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1.3 Ist Vererbung alles?

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»Erkenne dich selbst!« Dieses Motto im griechischen Altertum brannte den Menschen damals und brennt ihnen bis heute auf den Nägeln. Menschen wollen sich und ihrem rätselhaften Wesen auf die Spur kommen. Hat Gott jede noch so winzige Eigenart bei uns geplant?

Hat er in Ei und Samenzelle alle Charaktereigenarten hineingelegt?

Hat der Schöpfer Schwächen und Stärken, positive und negative Verhaltensmuster erblich vorherbestimmt? Viele solcher Fragen stellen wir uns.

Die Erbanlage-Theorie geht davon aus, dass moralische Einstellungen, spezifische Begabungen, die Art und Höhe des Intelligenzquotienten seit der Zeugung festliegen und durch äußere Einflüsse nur wenig beeinflusst oder korrigiert werden können.

Zweifellos spielen die Vererbungsgesetze eine große Rolle. Jeder Mensch ist mit bestimmten Fähigkeiten, Neigungen und Schwächen geboren worden. Aber während die Tiere weitgehend von einer »natürlichen Veranlagung« (Instinkt) beherrscht werden, hat der Mensch Möglichkeiten, Konsequenzen aus seiner Erbanlage zu ziehen. Dies ist für uns von großer Bedeutung.

Der Mensch kann eine Erbanlage benutzen,

 er kann mit ihr das Leben gestalten,

 er kann die Anlage verkümmern lassen,

 er kann sie aber auch entfalten.

Das liegt in seinem Ermessen.

Prof. R. Dreikurs machte die bezeichnende Aussage: »Daher ist es klar, dass es für die endgültige Gestaltung der Persönlichkeit nicht entscheidend ist, was einer mitbringt, sondern was er daraus macht.«2

Ohne Zweifel ist es so, dass die Chromosomen, die Träger des Erbguts, das Erscheinungsbild der nächsten Generation prägen können. Aber nicht die Eigenschaften und Merkmale selbst werden vererbt, sondern lediglich die Fähigkeiten bzw. Voraussetzungen, diese Merkmale und Eigenschaften wieder zu entwickeln. Das heißt:

 Der Mensch gibt Antwort,

 der Mensch nimmt Stellung,

 der Mensch zieht Konsequenzen,

 der Mensch bearbeitet kreativ seine biologischen Voraussetzungen.

So sieht es auch der österreichische Arzt und Tiefenpsychologe Alfred Adler: »Nicht die Tatsachen bestimmen unser Leben, sondern wie wir sie deuten.«

Wir hingegen sagen gern:

 »Das ist ein geborener Betrüger.«

 »Das ist eine geborene Prostituierte.«

 »Der ist ein geborener Fußballer.«

 »Der ist ein geborener Künstler.«

Wir sind davon überzeugt, das Kind sei wie der Vater:

 sein Ehrgeiz,

 seine Art zu sprechen,

 seine Art, sich zu geben,

 seine Durchsetzungskraft,

 seine Intelligenz.

Oder wir glauben vom Kind, dass es wie die Mutter sei,

 so korpulent,

 so nervös,

 so fürsorglich,

 so ängstlich,

 so fröhlich,

 so dominant usw.

Wir pflichten dem Sprichwort bei: »Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen«, und merken gar nicht, dass uns mit dem Bejahen dieser Aussage in der Erziehung unserer Kinder die Hände gebunden sind.

Die gerade genannte Volksweisheit hat jedoch wenig mit Vererbung zu tun. Die Jungen haben von den Alten gelernt, die Kinder haben von Eltern ihre Verhaltensmuster abgeschaut. Die Vererbung wird für Einstellungseigenarten verantwortlich gemacht, die wir nachgemacht, entdeckt, erfahren und neu entwickelt haben. Was trauen wir unseren Kindern überhaupt zu? Glauben wir, dass sie selbst etwas zu Stande bringen werden? Oder denken wir, ihr Lebensweg sei durch die Vererbung schon vorherbestimmt?

Wenn wir einem Menschen seine Begabung absprechen, wenn wir ihm alle Hoffnung nehmen, dass er eigenverantwortlich etwas zu Stande bringt, werden wir auf diese Weise

 sein Selbstvertrauen erschüttern,

 seinen Lebensmut untergraben,

 seine Leistungsfähigkeit blockieren und

 seine Gaben, die Gott ihm geschenkt hat, verschütten.

Während meiner Zeit als Generalsekretär des CVJM in Hamburg betreute ich lange Zeit einen Strafgefangenen, der fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Einmal erzählte er mir, dass sein pessimistischer Vater ihn fortlaufend als »hoffnungslosen Fall« bezeichnet habe, ihm nichts zugetraut und ihm ständig seine ordentliche, begabte und tüchtige Schwester als Vorbild vor Augen gestellt habe. Wie oft habe er sich den Satz anhören müssen: »Du bist nichts, du wirst nichts, du landest noch mal im Knast.« Die Psychologen sprechen hier von der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. – Dieser Sohn landete tatsächlich im Gefängnis. Als ich einmal mit dem Vater telefonierte, um eine Auskunft zu erhalten, sagte er zu mir: »Bei dem vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Als Baby haben wir dem schon seinen schlechten Charakter angesehen.«

Wir sehen:

 Eine pessimistische Haltung,

 eine ungläubige Einstellung,

 eine negative Erwartung und damit eine entmutigende Erziehung

fördern Persönlichkeitsstrukturen, die dem Leben misstrauisch und destruktiv begegnen.

Auch Fritz Riemann, dem wir eine Zusammenfassung der vier Persönlichkeitsstrukturen aus tiefenpsychologischer Sicht verdanken, nimmt unmissverständlich Stellung, wenn er schreibt:

»Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge. Was daran schicksalhaft ist – die mitgebrachte psychophysische Anlage, die Umwelt unserer Kindheit mit den Persönlichkeiten unserer Eltern und Erzieher sowie die Gesellschaft mit ihren Spielregeln, in die wir hineingeboren werden –, ist in gewissen Grenzen durchaus selbst zu gestalten, kann verändert werden, ist jedenfalls nicht nur ein Hinzunehmendes.«3

Typen und Temperamente

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