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FREIE RELIGIÖSE UND SPIRITUELLE SINNANGEBOTE: RELIGION OHNE GOTT?
ОглавлениеUnsere Zeit steckt in einem der größten Umwandlungsprozesse dessen, was traditionell mit Religion und Glaube bezeichnet wird, den die Geschichte des Christentums je erfahren hat. Aufgrund der gesellschaftlichen Transformation (s. oben 1.2), die ihre Spiegelungen in den Identitätskonstruktionen jedes einzelnen Menschen hat (1.3), ist auch die Gestalt des Religiösen einer radikalen Veränderung unterworfen. Transformation ist das Grundsignum der aktuellen religiösen Situation. Die Gesellschaft ist im Umbruch – und mit ihr befindet sich die Religion in einem dramatischen Wandel (hier und zum Folgenden: Höhn 2007).
religiöse und spirituelle Suche
Religion und religiöse Orientierungen zeigen sich heutzutage bekanntlich nicht mehr allein an bestimmte Institutionen und Organisationsformen gebunden, die ihre Existenz in Form von Bräuchen, Sitten, Doktrinen und Lehren absichern. Religion findet ihren Platz in ästhetischen, rituellen, symbolischen Ausdrucksweisen, die weit von dem entfernt sind, was Institutionen, insbesondere die Kirchen vorgeben. „Das Religiöse mischt sich unter das Profane.“ (ebd., S. 35) Es liefert Inhalte für Kinofilme, für Songs der aktuellen Musikszene und Anspielungen in Werbung, Videoclips, auf Plakatwänden. Das Religiöse ist ferner gefragt, wenn Menschen auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Sinnentdeckung sind, es schleicht sich unter Wellnessangebote und Psychohygienetrips. Religion hat insbesondere eine „biografieintegrative Funktion“ (ebd., S. 43), dann nämlich, wenn sie den Menschen hilft, ihr Leben durch religiöse oder spirituelle Elemente besser gestalten zu können. Sie unterstützt suchende Personen, ihre inneren Ressourcen zu entdecken und zu stärken, sie gilt als eine Quelle für nötige Energie, um beruflichen Erfolg und privates Glück zu erreichen. Religion im Zeitalter der Transformation ist in erster Linie ein Versprechen, das allerdings nicht in Gestalt eschatologischer Verheißung erscheint, sondern im Gewand eines Versprechens persönlicher, privater Erfüllung präsent ist.
Die überfülle religiöser Angebote im WorldWideWeb, die Angebote religiöser oder spiritueller Erfahrung, Esoterik und Meditation sind in erster Linie auf das individuelle Wohlergehen ausgerichtet. Religion wird subjektiviert, ästhetisiert und psychologisiert und taucht in Form von freien, also nicht institutionell gebundenen Sinnangeboten auf. Sie dient der Suche nach innerem Frieden in einer Welt, die durch äußere Zerrissenheit, durch Krisen und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet ist. Religion ist Teil der Wellnessgesellschaft geworden, deren oberstes Prinzip die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Kunden und Klienten darstellt. Doch genau dadurch schafft sie immer neue Bedürfnisse, da niemand im Status der Wellness verharren kann, sondern im Alltags-, Berufs- und Familienleben schnell in den gewohnten Stress zurückfällt, aus dem man spirituell-religiös heraustreten wollte.
Religiosität – also die subjektive Aneignung von Religion – ist in unserer Zeit höchst individualisiert (zur terminologischen Klärung der Begriffe Religion, Religiosität, Glaube und Spiritualität s.: Boschki 2011, S. 12f.; Angel et al. 2006). Viele Menschen, insbesondere die heranwachsende Generation und junge Erwachsene, stellen sich, wenn sie Bezug zur Welt des Religiösen aufbauen, ihre eigene religiöse Patchwork-Identität selbst zusammen, indem sie sich der verschiedensten Quellen bedienen, in neuerer Zeit immer mehr fernöstlicher Spiritualitätsformen. Diese individuelle Religiosität wird in erster Linie im Aktionsschema der Selbstthematisierung bearbeitet, z.B. in Form von Tagebüchern, einsamen Spaziergängen in der Natur, Rückzug an einen ruhigen Ort, persönlichen Meditationsecken. Solche Handlungen gelten für viele als religiöse Erfahrung, für manche sogar als Gebet. Dabei spielt der Gottesbegriff oder Gottesgedanke keine zentrale Rolle. Gott selbst wird heute oft als abstrakte Größe, als „Höhere Macht“ oder als „Energie“ bezeichnet. Ein persönliches Gottesverständnis ist selbst unter Getauften eminent rückläufig.
Religion ohne Gott
Aus diesem Grunde scheint die Analyse von Johann Baptist Metz zutreffend zu sein, wonach die religiöse Situation der Zeit als die eines religionsfreundlichen A-Theismus bezeichnet werden kann: „Wir leben in einer Art religionsförmiger Gotteskrise. Das Stichwort lautet: Religion, ja – Gott, nein, wobei dieses Nein wiederum nicht kategorisch gemeint ist im Sinne der großen Atheismen.“ (Metz 2006, S. 70) Metz spitzt seine kritische Analyse sogar noch zu: „Religion als Name für den Traum vom leidfreien Glück, als mythische Seelenverzauberung, als psychologisch-ästhetische Unschuldsvermutung für den Menschen: ja. Aber Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Jesu? Wie modernitätsverträglich ist die Rede vom biblischen Gott?“ (ebd., S. 71)
Theologisch gesehen ist Religion und Religiosität vieler Zeitgenossen weit entfernt von den jüdischen und christlichen Gottestraditionen, die das Abendland in ihrer inneren Dialektik prägten. Deren Grundkennzeichen war die liebende und fordernde Herrschaft eines persönlichen Gottes, der dem Menschen anspruchsvoll und ansprechbar vor allem als Beziehungspartner entgegen tritt. Der Medaille des Religionsbooms westlicher Gesellschaften entspricht auf deren Rückseite eine Gottesschwäche und Gottesvergessenheit angesichts des Gottes der biblischen Überlieferung.
Die Transformation des Religiösen in der Zeit der flüchtigen Moderne zeigt sich unter anderem in ihrer individualisierten, pluralisierten und privatisierten Gestalt, der eine Ferne zum Begriff und zur Wirklichkeit eines persönlichen Gottes innewohnt.
christlicher Glaube
Trotz dieses Befundes ist es wichtig, die Entwicklungen nicht vorschnell aus theologischer Perspektive negativ zu bewerten, denn die religiöse Gegenwartslage ist äußerst plural und heterogen. Religion, Religiosität, Glaube, Spiritualität können keineswegs mehr einheitlich gedeutet werden. Denn ohne Zweifel gibt es neben den aufgezeigten Tendenzen auch noch die kirchlich-christliche Repräsentanz von Religion und Glauben in unserer Gesellschaft, die Menschen in prägender Weise mit der biblischen Botschaft und dem Gott des Evangeliums vertraut macht. Kirchliche Repräsentanten, theologische Fakultäten an Universitäten, Religionsunterricht in konfessioneller Gestalt, Gegenwart und Lebendigkeit von Kirchengemeinden, Katechese, kirchliche Erwachsenenbildung und Predigt, neue christliche Gemeinschaften, das Phänomen Taizé, ein christlicher Buch- und Medienmarkt etc. stehen für eine christliche Kultur, die zwar nicht mehr Dominanzkultur, aber weiterhin eine kraftvolle Repräsentanzkultur darstellt. Religiosität ist nicht immer rein privatisierend und egozentrisch ausgerichtet, sondern zeitigt bisweilen äußerst verantwortungsvolle Ausdrucksformen, die den anderen Menschen, den Nächsten, insbesondere die Schwachen in der Gesellschaft in den Blick nehmen, ihnen auf diakonisch-karitative Weise zur Seite stehen. Religiosität und Solidarität können auch heute eine starke Einheit bilden, wie konkrete, religiös motivierte Handlungsformen (z.B. die Obdachlosenhilfe) zeigen.
Auch das Phänomen der Spiritualität kann nicht allein auf individuelle Wellness reduziert werden. Sie ist die Ausdrucksform einer inneren Haltung und zeigt sich in bestimmten Einstellungen (spirituelle Deutung von Welt und Wirklichkeit) sowie in konkreten Handlungen (z.B. Meditations- oder Gebetsformen). Auch sie tritt in vielfältigster Weise in Erscheinung, sie kann in traditioneller Art (kirchliche Spiritualität) oder in transformativer Gestalt (individualisierte Formen) gelebt werden. Sie kann in beiden Fällen ein Element echter Gottessuche darstellen, das nicht auf den individuellen Seelenfrieden verkürzt bleibt, sondern gemeinschaftsbildend, solidaritätsfördernd und identitätssichernd wirkt (Kunz/Kohli Reichenbach 2012; Metz 2011; Langer/Verburg 2007; Altmeyer et al. 2006).
Pluralitätsfähigkeit
Die Transformation des Religiösen darf Theologie und Kirche nicht zu Rückzugstendenzen, zur Abwertung der religiösen Phänomene als „Pseudoreligion“ und schon gar nicht zur Überheblichkeit verleiten. Denn die neuen religiösen Formen können nicht einfach als Randphänomene deklariert werden, sondern sind längst gleichberechtigte Partner im Dialog der Religionen geworden. Ihre Ausdrucksgestalt ist nicht „defizitär“, sondern schlicht und ergreifend „anders“ als die christliche Überlieferung vorgibt. In ihrer Andersheit sind spirituelle und neue religiöse Formen in der pluralen Gesellschaft theologisch ernst zu nehmen. Nur so kann sich Theologie – und mit ihr praktische Theologie und Religionspädagogik – als pluralitätsfähig erweisen (Englert et al. 2012).
Neue Formen des Religiösen, aber auch des Atheismus und der religiösen Gleichgültigkeit müssen für Christen und Kirchen als „notwendige Provokation“ (Hoff 2009) gelten, um die eigene, christliche Gottesrede zu schärfen, ihre Verniedlichung und Verharmlosung zurückzunehmen und ihre Radikalität viel deutlicher in den Diskurs und als Zeugnis in praktische Lebenskontexte einzubringen. „Die Atheisten und noch mehr die religiös Indifferenten machen uns auf die Unerfahrbarkeit, Unbegreiflichkeit und Nichtinstrumentalisierbarkeit Gottes aufmerksam und problematisieren damit die oft unvorsichtige Rede von ‚religiösen Bedürfnissen‘ und ‚Gotteserfahrungen‘.“ (Tiefensee 2009, S. 46)