den Verlust des Eigenen und Vertrauten. Die Zunahme an fremdenfeindlichem, rassistischem, rechtsradikalem Denken entspringt oft dieser Verlustangst, die sich mit Ressentiments gegen Fremde und Fremdes paart.

Eine weitere Ambivalenz der Pluralisierung liegt im Prozess der Nivellierung von Unterschieden. Differenzen werden nicht mehr als positive Vielfalt, sondern als störend empfunden: Kulturelle Eigenheiten werden in der riesigen Maschinerie der Ökonomisierung aller Lebensbereiche plattgeschliffen, die Profile gehen in der Einheitswelt von Supermärkten, Modestandards und Schnellimbissketten immer mehr zugrunde. Die Gefahr des Relativismus macht sich breit: Alles ist möglich, „anything goes!“ (Paul Feyerabend). „Egal wie du lebst, was du denkst, glaubst, hoffst – alles ist okay, alles ist egal.“ Verlässlichkeit und Wahrheit scheint es nicht mehr insgesamt zu geben, sondern nur noch in kleinen Teilchen, die gleich-gültig nebeneinander stehen.

Einführung in die religiöse Erwachsenenbildung

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