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Die Volksfrömmigkeit – Kostbarkeit oder Gefahr?

INNSBRUCK (1989)

Wenn man in Tirol beginnt, über die konkrete Kirche des Landes im Gebirge nachzudenken, über ihre Schätze und Chancen, über ihre Risiken und Gefahren, kommt man an diesem Thema nicht vorbei. Auch im Jahre 1989, in dem wir unser 25-jähriges Diözesanjubiläum begehen, begegnet es mir überall, in allen Kreisen, an allen Orten, im Blumenschmuck am Wegkreuz und in den liebevoll renovierten Kreuzwegstationen, im erst neu entstandenen Martinsumzug der Kinder wie in der uralten Gebetswache vor dem Heiligen Grab, in den naiven Votivtafeln am Wallfahrtsort und in den Körben für die Kräuterweihe am 15. August …

Was ist eigentlich die „Volksfrömmigkeit“? Das ist gar nicht so leicht und präzise zu beantworten, auch wenn wir ungefähr wissen, was gemeint ist. Sie ist eine Symbiose von Gläubigkeit und Brauchtum, sie ist eine Erweiterung der großen Liturgie der Kirche und des Erlösungsmysteriums hinein ins Leben, in den Alltag der Menschen, in Geste und Farbe, in Bild und Symbol, in Formel und Brauch. Wenn ich die große, tragende Liturgie der Kirche mit einem herrlichen Park vergleichen wollte, in dem alle Wege dem einen Tempel des großen Geheimnisses in der Mitte zustreben, in gemessener, gewachsener und hie und da (manchmal fast zu sehr) geregelter Schönheit, dann ist die Volksfrömmigkeit ein Bauerngarten, wo Suppengemüse, Gewürzkräuter und Herbstblumen ein etwas chaotisches, aber herzhaftes Ensemble bilden, das Duft und Farbe ausströmt, aber auch eine geheime Neigung zur Verwilderung hat.

Ich glaube, dass es Volksfrömmigkeit immer wieder geben muss. Auch zur Zeit Jesu war sie da, und der Herr scheint sie in vielem toleriert zu haben. Einmal muss sie im christlichen Leben wohl deshalb da sein, weil es weite Räume des Lebens gibt, die nun die zentrale christliche Liturgie (die heilige Messe, der Wortgottesdienst und die Karwochenliturgie) nicht ohne weiteres mit sichtbaren Zeichen des Heils erfüllt. Wobei man allerdings gleich bemerken muss, dass immer dann, wenn die Liturgie der Kirche sich entfremdet und nicht mehr verstanden wird, die Volksfrömmigkeit zu wuchern beginnt. Dieses Phänomen hat z. B. die Zeit vor der Reformation gekennzeichnet.

Ich glaube aber auch, dass die Volksfrömmigkeit manchmal so etwas wie ein gewisses Korrektiv sein kann, das das Gemüt in der Kirche gegen eine Überintellektualisierung, Überreflexion und Überproblematisierung anmeldet. Von daher ist es verständlich, dass im Schatten der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Volksfrömmigkeit wiederum ins Kraut schoss, aber zum Teil eben als durchaus berechtigtes Anliegen des verachteten Gemüts. Beide Entwicklungen, die vor der Reformation und die in der kühlen Luft der Aufklärung, sollten uns bis zum heutigen Tage zu denken geben. Denn es gibt sie immer wieder, die Entfremdung vom Zentralen des Christentums und die Vernachlässigung des Gemüts. Und es wäre immer zu wünschen, dass die große Theologie und die große Liturgie und die Volksfrömmigkeit aufeinander zugehen, und dass die Letztere nicht der Ersatz der Ersteren wird.

So haben also viele Formen der Volksfrömmigkeit durchaus ihre Berechtigung, und zwar nicht nur im Sinne einer rückwärtsgewandten Brauchtumspflege. Sie schafft so etwas wie gläubige Kultur, mit den Kapellen und Kreuzwegstationen, den Bildern an den Häusern und dem Bittgang über die Flur, in den Segnungen von Fahrzeug und Vieh, Wohnung und Schule, in den Zügen der Beter zu den heiligen Orten, im Andenken, das man mit nach Hause nimmt, mit dem Kreuzlein, das man dem Kind um den Hals hängt. Auch in unserer so nüchternen Zeit ist Volksfrömmigkeit entstanden. Ich erinnere nur daran, dass in meiner Kindheit am Heiligen Abend die Friedhöfe alle im tiefsten Dunkel lagen. Nach dem Krieg begann man, Kerzen für die Gefallenen in die Fenster zu stellen, dann wanderten die Lichter auf die Gräber, und heute ist der Friedhof ein einziges großes Lichtermeer, und wenn man bedenkt, dass die Kirche in der zweiten Weihnachtsmesse das Thema „Lux et Origo“ feiert, Licht und Ursprung der Welt, dann hat diese Volksfrömmigkeit der erleuchteten Gottesacker einen tiefen Hintergrund im christlichen Glauben.

Viele Formen der Volksfrömmigkeit sind außerordentlich wichtig für Gemeinschafts- und Gemeindebildung. Das gilt für Familie und Pfarre, Jugendgruppe oder Altersheim. Man mag an den Martinszug der Kinder, die Bergfeuer junger Menschen, die Wallfahrt der Familie oder das Herbergsuchen denken – fast alle Formen der Volksfrömmigkeit schließen einen Weg zum andern hin ein. Deshalb gehört gesunde Volksfrömmigkeit und ihre Pflege, ja ihre schöpferische Weiterentwicklung auch zum Bild einer modernen Großstadtpfarre.

Diese so liebenswürdigen und sinnenhaften Verankerungen des Glaubens scheinen mir in einer Zeit wie der unseren besonders wichtig, da ja der immer deutlicher heraufdämmernde Priestermangel eine Einschränkung liturgischer Vollzüge wie der heiligen Messe notwendigerweise nach sich zieht.

Fehlentwicklungen

Aber der so freundliche Bauerngarten der Volksfrömmigkeit zeigt auch Neigung zum Wuchern, und man muss ein wenig auf der Hut sein. Vielleicht darf ich kurz andeuten, in welche Richtung die Fehlentwicklungen der Volksfrömmigkeit durch die Jahrhunderte bis zum heutigen Tag gegangen sind.

Es gibt die uralte Versuchung zur Magie. Magie, die so alt wie die Religion in der Menschheitsgeschichte zu sein scheint, will die Gottheit mit bestimmten Praktiken zwingen. Es geht nicht um das tiefreligiöse Vertrauen, sondern um das Beherrschen von Tricks, die Segen bringen und Fluch abwehren. Bestimmte Riten, bestimmte Gebete, bestimmte Wiederholungen werden ganz sicher „nützen“. Wenn man’s falsch macht, nützt es nichts. Wenn man dieses Gebet nicht sagt oder diese Wallfahrt nicht mitmacht, ist die Mutter Gottes „beleidigt“. Die Welt wird mit Dämonen und bösen Geistern erfüllt, gegen die eben ganz bestimmte Frömmigkeitsformen „helfen“. Man sage nicht, das alles habe es nur im Mittelalter gegeben. Die tiefsten Ängste des Menschen sind zeitlos, zeitlos ist auch der untaugliche Versuch, sich davon zu befreien, und zeitlos ist das Bestreben, diese Bedürfnisse finanziell auszunützen. Auch heute gehen Leute um, die mit geheimen Rezepten die Geldtaschen für sich öffnen. Und das geheime Rezept hat etwas besonders Bestechendes. Das schlichte Vertrauen auf den gütigen Gott reicht bei weitem nicht aus. Darum wuchern in der Kirche Bewegungen mit geheimen und geheimsten Offenbarungen, die sich mit Vorliebe auf naive Fromme stürzen, und ich weiß, warum ich diesen Taschendieben im Volke Gottes entgegentrete. Es ist eine magische Entartung von Volksfrömmigkeit, wenn bei irgendeiner Unterlassung oder vernünftigen Änderung in der Kirche in den religiösen Vollzügen sofort auf daraus entstehende Flüche und böse Folgen hingewiesen wird. So hat zum Beispiel eine sich sehr fromm gebärdende Broschüre ein Autobusunglück in Zirl und den Dammbruch bei Stava1 in Trient der Rache des Anderl von Rinn2 zugeschoben. Bei solchen Vorstellungen wandert der christliche Glaube zurück in die dämonenerfüllten Urwälder des Steinzeitmenschen, dessen Religiosität wesentlich von der Besänftigung und Lähmung böser Geister geprägt war. Volksfrömmigkeit kann auch heidnisch werden.

Eine zweite Gefahr der Volksfrömmigkeit ist die Wucherung des Nebensächlichen. Auch diese Gefahr ist nicht ohne Aktualität. Unwichtiges wird zur Hauptsache hochgespielt und somit das Wesen des Christentums verdunkelt. Irgendein Heiliger nimmt eine Rolle ein, die nur dem Welterlöser zukommt. Eine im Detail auf ihre Echtheit kaum überprüfbare Privatoffenbarung wird wichtiger als das Wort Gottes. Eine Segensformel gilt mehr als das Mysterium der Eucharistie, ein Weihwassertropfen wird wichtiger als die Frömmigkeit des Herzens.

Es gibt also dieses Wuchern in Richtung Primitivisierung, Veräußerlichung, Magie. Das muss man wissen, und darum braucht der bunte Bauerngarten das Jäten, sonst werden bald einmal die Brennnesseln ins Kraut schießen.

Zum Schluss möchte ich auf drei Formen der Volksfrömmigkeit hinweisen, die bei uns aktuell und lebendig sind, und die gleichzeitig einen tiefen Bezug zu den zentralen Wahrheiten der Heilsbotschaft haben.

Da ist einmal die Wallfahrt. Sie drückt das hoffende Unterwegs-Sein des Christen aus, das mühsame Wandern und das doch Vertrauen-Können. Der Blick vom Georgenberg hinunter in die stundenlange Lichterschlange durch Wald und Schlucht offenbart eine der schönsten Formen von Volksfrömmigkeit.

Und dann gehört hierher die Krippe. Sie stellt das Mysterium der Menschwerdung in das Leben der Familie, in die heilige Zeit, in eine säkularisierte Welt. Und sie hat in unserer Zeit einen nie erwarteten Aufschwung genommen.

Und zum Dritten muss ich in Tirol die Herz-Jesu-Verehrung nennen. Sie führt – wenn sie richtig geübt wird und nicht nur an Äußerlichkeiten hängen bleibt – hinein in das innerste Wesen des erlösenden Gottes, „dessen Herzens Sinnen von Geschlecht zu Geschlecht geht, ihre Seelen dem Tod zu entreißen und sie im Hunger zu nähren …“3

Er soll und muss also weiterblühen, der Bauerngarten der Volksfrömmigkeit, auch in neuen Formen, aber man darf nicht auf das Unkraut vergessen, und dass die wuchernden Stauden den Blick auf das Eigentliche des christlichen Glaubens nicht verstellen dürfen.

Mit gläubigem Herzen und wachem Geist

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