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Elisa betritt den Frisiersalon als einer der letzten Kunden am Samstag. Es ist ein schwerer Gang. Sein ganzes Leben trug er das Haar lang, nun muss der Zopf ab. Für Christine wird er ihn opfern, besser für alle Christinen die er je trifft und ihn interessieren. Der Schnitt mit der Schere ist der Schnitt durch sein Leben.

Seine glücklose Kindheit machte ihn zu dem was er ist. Ruhelos auf der Suche nach einer besseren Welt, immer mit Rat und Tat zur Seite. Der sich auf die Maxime gesetzt hat jedem Kind eine Zukunft zu geben, zurückzugeben. Im eigenen Überlebenskampf hat er gelernt zu überleben, ein feines Ohr, Gespür dafür zu entwickeln was in anderen Menschen vorgeht und so Katastrophen zu erahnen.

Die Tür klimpert nervig in das Schloss. Binnen Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkommen und Raum zur Flucht lassen, rauscht ein Farbkasten auf zwei Beinen um den mit Duftwässerchen gefüllten Raumteiler.

“Waschen, Föhnen, Legen?”, fragt die junge Dame.

Sie wird wissen was zu tun ist. Er nickt ergeben. Mühelos bugsiert sie seine verstimmten 88 Kilogramm bei 1-Meter-88 auf einen der Marterstühle. Hebelt ihn unsentimental in den Abgrund. Sie fasst in seine Mähne, streift sie nach hinten, ihr Griff prüfend.

“Ganz nett”, sagt sie, “ein schöner Fasson Schnitt, wo arbeiten Sie? Ich mein darf es etwas Modernes sein?”

“Nein!”, sagt Elisa energisch.

“Dann zeige ich Ihnen etwas.” Geschwind wirbelt sie mitschwingenden Hüften, unter dem kurzen Rock davon und lässt ihn allein mit seinem Spiegelbild. Sie kommt auf den Absätzen zurück geklappert. Das Musterbuch landet auf seinem Schoß. Traummänner lächeln ihn an. Nein! Nie wird er so wie diese Sonnyboys lächeln.

“Sind Sie neu in der Gegend?”

“Nein, ich bin der Typ den ihr nicht mögt!”

“Der mit dem Renault.” Elisa weiß wie unbeliebt er mit dem alten, stinkenden Sportwagen ist, wenn er spät in der Nacht nach Hause fährt und sein röhrender Auspuff die Bauern in Hamm aus dem Schlaf reißt. Kappes-Hamm nicht zu verwechseln mit der Stadt in Westfalen, sondern ein Stadtteil von Düsseldorf. Eingeschlossen von der Südbrücke, die lange die südlichste Möglichkeit der Rhein-Querung nach Neuss darstellte und von der Eisenbahnbrücke im Norden. Den Westen begrenzt der Rhein mit einem Hochwasserdeich auf dem sich vier Wassersportvereine etabliert haben. Den Osten verbindet die Straßenbahn-Linie 708, mit der Endstation, wie an einem Faden mit der Stadt. Bis Ende der sechziger Jahre lebte man hier wie in einem Dorf mit Ackerbau, denn die Natur ließ einst einen Klecks fruchtbare Erde aus der Kölner Bucht hier fallen. Im innersten seines Herzens war jeder Einwohner in dieser Enklave ein Hammer und kein Düsseldorfer, selbst der Dialekt trennte die Menschen. Hier übersetzt man nicht alle Tassen im Schrank mit ‘ne Äz am rollen. Sie hießen Schmitz, Knell, Esser, Leuchten, Röckrath und, und, und es schien als bliebe es so. Bis der erste Gemüsebauer ein Mietshaus errichtete. Bald erkannten auch andere, dass Mietbücher bequemer sind als Feldarbeit und der Bau-Boom hielt Einzug in die Idylle, so blieben nur wenige Höfe erhalten.

Warum die Friseuse wenig später ein ansehnliches Trinkgeld von Elisa bekommt wird ihr ein Rätsel sein, aber sie hofft er kommt wieder und sie steigt eines Tages mit in den blauen Zweisitzer.

Elisa schnappt nach Luft als er wieder auf dem Bleek, dem Marktplatz der früher als Bleichplatz diente, draußen vor dem Salon steht.

Bei leichtem Nieselregen tritt er zu Fuß den Heimweg an, biegt um die Ecke zur hohlen Gasse ‘Auf den Kampen’, erleidet knapp einen Herzstillstand der in Herzjagen umschlägt. Christine! Es kann nur Christine sein die auf den Stufen vor seiner Haustür sitzt. Er beschleunigt und stockt nach wenigen Metern. Diese blutjunge Frau kennt er nicht. Die ganze Kartei seiner Probanden geht er wie im Diavortrag durch.

Direkt vor ihm erhebt sie sich, lächelt, schaut auf ein Foto. “Hast dich kaum verändert, Onkel Elisa.”

“Onkel?”, fragt er verdutzt.

“Ja, also bei der Taufe war ich etwas zu klein um mir dein Gesicht einzuprägen, bis zum zehnten Lebensjahr hast du Steiftiere geschickt, dann kamen Bücher, ich habe sie gelesen, zu meiner Konfirmation hast du zu gesagt, bist aber nicht erschienen. Das hast du dann mit einem Schein erledigt. Zur Abi-Feier hast du dich auch freigekauft und zum Studienbeginn in Düsseldorf bist du dran, lieber Patenonkel.”

“Lea?”, fragt Elisa.

“Meinen Namen weißt du noch!”, bemerkt sie fröhlich. “Also Mama hat sich die Finger wund gewählt, aber der Herr Doc-Seelen-Klempner ist nicht erreichbar. Hast die E-Mail nicht bekommen, oder den Brief?”

“Doch, jetzt, glaube ich”, sagt Elisa. Prosaisch langt er in die einen Spalt offenstehende Briefkastenklappe in der Tür. Nicht die feine Art des Briefträgers, aber in dieser Enklave Dorf mitten in der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen ist alles möglich.

“Egal ich bin hier, und wohne bei dir. Mama meint Wohngemeinschaften sind nichts für Töchter. Sie hat da so ihre Erfahrung aus der eigenen Studienzeit. Hast du damals nicht mit ihr in einer WG gewohnt?”

Unwillkürlich setzt er den Rechenmechanismus graue Zellen in Gang derweil er den hübschen Windfang betrachtet. Es ist Quatsch er weiß doch wie alt sie ist, genau zwei Jahrzehnte und mit ihrer Mutter, Freja lebte er vor einem viertel Jahrhundert in der WG.

“Was ist nun, willst du mich nicht hereinbitten? Ich habe eine lange Fahrt hinter mir”, sagt Lea. Elisa starrt sie noch immer regungslos an. Er versucht zu begreifen, was da für eine Verantwortungslawine auf ihn zukommt.

“Was ist nun? Dir hat es die Sprache verschlagen und Mama hat behauptet dein Redefluss sei das Zuverlässigste an dir. Ach, keine Angst sie hat mich gewarnt. Du lebst mit einer viel zu jungen Frau zusammen. Und sie wundert sich, dass die Lütte es schafft dich so an die Kandare zu nehmen. Ich werde schon nicht in deine Privatsphäre brechen.”

“Bei euch Ostfriesen wird noch getrommelt”, sagt Elisa. Er zieht den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnet die Haustür. “Hast du kein Gepäck?”

“Doch, und wie”, antwortet sie, und schlüpft flugs durch den schmalen Spalt. “Wie lebt denn so ein Seelen-Heiler? Ups, du ziehst um?”

Elisa antwortet nicht, kickt mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.

“Du renovierst?” Wie eine Ballerina wirbelt sie über die blanken Holzdielen, streift mit der Hand über den Ledersessel, bückt sich, nimmt einige Bücher kontrollierend in die Hand, sie rümpft die Nase, Fachliteratur, ein Blick aus dem großen Fenster zum Innenhof, sie geht auf ihn zu legt die Hände auf seine breiten Schultern. “Das sieht verdammt nach Krise aus.”

Elisa sinkt stöhnend mit geschlossenen Augen in seinem Sessel und zieht die Beine an, er rollt sich wie ein Igel zusammen. Verdammte Osterferien, es waren doch nur 3 schlichte Wochen die er weg war. Nur 3 Wochen im Dienste der gestrauchelten Jugend.

“Und nun?”, fragt Lea.

Auf der Stelle schlägt er die Augen auf, spürt bleierne Müdigkeit und weiß, dass die Zukunft Unruhe bringt.

Lea ist nicht müde zu kriegen. Sie hat die Großstadt in sich aufgesogen. Aber sie hat auch akzeptiert, dass Elisa nicht die ganze Altstadt an einem Abend mit ihr durchstreift. Schließlich ist seine Stimmung nicht gerade auf dem Höhepunkt angelangt, aber in dem irischen Pub wo sie den Lachs zu Abend aßen und danach darteten fand er sein Lächeln endgültig wieder. Einige Male musste sie ihn an fremde Personen die er gut kannte ausleihen, aber das dauerte nie so lange dass Langeweile aufkam. Die halbe Nacht verbrachten sie so. Jetzt hockt sie mit ihm vor dem knisternden Kamin und sie blicken in die lodernden Flammen. Elisa sagt, “ich hatte das ganze Wochenende nur für uns eingeplant, und sie haut einfach ab.” Elisa nimmt die Pfeife und stopft den Tabak.

“Du hast geplant! Ein Wochenende! Das reicht einer Frau nicht. Beim nächsten Mal planst du besser und beziehst sie ein”, sagt Lea.

“Nächstes Mal! Es gibt kein nächstes Mal.”

“Okay, sie ist weg, aber wahrscheinlich hat sie nicht dich geliebt, sondern die Situation. Ein Doc mit Namen hat seine Reize. Vermutlich bist du zufällig ganz nett im Bett. Das dauert, aber es hört irgendwann auf zu brennen in der Brust. Verdammt Elisa, warum hast du Christine nicht mit einbezogen in diesen Bootstörn? Ich mein einfach mitgenommen.”

“Sie hasst Wasser und primitives Bootsleben. Es war verflucht eng auf den Kähnen und es hat nicht eine private Minute gegeben. Außerdem ist es wahnsinnig schwer auf so engen Raum, wenn man sich nicht hundertprozentig mag und respektiert und das kann man nicht mit einer wild zusammengewürfelten Gruppe Jugendlicher.”

“Was für Kähne? Was für Jugendliche?”

“Charterboote, zwei Boote, je zwei Betreuer und 18 gescheiterte junge Leben. Autodiebe, Misshandelte, Streunende, Süchtige Jungen und Mädchen. Die ersten Tage waren verflucht schwer, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten. Timo kam nicht mit Susanne klar, Susanne hasst den aufdringlichen Lars, Lars weiß nicht dass die Dusche von jedem benutzt werden soll und dass man sie so hinter lässt dass man es kann, Benjamin diskutiert jede Handlung so lange aus bis das Boot herrenlos auf dem Kanal treibt, Lasse kann plötzlich nicht mehr schwimmen und sieht nicht ein warum er helfen soll, Janine lässt die Koteletts auf dem Grill verkohlen, in der Bar in Trèbes gibt es kein einziges Glas mehr, der Schleusenwärter von Carcassonne hat keinen Sonnenschirm mehr, die Bank im Vorschiff ist gebrochen, der Tampen am Heck suchte am ersten Tag das Weite, der Billardtisch in dem kleinen Gartenlokal von Roubia ist manipuliert, ein Griff in die Fahrtenkasse, Biggi ist über die Landstraße abmarschiert und Spüldienst übernimmt sowieso keiner.”

“Mein Gott, Elisa wie stehst du das durch?”

“Gut! Ich habe mit Lea in Trèbes beim einem Glas des teuersten Hausweins um die Gunst unserer Schützlinge gebuhlt und wir durften anschließend die von den Kids eigenhändig mit schamroten Kopf zurückgebrachten Gläser wieder auf das Boot tragen und die gespendeten Erinnerungsstück austeilen; der Wein war bezahlt. Wir haben uns in die Prärie gelegt und die Kids ausgehungert und dem Täter die Möglichkeit gelassen das Geld anonym in die Kasse zurückzulegen.“

„Hat er?“

“Er hat es mir gegeben und sich entschuldigt, er hat sich eine Strafe ausgesucht und der Spüldienst war erledigt. Als ich mit meiner Kollegin von der Post zurückkam, war unser Boot weg, die Bande lag im Gras und hat geschlafen, keiner hat bemerkt wie der Pott sich selbstständig machte. Sie haben mich den Kanal lang rennen lassen. Da lag das Schiff, friedlich festgemacht, sie hatten die sechsfach Schleuse schon alleine gemeistert. Wir haben mit der Klampfe unseren eigenen Song gedichtet und den Text auf ein weißes T-Shirt für jeden drucken lassen. Susanne und Lars saßen Abend für Abend beieinander. Ich habe mein Wissen über Verhütung preisgegeben. Auf dem neuen Sonnenschirm des Schleusenwärters steht jetzt Coca-Cola, ich machte mir keinen Kopf wo der he kam. In einem Dorf am Kanal haben die Bewohner uns zum Osterfeuer eingeladen, ein riesiger Scheiterhaufen auf dem Platz am Ufer, Getränke und die längste Grillwurst die ich je sah umsonst. Anschließend habe ich einen Grundkurs in Fische füttern geleitet und mir ein Aspirin reingeschoben. Biggi saß an der ersten Schleuse und heulte, keiner nannte sie mehr einen Rotfuchs. Es gibt ein paar Berufswünsche und angestrebte Schulabschlüsse. Beim Abschied auf dem Bahnhof gab es Tränen und ausgetauschte Adressen und für mich eine Pfeife, sie ist nicht besonders gut, aber es schmeckt verdammt gut. Es war anstrengend und es war verflixt schön.”

“Es muss wunderbar sein mit dir, wenn man nicht mit dir verbandelt ist.”

“Mm...?”

Jäh dazwischen das Telefon. Elisa, sieht auf die Uhr, fast noch Nacht. “Ja.”

“Elisa, es ist so weit, ich brauche dich!”

“Sofort, Rolf?”

“Sofort!”

Falsche Annahme

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