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Das chinesische Sozialkreditsystem

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Zu diesem Thema ist in der deutschen Öffentlichkeit vorwiegend eines zu hören: Dass es sich um neues, digitales und immer perfekteres Instrument der Unterdrückung handelt. „Die totale Kontrolle“ (FAZ), „IT-Diktatur“ bzw. „irres Kontrollsystem“ (BILD), „Orwell“ (SZ) usw. Eine Kommunistische Partei mischt sich, wie es sowieso ihre Art ist, in alle privaten Angelegenheiten ein, trägt noch mehr persönliche Daten zusammen als bisher schon. Sie eröffnet auf der Basis von Big Data, mit einem ausgeklügeltem Punktesystem und neuartigen Sanktionen endlich die Erziehungsdiktatur, die sie schon immer haben wollte. Soweit die feindselige Wahrnehmung, die schnell fertig ist mit ihrer Erklärung. Um was aber geht es bei dieser neuartigen Regierungsmaßnahme?

Einerseits um gar nicht so viel Neues. Chinas Regierung konstatiert, dass die chinesischen Menschen mit den von ihr erlassenen Gesetzen und Vorschriften ziemlich lax umgehen. Wenn möglich (insbesondere wenn kein staatlicher Aufpasser zu sehen ist) ignorieren sie diese, wo sie ihren eigenen Interessen in die Quere kommen oder ihnen lästig sind. Die Rauchverbotskampagne in Beijing etwa brauchte drei Anläufe, um durchgesetzt zu werden, weil sich bei den beiden ersten trotz angedrohter Geldstrafen kaum irgendjemand daran hielt (was übrigens das Bild von der totalitären Diktatur ebenso wie das des obrigkeitshörigen Asiaten etwas ankratzt).33 Im städtischen Verkehr geht es ziemlich rüde und rücksichtslos zu; im geschäftlichen Umgang gibt es die üblichen Betrügereien, die durch den Online-Handel noch zunehmen – auf Seiten der Verkäufer bezüglich Zuverlässigkeit und Qualität ihrer Produkte ebenso wie auf der der Käufer bezüglich ihrer Zahlungsmoral; nicht wenige Staats- und Parteifunktionäre sind – allen Kampagnen zum Trotz – immer noch korrupt. In dieser Hinsicht handelt es sich also um das alltägliche (und keineswegs nur in China vorkommende) Verhalten, das zu einer Gesellschaft allseitiger Konkurrenz um Geld notwendig dazu gehört – ein Resultat, das die chinesische KP mit der Einführung des Kapitalismus selbst herbeigeführt hat (Teil 2, Kapitel 7). Die massive Entwicklung des Internet-Handels hat dieses Problem noch vergrößert. Schon lange hat es deshalb die entsprechenden Ermahnungen zu mehr Gesetzestreue und Rücksichtnahme gegeben; auch das 2005 noch unter Hu Jintao ausgegebene Leitbild der „harmonischen Gesellschaft“, die man anstrebe, zeugt davon (mehr dazu in Teil 2, Kapitel 9 Politisches Bewusstsein).

Das neue „Sozialkreditsystem“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es die vielen Daten, die bei verschiedensten Gelegenheiten heute über jeden gesammelt werden (wiederum längst nicht nur in China!) zusammenführt und daraus eine Art Sündenregister verfertigt, dessen (Punkte-)Stand der einzelne durch nachgewiesenes soziales Wohlverhalten auch wieder verbessern kann. Gelingt das dauerhaft nicht, drohen materielle Konsequenzen: Man wird vom Ticketverkauf für Hochgeschwindigkeitszüge oder Flüge ausgeschlossen, die Kreditwürdigkeit herabgestuft. Das alles läuft automatisiert ab – ein Algorithmus rechnet auf Basis der zusammengeführten Daten – und die Ergebnisse sind öffentlich zugänglich: Jeder kann sich über sein Gegenüber und dessen Integrität informieren. Die neue chinesische Maßnahme ist also zunächst einmal eine gesellschaftliche Erziehungskampagne, die erstens den fortgeschrittenen Stand der Technik nutzt und zweitens darauf setzt, dass das allgemeine Bewusstsein von Pflicht und Anstand und schlimmstenfalls die Drohung mit materiellen Konsequenzen Wirkung auf die „schwarzen Schafe“ entfalten wird.

Soweit dieses System die „kleinen Leute“ und ihre Delikte betrifft, kann man festhalten, dass vieles davon auch bei uns erfasst wird, allerdings von getrennten Behörden (Flensburg) bzw. privaten Datensammlern (Schufa). Auch Fehlverhalten wird hierzulande oft mit ähnlichen Sanktionen belegt (Führerscheinentzug, Herabsetzung der Kreditwürdigkeit mit negativen Konsequenzen beim Mieten oder Kaufen).

Interessant ist aber, dass Chinas Führung mit dem neuen System auch auf Unternehmen zielt – und mit „Wohlverhalten“ anscheinend auch wesentlich mehr gemeint ist als das bisher Dargestellte34 (statt „Sozialkreditsystem“ wird die Regierungsinitiative deshalb in einigen Analysen auch mit „Gesellschaftliches Bonitätssystem“ übersetzt).

Zunächst ist bemerkenswert, was bei Unternehmen in die Bewertung einbezogen wird. Bei ihnen wird unter „Einhaltung staatlicher Vorschriften“ aufgezählt: „Sicherheit am Arbeitsplatz/Produktionssicherheit, Steuerzahlungen, Energiesparen/Umweltschutz, geistiges Eigentum“35, auch Einhaltung staatlicher Investitionsvorschriften und Beiträge zu den Sozialversicherungen werden geprüft.

Die staatliche Kontrolle trägt dabei Daten zusammen, die die Möglichkeit von Falschauskünften minimieren sollen (z.B. durch direkte Messung des Energieverbrauchs oder der Emissionen). Positiv zu Buche schlagen kann für die Unternehmen, wenn sie industriepolitischen Vorgaben in besonderer Weise entsprechen (etwa: E-Mobilität fördern, alternative Energien einsetzen, Recycling), was sich in besonders guten Kreditbedingungen niederschlagen kann.

„Letztlich könnte das Gesellschaftliche Bonitätssystem zu einem effektiven, Big-Data-gestützten Instrument werden, mit dem das Verhalten von Marktteilnehmern überwacht, bewertet und in eine politisch gewünschte Richtung gelenkt werden kann: Ein Unternehmen, das die für seine Branche gesetzten Investitionsziele für eine neue Technologie nicht erfüllt, wird mit schlechten gesellschaftlichen Bonitätsbewertungen (wie es etwa im Falle der Elektroauto-Quote vorgesehen ist) bestraft. Hierdurch wird das Unternehmen gedrängt, die politischen Ziele einzuhalten und Ressourcen in Technologien zu stecken, in die es – aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht – nicht investieren würde.“ 36

Die möglichen negativen Konsequenzen für Unternehmen sind vielfältig und gehen über den stets zitierten Ausschluss vom Ticketverkauf für Hochgeschwindigkeitszüge weit hinaus. Die deutsche Politikberatung warnt die deutschen Investoren in diesem Zusammenhang eindringlich davor, die Bedeutung zu unterschätzen: Zugang zu öffentlicher Auftragsvergabe, Subventionen, Kreditbedingungen, Zugang zu Handelsplattformen. Ausländische Unternehmen werden dabei „wie die chinesischen behandelt“; es sind also keine Privilegien für sie vorgesehen, was ebenfalls offenbar Anlass zu einiger Besorgnis ist. Vieles ist bei diesem Regierungsvorhaben noch nicht ganz klar. Das betrifft z.B. die Stellen, die berechtigt werden, Daten zu sammeln – dabei ist die Rede von verschiedenen Ebenen (Provinzregierungen, aber auch privaten Anbieter, teilweise von einem regelrechten neuen „Marktsegment“). Wie in China üblich, wird mit der Idee auch einfach mal experimentiert und ermittelt, welche (staats-)nützlichen Resultate dabei herauskommen oder eben nicht. Es kann sein, dass es sich – neben der oben behandelten volkserzieherischen Absicht – im Wesentlichen um eine Art staatlich betreuter „Schufa“ handelt, also einer Prüfanstalt bezüglich der Kreditwürdigkeit; so etwas gab es in China bisher nicht. Es kann aber auch sein, dass sich die Volksrepublik mit ihrem „Gesellschaftlichen Bonitätssystem“ eine neue und effiziente Methode der Marktsteuerung und Marktanpassung schafft.

Angesichts dessen, dass die nationale Akkumulation mehr und mehr in den Händen privater Investoren liegt37, bastelt sich die Kommunistische Partei eventuell einen neuartigen Hebel, eine „materielle Stimulation“ (wie es in den Zeiten sozialistischer Wirtschaftsplanung einmal hieß), um ihre Vorstellungen davon, was eine national erfolgreiche Geschäftstätigkeit berücksichtigen soll, zum Zug zu bringen – automatisiert, ohne Einfluss eventuell bestechlicher Beamter, per Änderung des Algorithmus jederzeit im Sinne einer neuen Problematik veränderbar.

„Das Gesellschaftliche Bonitätssystem verkörpert Chinas Vision, ein extrem leistungsfähiges und zugleich anpassungsfähiges Wirtschaftssystem unter politischer Führung zu schaffen. Wird das System wie geplant umgesetzt, kann es zu einem hoch komplexen und ausgefeilten Modell für eine IT- und Big-Data-gestützte Marktregulierung werden. Dies würde zum einen zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft führen. Zum anderen erhielten die Entscheidungsträger in China hiermit ein Instrument, mit dem sie auf anstehende soziale und umweltpolitische Herausforderungen sowie auf neue Technologien und industrielle Entwicklungen wirksam und schnell reagieren können. Die chinesische Regierung wird versuchen, das Gesellschaftliche Bonitätssystem dazu zu nutzen, Investitionen in innovative Technologien zu lenken und Unternehmen zu einem Verhalten zu bewegen, das für die Lösung von sozialen und umweltrelevanten Problemen hilfreich ist. Dies wiederum könnte dazu führen, dass Entwicklungsstufen übersprungen, innovative Geschäftsaktivitäten forciert und die Fähigkeit der chinesischen Gesellschaft gestärkt wird, sich schnell an nicht vorhersehbare Veränderungen anzupassen. Im Vergleich dazu würden westliche Marktwirtschaften träge und hochgradig fragmentiert wirken mit einer geringen Beweglichkeit und Durchsetzungsfähigkeit sowie fehlender langfristiger Strategien. Dieser Vision der chinesischen Führung entsprechend, würden liberale Marktwirtschaften letztlich nicht mit Chinas einseitig ausgerichtetem Ansatz konkurrieren können.“ 38

Hier hört man jedenfalls deutlich die Befürchtung des deutschen Konkurrenten, dass man irgendwie ins Hintertreffen geraten könnte. Angst also, ein neues Erfolgsinstrument zu verpassen, und auch ein wenig Neid – das übersetzen Journalisten fürs Volk in die Horrordarstellung vom „irren Kontrollsystem“ …

Umfragen zufolge ist die chinesische Bevölkerung übrigens mehrheitlich für die Einführung dieses Systems. Das ist kein Wunder, denn in der Tugend, die Mitmenschen zu mehr Anstand zu erziehen – eine Tugend, die mit der zunehmenden Verfestigung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft immer mehr gefragt ist! – steht die chinesische Bevölkerung der deutschen sicher in wenig nach. Und wenn den Staatsbeamten mehr auf die Finger geguckt und diese Figuren auch einmal abgestraft werden, freuen sich sowieso alle Untertanen dieser Welt. Dass aber auch die Unternehmer staatlich kontrolliert und gegängelt werden sollen – mit dieser Auffassung scheint Chinas Volk doch immer noch arg sozialistisch geprägt!

China – ein Lehrstück

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