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PATCHWORK DER IDENTITÄTEN – AUCH IM ERWACHSENENALTER

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Zeit als Punkt

Wie in der soziologischen Analyse oben aufgezeigt, haben sich Zeit und Zeitgefühl der Menschen in der flüchtigen Moderne grundlegend verändert. Die Zeit ist nicht länger ein Kontinuum, das sich als verlässliche Konstante durch die Lebensgeschichte zieht, sondern wird als eine Abfolge von Episoden wahrgenommen. Diese Neuordnung der Zeit nennt Zygmunt Bauman „Pointillisierung“ (Bauman 2008, S. 180ff.). Die Zeit wird auf den Punkt gebracht, das Spiel soll möglichst kurz gehalten werden, nichts soll Dauer bekommen. Die flüchtige Moderne ist auf den Zeit-Punkt ausgerichtet, der, wie jeder Punkt, eine Nulldimensionalität und keine räumliche Ausdehnung besitzt. Kennzeichen ist somit ein pointillistisches Leben, eine Verwandlung der kontinuierlichen Zeit in eine Anhäufung einzelner pulverisierter Punkte. Die Folge: „In der pointillistischen Zeit der Flüchtigen Moderne ist die Ewigkeit kein Wert und kein Objekt der Begierde mehr, denn das, was ihren Wert ausmachte, wurde gleichsam herausgeschält und dem Augenblick implantiert.“ (ebd., S. 185) Es kommt zur „Tyrannei des Augenblicks“, dessen Grundmerkmal seine Kurzlebigkeit darstellt.

Auch die menschliche Identität durchläuft den Prozess der „Pointillisierung“. Während in früherer Zeit Identität als ein lebenslanges Projekt galt, ist sie vor dem Hintergrund zeitanalytischer Betrachtung nur ein Attribut des Augenblicks, die heute dies und morgen ein anderes sein kann. Identität in der medien- und konsumorientierten Wirklichkeit ist eine „flüchtige Identität“ (ebd., S. 186) geworden. Extrem formuliert ist sie keine Lebenslinie mehr, sondern eine Ansammlung von Punkten ohne inneren Zusammenhang.

Menschen unserer Gegenwart sind nicht mehr eingebettet in ein festes System, das ihnen auf Dauer Sicherheit und Halt gewährt, sondern sind „entbettet“ („disembedding“), herausgelöst aus geborgenen Zusammenhängen, die ein behagliches Gefühl von Nestwärme vermitteln. Die flüchtige Moderne lässt keine Chance mehr zur „Wiedereinbettung“. Die Möglichkeiten, sich neu zu betten, zerbröseln, bevor man es sich bequem gemacht hat. In der Flüchtigkeit der Zeit herrscht „Bettenknappheit“ (Bauman 2003, S. 45).

Im Anschluss an solche gesellschaftsanalytischen Überlegungen kann die postmoderne Lebenssituation des Menschen auch sozialempirisch erfasst werden. Der Sozialwissenschaftler und Identitätsforscher Heiner Keupp beschreibt die Identitätskonstruktion der Subjekte in der „Spätmoderne“ aufgrund seiner empirischen Studien folgendermaßen (Keupp 2008, S. 46ff.):

Identitätskonstruktionen heute

1. Die Subjekte heutzutage fühlen sich „entbettet“; Keupp spricht von „ontologischer Bodenlosigkeit“, da der stabile kulturelle Rahmen verlässlicher Traditionen verloren gegangen ist.

2. Es kommt zur Entgrenzung individueller und kollektiver Lebensmuster, was bedeutet, dass die „Schnittmuster“, nach denen Menschen in früheren Zeiten ihre Biografien entworfen haben, ihre Prägekraft verloren haben.

3. Die Erwerbsarbeit, früher eine wesentliche Basis von Identität, wird brüchig, da sie von häufigem Wechsel, ständiger Aufgabenverlagerung und permanenter Instabilität gekennzeichnet ist.

4.Die wachsende Komplexität der Lebensverhältnisse führt zu einer Fragmentierung von Erfahrungen, die kein Gesamtbild mehr ergeben. Wir leben, so Keupp, nicht nur in einer schizophrenen, sondern „multiphrenen Situation“, die von absoluter Heterogenität gekennzeichnet ist.

5. Die „virtuellen Welten“ und „virtuellen Gemeinschaften“ sind unsere neuen Realitäten, doch sind die digitalen Netzwerke ohne Vorgeschichte, ohne Tradition und ebenso flüchtig, wie die soziale Identität, die sie suggerieren.

6. Das Zeitgefühl erfährt eine immense „Gegenwartsschrumpfung“ (Hermann Lübbe), denn die subjektiven Bezüge zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verändern sich dramatisch. Die Halbwertszeiten kultureller Güter verringern sich täglich, die Bedeutung der Vergangenheit für das Heute geht verloren, Gegenwart und Zukunft haben keine Fixpunkte mehr.

7. Die Pluralisierung von Lebensformen, Hauptkennzeichen der „Postmoderne“, kann man mit Peter L. Berger auch als „explosiven Pluralismus“ bezeichnen, da sich die Möglichkeiten der Art und Weise zu leben binnen einer Generation sprungartig vervielfältigt haben.

8. Die dramatische Veränderung der Geschlechterrollen bringt alte Selbstverständlichkeiten sowie vermeintliche private und gesellschaftliche Stabilisatoren ins Wanken.

9. Die voranschreitende Individualisierung verändert das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst und zur Gemeinschaft, er muss sich selbst entwerfen, seine Biografie selbst zusammenstellen, was Freisetzung bedeutet, gleichzeitig aber Ängste und Unsicherheiten nährt.

10. „Der Verlust des Glaubens an ‚Meta-Erzählungen‘ erzeugt den individualisierten Sinn-Bastler.“ (Keupp 2008, S. 52) Die Großerzählungen des christlichen Abendlands waren Deutungssysteme, mit deren Hilfe der Mensch Sinn von Sinnlosigkeit unterscheiden und Kontingenz bewältigen konnte. Doch die sinnstiftenden Institutionen sind nicht mehr selbstverständlich gegeben, sie haben ihre Dominanz und Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Identitätskonstruktion Erwachsener in der „Spätmoderne“ oder „flüchtigen Moderne“ ist vor dem Hintergrund dieser Analyse ungleich schwieriger geworden. Sie kann auch keineswegs mehr pauschal gebucht werden, so dass sie auf Dauer in Besitz genommen werden könnte, sondern stellt eine Anstrengung dar, die ein Leben lang immer wieder neu unternommen werden muss. Identitätsbildung wird mehr denn je zur never ending story. Eine „biografische Dauerrevision“ (Rosa 2012, S. 354) ist erforderlich, quasi ein Dauerworkshop einer stets neu zu bestimmenden „situativen Identität“ (ebd.).

Identität kann längst nicht mehr durch Übernahme kultureller Muster quasi im Vorbeigehen, im Durchgehen durch bestimmte kulturelle Schemata erfolgen, sondern muss immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Wir sind Pilger im säkularen Sinn geworden, „Flaneure, Spieler und Touristen“ (Bauman 2007), die ihre Identität nicht mehr statisch, sondern höchst dynamisch zusammenbasteln müssen: „Wenn das moderne ‚Problem der Identität‘ darin bestand, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, dann besteht das postmoderne ‚Problem der Identität‘ hauptsächlich darin, die Festlegungen zu vermeiden und sich die Optionen offen zu halten.“ (ebd., S. 133)

Brüchigkeiten

„Das flexible Ich“ wurde gleichzeitig zur Beschreibung eines Phänomens wie zum Ideal der spätmodernen Lebensform. Identität ist nunmehr „eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt“ (Sennett 2010, S. 182), eine „fragmentierte Identität“ (der Titel der engl. Originalausgabe von Bauman 2007 lautet: „Life in fragments“). Die gesellschaftliche Transformation bewirkt, dass wir uns immer mehr mit der möglichen Konstruktion unserer Identität beschäftigen müssen, da sie nicht mehr selbstverständlich gegeben ist. Und je mehr wir uns mit ihr beschäftigen, desto mehr scheint sie uns durch die Finger zu gleiten. Die Lebensgeschichte entspricht keiner zusammenhängenden Lebenslinie mehr.

Konsequenz: Soziale Beziehungen gehen mehr und mehr verloren, denn gerade sie sind auf Dauer und Konstanz angewiesen. Wer ständig umziehen muss, um seine Erwerbstätigkeit zu sichern, wer seine Identität den Erfordernissen des Alltags immer neu anpassen muss, sieht sich gezwungen, „die emotionalen Bindungskräfte wie Zuneigung, Zärtlichkeit, Vertrauen, Sehnsucht, Erinnern, Vermissen durch die Pflege von Kontakten“ zu ersetzen (Funk 2011, S. 118). Bindungsscheue Kontaktpflege statt Beziehungspflege. Entbundene, unverbindliche Sozialkontakte statt verlässlicher Bindung. Noch ist es nicht so weit, aber aufgrund soziologischer Analysen kann man die Brüchigkeit und Fragmentierung verlässlicher Beziehungen und sozialer Gemeinschaften heraufdämmern sehen oder zumindest eine solche Diagnose als Warnschild aufstellen.

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