Читать книгу China – ein Lehrstück - Renate Dr. Dillmann - Страница 24
b) China als besonders repressiver Staat
ОглавлениеLinke sind in vielen Dingen nicht einverstanden mit dem deutschen Staatswesen; den chinesischen Staat aber finden die allermeisten von ihnen schlicht indiskutabel und auf alle Fälle wesentlich „schlimmer“ als den hiesigen. Und natürlich: In einem Vergleich der politischen Systeme schneidet der chinesische Staat schlecht ab. Er lässt keine freie Presse zu und erkennt den Wunsch nach einer institutionalisierten Opposition neben der regierenden Einheitspartei nicht an; sein Herrschaftspersonal wird – zumindest oberhalb der kommunalen Ebene – nicht über eine öffentliche Wahl zwischen mehreren Kandidaten bestimmt; er zensiert seine Bürger und ihre sozialen Medien, er gängelt sie – inzwischen sogar mit einem ausgeklügelten „Sozialkreditsystem“ –, sich an Gesetze und Anstand zu halten.
Auffällig ist, dass Feststellungen dieser Art gar nicht den Auftakt zu Fragen bilden – etwa danach, wie das politische System in China aussieht (denn die Feststellung, was es alles nicht gibt, stellt ja keine Auskunft darüber dar, wie politische Entscheidungen in der VR zustande kommen), ob es von der westlichen Demokratie nichts wissen will, was seine Gründe dafür sind usw. usf. Umgekehrt könnte man auch fragen, was die große Masse der Bevölkerung in den westlichen Staaten eigentlich davon hat, dass es in ihren Ländern all das gibt … Für all diese Fragen gibt es bemerkenswert wenig Neugier. Es sieht so aus, als sei das Resultat des Vergleichs – China sieht schlecht aus – bereits alles, was man wissen wollte. Nehmen wir den Vergleich trotzdem einmal ernst.
Ein solcher Vergleich unterstellt eine qualitative Gemeinsamkeit; es ist nicht schlecht, diese festzuhalten, bevor man sich den Differenzen widmet. Dafür ist zunächst einmal – auf der abstraktesten Ebene – festzuhalten, dass es sich in beiden Fällen um staatliche Gewaltmonopolisten handelt, die ihren Bürgern die kapitalistische Konkurrenz um Eigentum als die Art und Weise vorschreiben, in der sie ihre (Lebens-)Interessen verfolgen dürfen.
Die dabei notwendig auftretenden antagonistischen Gegensätze verwalten dann ebenfalls beide mit dem Ziel, ein möglichst großes Wirtschaftswachstum und einen möglichst großen Zuwachs an staatlicher Macht und staatlichen Machtmitteln zu erzeugen.
Angesichts dieser essenziellen Gemeinsamkeiten ist es nicht verwunderlich, dass Bürger, die sich um den Erwerb ihrer privaten Einkommen kümmern (müssen) und die das mehr oder weniger mühsam erworbene Geld anschließend für ihren privaten Konsum ausgeben, keinen wesentlichen Unterschied zwischen den „inkompatiblen Systemen“ sehen. Die große Masse der gesetzestreuen Menschen, die sich „nicht groß um Politik kümmern“ (wie hier wie dort viele von sich selbst sagen), gerät im Normalfall außer bei Verkehrsdelikten weder in Deutschland noch in China mit der Staatsgewalt aneinander; deutsche Touristen sind übrigens immer wieder erstaunt, wie „normal“ doch alles in China aussieht (während sie auf Basis der heimischen Informationspolitik an jeder Ecke das Arsenal des Unterdrückungsstaats erwarten).
Anders sieht es bei der Organisation des politischen Systems aus. Hier sind in der Tat Unterschiede in der Art und Weise zu erkennen, wie die westlichen Demokratien Herrschaft regeln und wie China es macht.
In den westlichen Demokratien ist – wiederum abstrakt gefasst – die Besetzung der politischen Macht als Konkurrenz mehrerer Parteien organisiert. Dieses Verfahren sorgt dafür, dass sich die verschiedenen und entgegengesetzten gesellschaftlichen Interessen äußern können und gleichzeitig am „Machbaren“ der alternativlos feststehenden Staatsräson (Wirtschaftswachstum/Staatserfolg) relativieren. Die „geteilten Gewalten“ Legislative und Jurisdiktion kontrollieren sich und die staatlichen Exekutivorgane daraufhin, ob die ausgeübte Macht pur und effektiv diesem Zweck dient. Die Presse berichtet über gesellschaftliche Missstände und klagt wechselnd Bürger, Unternehmer und Politiker als Verursacher an. Ihre Hauptbotschaft lautet, dass alles, was zu Unzufriedenheit führt (Armut, Lebensmittelskandale, Krisen, Klimawandel), nicht sein müsste, wenn sich nur jeder an seinem Platz verantwortungsbewusst verhalten würde – und ist darin so notorisch kritisch wie ungemein affirmativ. In China liegt die politische Macht in den Händen der Kommunistischen Partei. Sie hat die Hoheit über die Frage, wer die wichtigen Entscheidungen im Land treffen darf und welche gesellschaftlichen Interessen für Wirtschaftswachstum und Staatserfolg berücksichtigt werden. Um diese Frage zu beantworten, organisiert sie einen Meinungsbildungsprozess innerhalb ihrer, den „Staat tragenden“ Partei, mit ihren 90 Millionen Mitgliedern und den dazu gehörenden gesellschaftlichen Verbänden bzw. Organisationen (Bauern, Gewerkschaften, Unternehmer, Frauen etc.).
Sind dann die Entscheidungen in den obersten Gremien gefallen, ergehen sie in Form zentralstaatlicher Direktiven; Provinzen und nachgelagerte Entscheider nutzen dabei Spielräume zur eigenen Interpretation/Gestaltung (die nicht immer im Sinn des Zentralstaats sind). Von Journalisten/Autoren verlangt die KP, dass sie sich bei ihrer Berichterstattung und ihren Analysen klar auf den Standpunkt stellen, was zum weiteren Fortschritt von Wirtschaft, Partei und Staat beiträgt. Konstruktive Kritik ist erlaubt und erwünscht; Vorschläge für eine alternative Organisation ihres politischen Systems fallen allerdings nicht darunter – in diesem Sinne zensiert sie und verbietet Meinungen, mit denen sie ihre „Autorität“ unterminiert sieht.
Das sind in der Tat unterschiedliche Methoden, „Staat“ zu machen und eine kapitalistische Gesellschaft zu regieren (die hier nur abstrakt angedeutete Analyse wird in Teil 2 des Buchs, Kapitel 9, genauer und ausführlicher durchgeführt!).
Ihren Grund haben diese in unterschiedlichen historischen Ausgangspunkten: Die Durchsetzung demokratischer Prinzipien (Freiheit, Gleichheit, Eigentum) in den westlichen Ländern war das Mittel der freien Bürger gegen die alte Feudalordnung. Damit ist es diesen gelungen, ihr Interesse – Konkurrenz um Eigentum – zum herrschenden Prinzip der neuen „bürgerlichen“ Gesellschaft zu machen.
In China dagegen hat eine regierende kommunistische Staats-Partei ihr früher planwirtschaftlich organisiertes Land Stück für Stück in eine kapitalistische Wirtschaft transformiert, um damit Entwicklung und Aufstieg der chinesischen Nation zu befördern. Sie ist das Subjekt dieses Projektes – und sie will es bleiben, weil sie seinen Erfolg gegen Gefährdungen von innen und außen sicherstellen will.