Читать книгу Einführung in die religiöse Erwachsenenbildung - Reinhold Boschki - Страница 26
1.3 Veränderung der Lebenswelt ERWACHSENE IDENTITÄT?
ОглавлениеLebenswelt als Konstruktion
Dieses Kapitel fragt nach der konkreten Lebenswelt Erwachsener, um sie im Blick auf Bildungsvorgänge genauer auszuleuchten. Der Begriff der „Lebenswelt“ ist nicht mit dem der „Alltagswelt“ identisch. Wie oben bereits angedeutet, entspricht die Alltagswelt eher den objektiv vorfindbaren Gegebenheiten, die (z.B. aus soziologischer oder sozialpsychologischer Perspektive) von außen beschrieben werden können. Der Lebensweltbegriff entstammt der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurde von der phänomenologisch orientierten Sozialwissenschaft, insbesondere von Alfred Schütz, zur Erforschung des Verhaltens von Individuen und Gruppen in gesellschaftlichen Kontexten adaptiert (Srubar/Vaitkus 2003; Schütz 1960 [1932]). „Lebenswelt“ ist die subjektive Deutung der Alltagswelt, der je individuelle Zugang zu Welt und Wirklichkeit. Menschen gleicher oder ähnlicher Alltagswelt (Familienmitglieder, Nachbarn, die in ähnlichen Verhältnissen leben) können eine höchst unterschiedliche Deutung und Sichtweise der sie umgebenden Welt vornehmen, was völlig verschiedene Lebenseinstellungen und damit eben verschiedene „Lebenswelten“ zur Folge hat. Sie „konstruieren“ ihre Realität in sehr divergenter Weise und gestalten ihr Leben von daher auch sehr verschieden. Hier ist bereits die konstruktivistische Sichtweise erwachsener Lern- und Bildungsvorgänge zugrunde gelegt, die in der Theorie der allgemeinen Erwachsenenbildung derzeit eine wichtige Position darstellt (Rolf Arnold, Kersten Reich, Horst Siebert u.a.; s. unten 2.1). Denn Realität ist nicht einfach objektiv gegeben, sondern wird von den Individuen aufgrund ihres vorhandenen Wissens und ihrer Vorerfahrungen je individuell konstruiert.
Wenn wir im Folgenden also von Lebenswelt der Menschen sprechen, meinen wir dieses sozialwissenschaftliche Lebensweltverständnis. Die Lebenswelt Erwachsener hängt eng zusammen mit ihrem Selbstkonzept, ihrer Identität. Das klassische Verständnis von Identität war (und ist bis heute implizit noch vorhanden), dass Identität vor allem im Jugendalter ausgebildet wird, in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter noch „nachreift“, dann aber fix und fertig ist und als solche mit durchs weitere Leben getragen wird. Hier wird Identität nur im frühen Entwicklungsalter als dynamische Größe verstanden (Fend 2005), kaum jedoch für das Selbstkonzept Erwachsener. Doch bereits der große Identitätsforscher Erik Erikson hatte seit den 1930er Jahren aufgrund empirischer Untersuchungen erkannt, dass das ganze Leben einen Entwicklungsprozess darstellt, bei dem sich die Identität der Menschen im Durchlaufen und Bestehen von Lebenskrisen immer weiter entfaltet (Erikson 2003 [1966]; kritisch zu Erikson u.a. Jungwirth 2007). Auch wenn das Schema der „Entwicklungsstufen“, das Erikson entwarf, heute als überholt gelten kann, war und ist die grundlegende Einsicht in die lebenslange Entwicklung von Identität ein Impulsgeber für Lebenslaufforschung (Überblick: Fuchs-Heinritz 2009).
Lebenswelt Erwachsener
Die Frage, ob es eine „erwachsene Identität“ gibt, ist nur im Plural zu beantworten. Erwachsene Identitäten sind vielfältig, vielseitig und höchst dynamisch (Mietzel 2012; Oerter/Montada 2008, S. 333–410). Sie sind – wie im Jugendalter – nicht statisch festgelegt, allerdings stärker mit der gesamten Person des Menschen, seiner Lebensgeschichte und seinen Handlungsweisen verbunden. Deshalb wird umgangssprachlich, aber auch in der entwicklungspsychologischen Forschung, oft von „Persönlichkeit“ gesprochen, wenn man die Identität eines Menschen meint. In beiden Fällen ist das Selbstkonzept des Individuums gemeint, das sich jedoch immer in sozialen Zusammenhängen zeigt („soziale Identität“) und auch von den sozialen Gegebenheiten entscheidend geprägt wird (z.B. durch Beruf, familiären Status, politische Überzeugungen, sexuelle Orientierung etc.). Ein dynamisches Verständnis von Identität im Erwachsenenalter ermöglicht Bildungsvorgänge, die nicht nur kognitiv orientiert sind, sondern die gesamte Persönlichkeit bzw. Identität des Menschen umgreifen. Soziologisch und sozialpsychologisch gesehen sind die Identitäten (Jugendlicher ebenso wie Erwachsener) unter den Voraussetzungen der flüchtigen Gesellschaft nochmals besonderen Veränderungen ausgesetzt.