Читать книгу Falsche Annahme - Renate Amelung - Страница 8
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ОглавлениеRebecca Eden genieß den täglichen Spaziergang von der Aderstraße zum Polizeipräsidium am Jürgensplatz. Zwar sind die ersten Meter trist und egal in welche Richtung man sich bewegt, bläst einem, ein rauer Wind entgegen zwischen den Häuserreihen, aber hat man das LVA Gebäude auf der Linken passiert wird der Weg angenehm. Sie überquert die Friedrichstraße und lässt den Graf Adolfplatz rechts liegen, dann taucht sie in den Park des Schwanenspiegels ein. Hier ist die Zeit mitten in der City anders getaktet.
Der Alte mit der Baskenmütze irrt wie jeden Morgen murmelnd durch die Anlage. Wenn erst die Sonne ihre volle Kraft am Mittag erreicht hat wagen sich die ausgesetzten Schmuckschildkröten wieder auf den umgestürzten Stamm im Wasser und recken wie Schindeln übereinanderliegend die Köpfe in die Luft. Sie geht über die kleine Brücke und betritt die Wasserstraße. Einziges Parkeldorado in Düsseldorf und Geheimtipp, denn die dem Park zugewandt Seite ist für jedermann frei und verlangt nicht nach dem Anwohnerparkausweis, jedoch nicht ohne Tücken.
Am Portal im Präsidium trifft Rebecca der Montagmorgen mit voller Härte. Sie ist weder ausgeschlafen noch gut gelaunt. Auch die fröhliche Bettina die sie auf dem Gang findet und mit der sie gemeinsam das Büro der Soko betritt ändert da wenig. Rebecca steckt noch die Fahrt in die Eifel zu den Eltern des toten Mädchens in den Knochen. Karsten und Bettina hatten sich erfolgreich gedrückt, so übernahm sie es selbst den unangenehmen Part und anschließend die Begegnung mit ihrem Ex-Mann zu Hause.
“Ich würde mich nur zu gerne bei Emilian auf die Couch legen”, sagt Bettina.
“Du meinst für ihn”, sagt Rebecca.
“Na ja, das Ergebnis wäre das Selbe”, trällert Bettina. “Weißt du eigentlich, dass viele Therapeuten es mit ihren Patientinnen treiben? Sie versetzen sie in Trance, und zwar, so dass die Frauen es nachher nicht mehr wissen oder suggerieren ihnen, dass sie an Wahnvorstellungen leiden, und dass dies nun wieder normal ist, weil die meisten Frauen sich in ihren Arzt verlieben”, sagt Bettina.
“Klar”, bestätigt Rebecca mit wenig Ernst in der Stimme, “sie haben schließlich das Rüstzeug dazu.”
“Ich habe von ihm geträumt. Er stand plötzlich mit einer Flasche Champagner vor der Tür und hat gleich auf dem Sofa losgelegt.”
“Auf meinem Sofa saß Robert und hat die halbe Nacht mit mir über das Outfit unserer Tochter diskutiert, dabei finde ich ihre Schulnoten viel erwähnenswerter. Nach der Flasche Roten fiel er auf die Seite und ich war genötigt ihm heute Morgen ein Katerfrühstück zuzubereiten.”
“Oje, aber stell dir vor, Rebecca, nur einmal von ihm therapiert werden”, haucht Bettina weich.
“Da musst du dich in eine ziemlich lange Schlange hyperventilierender bedeutungsschwerer Upperclass-Gattinnen stellen.”
“Wie?”
“Der Mann ist ein Nobel-Accessoire und macht auf sozialverträglich”, sagt Rebecca.
“Wie kommst du darauf?”, erkundigt sich Bettina.
“Ich habe vor 5 Minuten bei ihm angerufen. Die Mailbox seines Handys ist voll, in seiner Praxis bewacht eine Löwin sein Walhalla während er, wie sie freundlich lispelt, auf einem Exklusivtermin tanzt. Zu Hause meldet sich ein super junges Ding und erklärt dir, er hätte sich schon am frühen Morgen aus dem Haus bewegt und er bleibt sicher lange weg, denn er hat ihr zum Vertreib der Langeweile seine Kreditkarte hinterlassen.”
Berthold grüßt kopfnickend, grient verdächtig.
“Morgen Berthold. Verdammt was riecht denn hier so?”, fragt Rebecca, “reiß doch wenigstens Einer die Fenster auf! Weißt du wie ich das nenne?”
“Was?”
“Einer Frau die Kreditkarte aushändigen”, sagt Berthold quengelig.
“Leichtsinnig!”, antwortet Elisa.
Rebecca katapultiert mit einem Ruck den Ledersessel rum. “Herr Emilian, Ihre Art in mein Leben zu platzen ist nicht gerade sehr loyal!”
“Ich habe ihm die Pfeife erlaubt”, wirft Berthold rasch ein.
Bettina stöhnt, “oh Mist!”
“Weißer Rauch wäre mir lieber”, meint Rebecca. Aus lässiger Position, ein Fuß weit auf den Oberschenkel gezogen sieht Elisa sie an, lacht stillvergnügt in sich hinein. Sie grübelt über sein Dresscod. Am Sonntag erschien ihr sein irisches Auftreten normal, heute jedoch hätte sie einen Mann im Anzug erwartet.
Elisa schiebt den Strickbund tiefer, dann klopft er die Pfeife penibel und mit voller Aufmerksamkeit im Aschenbecher aus. “Pardon, es ist ein öffentlicher Raum, ich habe mir die Wartezeit vertrieben. Übrigens, aus Norwegen.”
“Wie bitte?”
“Sie wollten doch wissen woher der Pullover stammt”, sagt Elisa.
“Hat Sie nichts im Bett gehalten?”, fragt Rebecca.
“Haben Sie schon einmal auf der Bank im Hof genächtigt?”
“Über die Vorzüge eines Hofes verfüge ich nicht.”
“Schade. Der Mörder ist Bachmann.”
Das sorgt für einiges an Verblüffung im Raum die von Rebecca unterbrochen wird, “hätten Sie nicht zur Vorwarnung ihr rostiges Erkennungsmerkmal draußen abstellen können?”
“Das war ein Leihwagen und außerdem hat mich die Bulldogge nicht auf das Gelände gelassen, ich musste mir draußen einen Parkplatz suchen. Jetzt möchte ich diese Kati sehen”, sagt Elisa.
“Kati? Kathleen!”, präzisiert Rebecca.
“Kati!”, wiederholt Elisa energisch, “oder ist das ein Tippfehler?” Elisa hat den Bericht aufgeschlagen und zeigt auf einen Absatz. “Ein einziges Mal kommt der Name Kati vor. Ist es nun ein Tippfehler?”
Berthold zuckt mit den Schultern während Bettina ratlos die Lippen verschürzt.
“Also, ich denke es ist ein Tippfehler”, meint Rebecca, wenngleich sie irritiert ist. “Kommen Sie!”
“Wohin?” Elisa schluckt unweigerlich, “muss ich wieder in die Gerichtsmedizin?”
“Schlimmer, Tatort!”
Da sind schon wieder die deutlichen Beschwerden mit dem Speichelfluss bei Elisa. “Wollen Sie damit sagen...”
“Ich will damit sagen, dass uns die Spurensicherung ein Video aufbereitet hat und wir nach Nebenan gehen. Es ist eine Amateuraufnahme von dem Tagesausflug bei dem der Mord geschah.”
“Ich liebe Ihre Durchsetzungsstrategien die das Klima beherrschen”, sagt Elisa, als er sich erhebt und nicht vergießt beim vorübergehen noch Kaffee von Bettina zu kassieren. Einen Moment sieht es nach einer persönlichen Ansprache von ihm aus und Bettina kämpft mit feuchten Händen.
Bernd im Nebenraum hat alles vorbereitet, aber er dämpft gleich die Erwartungen. “Nichts Brauchbares drauf. Eben ein Ausflug mit albernem pubertärem Mädchengehabe. Die Einstellungen sind viel zu kurz, als dass sie etwas aussagen können. Licht aus Film ab!”
Der Streifen läuft: Herausgestreckte Zungen, Kichern, Rutschbahnen auf umgekehrten Wege genommen, Getränkedosen speien unkontrolliert durch die Gegend, Grimassen werden gezogen, lange Nasen ausgestreckt. Der Laser wandert von Rebecca geführt auf einen gezeigten Vogel. “Das ist Kathleen!” Der Film summt weiter. Der Finger vor der Linse verdunkelt die Aufnahme, dann ein Stück rotierender Rasen...
Unzufriedenes Gemurmel in der Runde und eine allgemeine Bewegung aus den Stühlen. Nur Elisa rutscht gebannt tief, verlangt nach Wiederholung, nochmals und nochmals...
“Und Herr Emilian?”, fragt Bettina als erste.
“Ich weiß nicht”, antwortet er.
“Das war nichts anderes als diese nichtssagenden Videoclips vor denen die Kids neuerdings sitzen”, sagt Karsten, “da kann doch auch kein Mensch was drauf erkennen. Das bringt uns nicht einen Millimeter weiter.”
Auf der Stelle kontert Elisa, “die filmischen Kommunikatoren der Musik-Clips tragen mit Sicherheit eine Botschaft. Es ist nur für eingeübte Fernsehkucker nicht mehr sichtbar. Die Bilder sind auf die Musik gesetzt, das verstehen junge Leute sehr wohl. Wer nur an Wahrnehmungen von Krimis und Tageschau gewöhnt ist und sich da eingesehen hat rafft das nicht mehr. Ab dem 30-ten wird es da schon verdammt schwierig, ab 40 ist es fast vorbei. Frau Eden, kann ich mit Kati sprechen, Kathleen?”
“Kathleen, ja sicher. Wir fahren hin”, antwortet Rebecca, “können wir Ihren Wagen nehmen?”
“Bedingt”, sagt Elisa.
“Bedingt?”
“Ja, das bedingt einiger glücklicher Umstände.”
Rebecca schüttelt den Kopf, denkt, der Mann ist ein merkwürdiges Unikat. Sie geht mit ihm aus dem Zimmer Richtung Ausgang, überquert an seiner Seite den Jürgensplatz, biegt nach rechts in die Herzogstraße, gleich links in die Wasserstraße. Elisa bleibt wie angewurzelt stehen.
“Verraten Sie mir wie sie auf den Täter Bachmann gekommen sind!”, fordert sie.
“Auch an mir geht der Zufall Treffer nicht vorbei! Beim Poker kommt es vor, dass man gewinnt. Es war doch ein Spiel oder?”
“Zugegeben - ja.”
“Sie haben die Karten nicht richtig gemischt. Ich zitiere: Der Fall des unbekannten Toten an der A 46 konnte mit Hilfe der hervorragenden Leistungen von Kommissar Eden gelöst werden... Rheinische Post am Montag. Aber kann sie meinen Wagen finden? Ich bin sicher ihn hier abgestellt zu haben. Genau hier!”
Elisa steht in einer verwaisten Parkbucht.
“Sie meinen gestohlen, das ist nicht mein Gebiet.”
“Den Wagen klaut keiner. Er springt nicht an, also ich meine eher selten.”
“Mm... mm..., kann sie! Abgeschleppt! Das ist ein Behindertenparkplatz! Behindert sind Sie doch sicher nicht.”
“Doch, mein Kleinhirn ist nicht voll ausgebildet, sonst wüsste ich wo der Plastikbomber steht. Die Bedingungen sind heute schlecht.”
“Abgeschleppt, sagte ich bereits. Haben Sie das Schild nicht gesehen?”
“Es stand vorhin nicht hier!”, mault er, “ich bin von gegenüber die Straße lang gekommen, habe gewendet und bin in den freien Platz gefahren, da schau ich nicht mehr hoch.”
“Besser ist das!”
“Die werden doch die Pappe anständig behandeln”, jammert Elisa.
“Rennpappe? Sie fahren einen Trabi?”
“Trabi in bleu, Plaste und Elaste, Bakelit-Kunst, der Propaganda-Duft über dem Kombinat mit Zielerreichung, nö.” Elisa lacht.
“Sie sind ein...”
“Ein Ossi, aus einem winzigen Kaff in der Nähe von Schwerin”, sagt Elisa.
“Und sind mit ihrem Trabi in die Freiheit aufgebrochen, als die Grenze offen war...”
“Nein, ich habe meine Eltern in Angst und Sorge hinterlassen und bin mit 18 getürmt, weil ich wusste, dass ich nie eine offizielle Ausreise bekommen hätte und weil ich nie hätte studieren dürfen.”
“Warum?”
“Weil ich meine Klappe nicht halten kann, weil ich diese Wahlzettel mit dem eingedruckten Kreuz nie unterstützen wollte, weil mein Vater bei dem ersten Ausreisegesuch seine schöne Existenz verloren hätte, weil ich nicht bei der Jugendweihe war, sondern die Konfirmation wählte, aus Überzeugung, weil ich mich in ein Mädchen aus dem Westen verliebt hatte, weil ich die ganze Welt sehen wollte und weil ich verflixt keinen Trabi wollte. Was mache ich jetzt?”
“Ihr Portemonnaie locker, oder die Beziehung zur Polizei spielen lassen.”
“Habe ich eine Beziehung?” Die Hände wandern tief schmollend in die Hosentaschen, mit dem Fuß tritt er nach dem gerade entdeckten leeren Flachmann und befördert ihn stellvertretend, Rache nehmend in das nächste Gebüsch des Schwanenspiegels.
Rebecca lächelt ihn an. Was will er jetzt? “Wie sieht es mit Staatsanwalt Lachmann aus?”
“Können Sie es verantworten, dass ein ausgedientes Nobel-Accessoire in eine Sinn-Krise gerät?”
“Gut dann nennen wir es guten Draht zur Kripo. Wir gehen jetzt zurück und ich organisiere uns ein Ersatzfahrzeug und gebe eine kleine Anweisung bezüglich Ihres Wagens durch; Kennzeichen bitte!”
“D-EE 1!”, sagt Elisa.
“Was hat Sie das denn gekostet?”
“Ich habe meine Augen riskiert. Die hätte die Dame mir wenigstens gerne ausgekratzt, weil ich den Dad versetzt habe. Seitdem traue ich mich nicht mehr auf das Straßenverkehrsamt. Das sind immerhin 15 Jahre. He! Sie sind ja gefährlich; passives/aktives Zuhören ist mein Part.”
“Das kann man nicht für sich alleine pachten!”, warnt Rebecca.
“Erzählen Sie mir etwas über die Schule!”, fordert Elisa.
“Es ist eine Angebotsschule darunter versteht man...”
“Frau Eden!”
“Pardon, die Schule wird von einer Stiftung getragen. Die Klassen sind bewusst niedrig gehalten. Es ist eine Art Internat mit Freigang. Die Schüler müssen sich nur eintragen ob sie im Haus übernachten oder ob sie zu ihren Eltern fahren. Deshalb ist das Verschwinden der Toten im Grafenbergerwald nicht aufgefallen, es war Wochenende. Nun der Direktor hat wohl seine Liste nicht genau geprüft. Er macht sich riesen Vorwürfe. In der Schule läuft so etwas wie Selbstbestimmung über den Unterricht. Zudem gibt es keine Noten. Und bevor Sie mich fragen; die Möglichkeit einer Sektenzugehörigkeit können wir mit Sicherheit ausschließen. Und bitte, Herr Emilian, wenn Sie mit Kathleen sprechen appelliere ich an Ihr Feingefühl. Sie war die beste Freundin von der ersten Toten, Hanna Nöll.”
“Hanna, die im Düsselstrand sterben musste! Ich hasse diese Spaßbäder, jetzt weiß ich warum.”
“Ja, Sie haben sicher gelesen, dass sie leblos im Wasser trieb, allerdings ist sie nicht ertrunken. Irgendwo muss sich da ein Kampf abgespielt haben, aber das Personal hatte bereits alles gründlich gereinigt als man sie fand. Das hat sie alles sehr mitgenommen zumal sie mit Hanna vorher gestritten hat und nun meint sie Hanna könnte noch leben.”
“Und wie stand sie zu Jasmin?”
“Die konnte sie nie sonderlich leiden.”
“Haben Sie einen Lösungsansatz?”
“Nein!”
“Sehen Sie eine Verbindung?”
“Nein!”
“Die Tote von der Lauswardh hatten wir schon als Unfall abgelegt, aber unter den neuen Aspekten...”
“Ich hätte es auch abgelegt”, sagt Elisa.
Schweigend gehen sie die letzten Schritte bis sie vor dem Eingang zum Präsidium und einer vertrackten Wiederholung stehen, die Tür - das Verhängnis.
“Bitte!”
“Nach Ihnen!”
“Sie zuerst!”
“Danke!”
“Bitte!”
“Autsch!”, ruft Rebecca. Verdammt Emilian, Trottel, Archetyp! Was wiegt der denn? denkt sie, heute sicher sehr gründlich rasiert und dezent beduftet.
Da die Tür sich als Hindernis erweist, was Elisa genießt, und für den Bruchteil einer Sekunde seine Nase in ihren dunklen Schopf steckt, der für ihn immer so aussieht wie gerade durch den Wind und ihn einiges an Temperament vermuten lässt und ihn versonnen in Grübeln stürzt, wie sie aussieht wenn dieser große Kamm nicht alles am Hinterkopf zusammengerafft hält. Und da er ebenso wenig weiß wie er dienlich sein kann, wenn sie einen Dienstwagen organisiert hat er beschlossen auf der Eingangsstufe sitzend zu warten und Denkminuten von Vogelgezwitscher begleitet einzunehmen. Dank Lea wird er am Nachmittag, wenn er nach Hause kommt dem Elchtest unterzogen, er sieht sich schon mit Inbusschlüssel und Aufbauanleitung auf dem Boden hocken und schwedische Klagelieder über Passgenauigkeit singen.
“Herr Emilian, den Autoschlüssel bitte”, sagt Rebecca. Elisa blickt direkt auf ihre Schuhspitzen und es ist ihm ein Wunder, dass sie auf so kleinen Füßen genug Standbein für den, in seinen Augen, Männerberuf hat. “Der klebt vorne links im Hohlraum der Stoßstange. Das ist der einzig sichere Platz wo ich ihn immer finde.”
“Aha! Dann hoffen wir Mal, dass Sie ihn bisher alleine gefunden haben.”
“Egal, ich sagte doch der Wagen springt nicht an.”
“Warum sind wir dann dahin gelatscht?” Die Antwort interessiert sie wenig und verschwendet nur Zeit, auf dem Absatz macht Rebecca kehrt um nach einer letzten Anweisung mit dem Wagen vorzufahren. “Herr Emilian!” Rebecca hat die Seitenscheibe unten und ordert Elisa in den Passat. Bevor er einsteigt zieht er die kalte Pfeife aus der Hosentasche und legt sie später auf das Armaturenbrett.
“Wo geht es hin?”, erkundigt sich Elisa.
“Hamm, die alte Volksschule, Schule an der Florensstraße ist für diesen Zweck vor circa fünf Jahren umgebaut worden. Die Hammer Bauern wollten die Einrichtung zuerst nicht haben, aber im Gegenzug hat man ihnen die Kuhle zugeschüttet und so einen Platz für ihr Festzelt geschaffen, sagt man. Und das ist ein Jammer, denn da wuchsen die besten Kohlrabis und im Winter konnte man da Schlitten fahren.”
“Florensstraße ist bei mir um die Ecke”, flüstert Elisa.
“Und dann haben Sie nichts von dem Fiasko gehört!”, sagt Rebecca mit einigem Erstaunen und raschen Blick zu ihm. Er fasst sich an die Stirn, streift das Haar besinnlich nach hinten, benetzt leicht mit der Zunge seine Unterlippe, dann bewegt er sachte verneinend seinen Kopf.
“Wann sind Sie in den Westen gekommen?”, will Rebecca wissen.
“Mit 18, hat sich nicht geändert in der letzten halben Stunde, oder glauben Sie ich spreche gerne über mein Alter?”
“Hat Sie die Fülle der Marktwirtschaft nicht erdrückt?”, fragt Rebecca.
“Nein, bei Emilian’s herrschte der Wohlstand und dafür mussten meine Eltern nicht in den Intershop gehen. Mein Vater durfte reisen. Er musste nur zurückkommen, aber dafür waren ja meine Mutter und ich zu Hause. Meine Mutter hat nie in der Kaufhalle nach Butter angestanden. Bei Emilian’s wurde von goldenen Löffeln gegessen und die Hände trocknete man sich mit Möve-Handtüchern ab und es gab auch immer Scheißhauspapier. Dafür nimmt man schon einiges in Kauf.”
“Was?”
“Man erteilt seinem Sohn so lange Stubenarrest bis er endlich kapiert, dass er in der Schule nicht die Tageschau-Uhr-West zeichnen darf, sondern Ost, obwohl nie der Ost-Kanal lief. Die Aufforderung im Zeichenunterricht kam unweigerlich auf jeden Schüler zu. Elisa hat es verpatzt, weil er den Sinn nicht verstand.”
“Und bei uns war alles besser?”
“Bei euch schmeckten die Äpfel wie aus der Retorte, jeden Tag Bananen war animalisch. Nylonhemden waren längst wieder out. Die Nordsee war wirklich salzig. Euer Gefängnis war lausig. Das soziale Netz so engmaschig, dass wirklich nur die ganz Kleinen durchfallen, und die 68ger unterhalten sich in der Politik nur noch über die Taten ihrer Revolte.”
“Was wissen Sie von unseren Gefängnissen.”
“Arrestzelle!” Er schweigt.
“Und wie sind Sie...” Sie wird von ihrem Handy unterbrochen in dem Moment wo sie den Wagen vor der Schule abstellt. “Eden - ach tatsächlich - komischer Kauz - Moment. Herr Emilian, Ihr Wagen ist ausgelöst aber er springt wirklich nicht an, gibt es einen Trick?”
“Klar, tanken, mich beschlich vorhin das Gefühl ich brauchte den Motor nicht mehr ausmachen.”
“Bettina, das Auto benötigt Sprit, tschüs.”
“Wer hat mein Auto in den unsensiblen Fingern?”
“Sie hätte gerne mit mir getauscht. Übrigens vielen Dank für Ihre Souveränität Bettina nicht noch einiger Peinlichkeiten zu unterziehen.”
“Die Spitze ging ja sicher gegen mich, ich hoffe, dass Sie bessere Literatur im Schrank haben als Frau Kämpf und sich nicht von Schund-Romanen einnebeln lassen.”
“Es gibt einen Schicksalsroman über einen amerikanischen Therapeuten der sich für sein Vergehen dank der Gesetzesauffassung nie verantworten musste. Wir gehen zum Direktor und lassen Kathleen ins Lehrerzimmer holen.”
“Mm... mm...” Elisa springt aus dem VW, und geht schnellen Schrittes links an dem alten Haupthaus vorbei.
“Was jetzt!”, ruft Rebecca hinterher.
“Für kleine Jungs!”
Aha, woher weiß er denn, dass da im hintersten Winkel der Toilettentrakt angeklebt ist? Und warum wählt er nicht die Sanitärräume der Lehrer? Rebecca steuert die doppelseitige Treppe links versetzt vor dem Haus an und nimmt rasch die zehn Stufen. Über ihr thront die Uhr die noch zu keiner Zeit richtig ging, auch nicht als hier noch die Volksschule beheimatet war. Doktor Brunner empfängt sie. Der große hagere Mann in den 50gern wurde schon am Telefon nervös als Rebecca sie beide anmeldete, allerdings sagte sie nicht mit wem sie kommt. Wieder schaut der Mann über den Rand seiner Halbbrille. Das zwingt ihn zu einer buckligen Körperhaltung und genauso buckelt er sie, bis in das Lehrer-Zimmer. Frau Stampfka, die Sekretärin und Perle für alles, steht mit dem Kaffee parat. Nachdem sie zu dritt das Wetter und die Politik durchgehechelt haben wundert sich Rebecca wo Emilian bleibt.
“Wen haben Sie mir eigentlich mitgebracht?”, fragt Brunner.
“Einen..., unseren Volontär”, antwortet Rebecca.
“Soll ich Kathleen holen?”, fragt Brunner.
“Nein, jetzt werde ich erst diesen Burschen auftreiben!” Rebecca stürzt aus dem Raum Richtung Ausgang. Sie stockt und bleibt auf ganz leisen Sohlen im Türrahmen am Ausgang stehen, sie hält fast die Luft an. Elisa Emilian sitzt mit Kathleen auf der obersten Stufe, greift mit Zeigefinger und Daumen jeder Hand zwischen den hoc gestreckten kleinen Händen von Kathleen und hebt den Faden geschickt ab, spannt ihn ebenso zwischen seine Finger. Kathleen wiederholt das Spiel. Sie lacht als ihm der weitere Versuch misslingt. “Kann Kati das besser als ich?”, fragt Elisa.
“Kati ist eine dumme Puppe und sitzt auf meinem Bett”, antwortet Kathleen.
“Ist sie lieb?”
“Ja, sehr, sie macht nie den Mund auf.” Flink hat Kathleen den Faden wiederaufgenommen und streckt Elisa das Spiel entgegen. Er lächelt. “Ich glaube du gewinnst immer.”
“Nein, nur bei dir.”
“Da haben Sie ja Ihren Volontär gefunden”, sagt Brunner überdurchschnittlich laut, so dass Elisa sich sofort umdreht und erhebt. Rebecca zuckt mit den Schultern, tut mir Leid Elisa, soll es heißen.
“Herr Emilian, Herr Brunner, Frau Stampfka.”
“Guten Tag und addio”, sagt Elisa, “darf ich Mal wiederkommen, Kathleen?”
“Wenn du geübt hast.”
“Kommen Sie Frau Eden!”
Elisa geht auf Brunner zu. “Kontrollieren Sie die Abwesenheit ihrer Schülerinnen stets so ungenau?”
Brunner schluckt. “Äh, Herr. Also, gut um ehrlich zu sein; es ist in letzter Zeit schwierig. Wir haben irgendwo einen Schmierfinken der uns die Liste vermasselt.”
“Und als Pädagoge haben Sie das noch nicht gelöst?”, fragt Elisa sarkastisch. “Addio!”
“Moment, war das alles?”, will Rebecca wissen.
“Ja, ich hatte nicht vor Ihre Arbeit zu machen und ich fusche Ihnen da auch nicht rein, ich habe nur meine Ohren offen und funktionier, wenn nötig als Flüstertüte.”
“Da bin ich ja beruhigt, dass ich es nicht mit einem Megaphon zu tun habe.” Sie wendet sich an die beiden Perplexen, “vielen Dank für den Kaffee. Bei der Polizei werden sie immer exzentrischer. Kann ich die Liste mitnehmen?”, fragt Rebecca.
“Aber die haben Sie doch”, antwortet Brunner.
“Die aktuellste nach dem Tod von Leonie.”
Frau Stampfka dachte so etwas gleich und hält die Liste für Rebecca parat.
“Auf Wiedersehen.”
“Besser nicht”, scherzt Brunner verkniffen.
Am Wagen verschränkt Elisa die Arme auf dem Dach und sagt, “warum habe Sie nicht gleich gesagt Psychiater sind alle Format geschädigt, sie haben Hornhaut auf der Lippe und Muskelkater im Sprachzentrum und für den Gebrauch ihrer Männlichkeit benötigen sie einen Waffenschein?”
“Möglich.” Die Gedanken sind frei, mein lieber Elisa! “Aber es heißt Waffenbesitzkarte, oder Waffenberechtigungskarte!”, berichtigt Rebecca.
“Waffenbesitzkarte”, wispert Elisa. Die Zentralverriegelung schnappt auf und Elisa steigt ein.
“Würden Sie sagen, Sie sind kein Egozentriker?”, fragt Rebecca.
“Wenn Sie vor dem Spiegel stehen was sehen Sie da? Jede Wette, nicht die schöne Frau die Sie verkörpern.”
“Lösungsansätze, Herr Emilian?”
“Nein! Sind Sie jetzt froh oder traurig?”
“Idiot! Was machen wir jetzt?”
“Na, ich habe noch keinen Kaffee getrunken. Fahren Sie uns nach Oberbilk!”
“Na schön.”