Читать книгу Träume - Spiegel der Seele, Krankheiten - Signale der Seele - Reinhold Ruthe - Страница 38
Lebensstil und Traum
ОглавлениеDer Begriff des Lebensstils spielt in der therapeutischen Seelsorge eine große Rolle. Es ist eine der großen Entdeckungen Adlers, der damit den komplizierten Menschen besser verstehen will. Adler nannte seine Psychologie – im Gegensatz zu Freud – Individualpsychologie (Individuum heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung das unteilbare Ganze).
Adler will den Menschen nicht zerteilen, sondern ihn in seiner unteilbaren Ganzheit verstehen. Der Lebensstil bedeutet für ihn:
die Lebens-Grundüberzeugungen, die ein Mensch in sich hat;
das Denkschema, mit dem der Mensch seine unbewussten Ziele ansteuert; – die Meinungen, die er über die anderen hat;
die Vorstellungen, die er von Gott, dem christlichen Glauben und dem Sinn des Lebens hat;
die private Logik, die er sich über Liebe, Arbeit, Freizeit, Genuss, Aktivität, Ehrgeiz usw. gebildet hat;
die subjektive Wahrnehmung, in der er Welt, Dinge und Menschen beurteilt;
das Bewegungsgesetz eines Menschen, das ihn zwanghaft oder mutig, pessimistisch oder optimistisch, aktiv oder passiv, entscheidungsstark oder entscheidungsschwach an die Aufgaben des Lebens herangehen lässt;
die Gangart eines Menschen, die ihn langsam oder schnell, kreativ oder einfallslos, plump oder elegant, vorurteilslos oder voreingenommen alles im Leben in Angriff nehmen lässt;
ein Programm, das sich dieser Mensch geschaffen hat, um allen Anforderungen gewachsen zu sein;
die Summe von Erfahrungen, die der Mensch schon als Kind gemacht und in sein Lebensprogramm eingebaut hat;
die schöpferische Antwort, den Herausforderungen des Lebens auf konstruktive oder neurotische Art und Weise zu begegnen; alle Umgangs- und Verhaltensmuster, mit denen er aggressiv, charmant, betrügerisch, nachgiebig, kämpferisch, abwertend oder fürsorglich die Lebensaufgaben anpackt.
Der Lebensstil ist also die Summe aller Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die ein Mensch einsetzt, um den Ansprüchen des Lebens gewachsen zu sein. Der Lebensstil ist die Schablone, die der junge oder erwachsene Mensch über alle Situationen, Gegebenheiten und Ereignisse stülpt. Im Lebensstil kommt der ganze Mensch mit allen seinen Sonnen- und Schattenseiten ungeschminkt zur Sprache. Der Lebensstil ist ein getreues Spiegelbild dieser einmaligen Persönlichkeit.
Aufgabe der therapeutischen Seelsorge ist es, diesen Lebensstil mit dem Ratsuchenden herauszuarbeiten. Je klarer der Lebensstil definiert ist, desto besser kann dem Ratsuchenden geholfen werden:
seine Mängel zu erkennen,
seine Probleme zu verstehen,
seine Beziehungsstörungen einzuordnen,
seine Glaubensschwierigkeiten wahrzunehmen,
Lösungen für Konflikte anzustreben.
Der Traum ist eine Möglichkeit, den Lebensstil eines Menschen zu verstehen. Denn im Traum kommen die Muster und Lebens-Grundüberzeugungen zur Sprache, die für sein Denken, Fühlen und Handeln kennzeichnend sind.
An einem Beispiel möchten wir deutlich machen, wie der Traum den Lebensstil enthüllt. Den Traum erzählte eine achtunddreißigjährige Frau, die die Beratung aufsuchte. Zunächst beschrieb sie ihr Problem:
»Ich bin verheiratet und habe Schwierigkeiten mit meinem Mann. Immer bin ich unzufrieden. Bei den kleinsten Dingen, die nicht nach meinen Vorstellungen verlaufen, reagiere ich mit Kritik. Ich habe das Gefühl, dass ich es richtig mache, und er macht vieles falsch. Meine Unzufriedenheit ist so stark, dass ich mit der Kritik nicht aufhören kann. Ich werde unwahrscheinlich aggressiv. Als ich heiratete, wusste ich, dass ich einen großen Fehler machte, aber ich wollte den Mann nicht enttäuschen.«
Mein Traum war so:
»Ich gehe zu einem Mann in die Seelsorge. Er hat lange, schlohweiße Haare. Der Bischof hat mir den Mann empfohlen. Auf dem Weg dorthin werden meine Schritte langsamer. Ich spüre, wie ich selbst mit mir rede. ›Warum gehst du langsamer?‹ Und ich höre mich sagen: ›Er wird das Gespräch nicht bringen, was du dir vorstellst!‹ Als ich die Tür öffne, kommt mir ein Gesicht entgegen, das ich langweilig finde. Ich spüre keine Überzeugung, dass er mir helfen kann. Was er sagt, ist oberflächlich. Ich spüre, dass in mir Zorn hochkommt. Plötzlich fallen ihm seine Aufzeichnungen aus der Hand. Auf der Erde liegt alles durcheinander. Er findet nichts wieder. Da wache ich auf.«
Der Lebensstil erschließt sich durch fünf Fragen:
a) Wie sieht die Ratsuchende sich selbst?
Unzufrieden, pessimistisch,
selbstkritisch, besserwisserisch,
überheblich, fehlerorientiert.
b) Wie sieht die Ratsuchende die anderen? Wie sehen die anderen die Ratsuchende?
Die anderen genügen nicht,
sie machen alles falsch,
sie sind schuld,
besonders Männer sind enttäuschend,
sie erfüllen nicht ihre Erwartungen,
die anderen werden entwertet,
die Ratsuchende wirkt in den Augen der anderen unangenehm,
handelt in den Augen der anderen lieblos und unpartnerschaftlich,
wird als arrogant und kritiksüchtig erlebt.
c) Wie fühlt sich die Ratsuchende in der Welt? Wie ist ihre Glaubenserziehung?
Sie lebt unglücklich in dieser Welt,
das Leben bleibt ihr vieles schuldig,
sie findet, Gott ist ungerecht,
der Glaube ist eher eine Last und keine Freude,
sie fühlt sich auch von Gott oft im Stich gelassen.
d) Welche Ziele verfolgt die Ratsuchende?
Sie muss überlegen sein,
sie handelt richtig,
nur durch Überlegenheit meistert sie das Leben,
sie weiß alles und weiß alles besser,
durch ständige Entwertung anderer steigert sie ihre eigene, allumfassende Macht,
selbst die Ratschläge eines namhaften geistlichen Führers, eines Bischofs, sind irrig.
e) Mit welchen Mitteln und Methoden verfolgt die Ratsuchende ihre Ziele?
Mit unbarmherziger Kritik,
Aggressionen,
Entwertungen,
unmenschlicher Überheblichkeit,
Besserwisserei,
Selbstgerechtigkeit (»Ich mache alles richtig!«),
Verachtung von Menschen, besonders der Männer.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das geschilderte Eheproblem und der Traum sind in den Aussagen so deckungsgleich, dass die Leitmotive des Lebensstils in beiden Äußerungsformen klar ersichtlich sind. Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen kommen so eindrücklich zur Sprache, dass es der Seelsorger leicht hat, den roten Faden im Auge zu behalten.
Die verschiedenen Aspekte des Lebensstils sollen allerdings nicht vom Seelsorger gedeutet werden. Der Seelsorger hat die Aufgabe, die Selbstaussagen, die im Problem und im Traum offenbar werden, mit der Ratsuchenden ins Licht zu heben. Sieht sich die Ratsuchende im Spiegel seiner Stellungnahmen, kann die Selbsterkenntnis so hilfreich sein, dass mit Gottes Hilfe eine Korrektur des alten Lebensstils gelingt.