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Die große chinesische Mauer

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bezeugt die gewaltige zentralstaatliche Macht, die Chinas Kaiser mobilisieren konnten. Die vermutlich weltgrößte Defensivanlage verdankt sich dem Umstand, dass an der nördlichen Grenze Chinas zwei komplett unterschiedliche Produktionsverhältnisse aufeinander treffen. Das auf Ackerbau beruhende chinesische Reich suchte sich und seine Reichtumsgrundlagen gegen Völker abzuschotten, die als kriegerische Reiter vom Überfallen und Ausplündern leben, deren Eroberung schwierig und deren zukünftige Benutzung wenig aussichtsreich erschien. Die dafür errichtete Mauer ist ein riesiger Schutzwall, der über mehrere Jahrhunderte durchgehend ausgebaut wurde. Einige Male wurde die Mauer überwunden, so z.B. von Dschingis Khan Anfang des 13. Jahrhunderts; von den Mandschus im 17. Jahrhundert. Die Gesamtlänge der Mauer »betrug einst mehr als 50.000 Kilometer« und erstreckte sich teilweise in mehreren Ringen über verschiedene Provinzen, durch Wüsten und über Bergketten, wo sie vorzugsweise über die Gipfel geführt wurde. Zu ihrem Bau werden neben Zwangsarbeitern und Strafgefangenen immer wieder die Streitkräfte selbst herangezogen. Während der Qin-Dynastie waren bei einer Bevölkerungszahl von 20 Millionen 500.000 Menschen mit dem Bau der Mauer befasst, während der Ming-Dynastie fast 1 Million Soldaten, die sich gleichzeitig durch Ackerbau und Viehzucht selbst versorgen mussten. »Mit der Verschärfung der Kriege und der Verbesserung der Waffen und der Bautechnik wurden die Mauern an vielen Stellen mit Kampftürmen, Wachtürmen, Zinnenwänden, Festungsstädten, Sperrmauern und Schießscharten versehen. Mit der Zeit entwickelte sich die Große Mauer zu einem riesigen, gut ausgerüsteten militärischen Verteidigungssystem.«

Bau und Befestigung der großen Mauer dauerten mehr als 2000 Jahre, bis sie 1644 unter Kaiser Kangxi eingestellt wurden. »Mit der Entwicklung der Schusswaffen hatte die Mauer ihre Funktion der Verteidigungsanlage weitgehend verloren.«

Zahlen und Zitate: Wenguan 1996: 7ff.

Auf dieser Basis ist das Reich der Mitte politisch bemerkenswert stabil – vom gelegentlichen Wechsel der Herrscherhäuser abgesehen. An denen fällt vor allem auf, dass die jeweiligen Eroberer von außen – Dschingis Khan (ab 1155) oder die Mandschu-Dynastie der Qing (ab 1644) – sich bei der Entfaltung und inneren Absicherung ihrer Herrschaft notgedrungen in das bestehende Staatswesen einfügen.5 Ihre Herrschaft über China organisieren sie so, dass sie selbst dessen Herrschaftsprinzipien übernehmen, also chinesisch werden.

»Als der britische Botschafter Macartney und sein Gefolge 1793 China bereisten, bot das Land insgesamt ein eindrucksvolles Bild von Prosperität, Ordnung, Dynamik und Selbstvertrauen.« (Stichwort Qing-Dynastie, CL: 600) Vertreter der modernisierten westlichen Nationen des 18./19. Jahrhunderts nehmen dieses Land als eine gegen jeden Änderungswillen geradezu hermetisch abgeschottete Gesellschaft wahr. Das zeugt vor allem davon, dass sie China anders haben wollen. Was sie im Reich der Mitte an »Neuerungen« anstreben und durchsetzen, zerstört dieses Reich mit seinen bestaunten Errungenschaften.

Die in Europa gerade in Schwung gekommene kapitalistische Produktionsweise gehorcht dem Prinzip, aus Geld mehr Geld zu machen – und dieses Prinzip verlangt überall Geltung. Nur auf dem heimischen Markt, etwa in England, zu produzieren, zu verkaufen, Gewinn zu realisieren und die ganze Operation – vergrößert – von neuem zu beginnen, das stellt vom Standpunkt der Kaufleute und industriellen Unternehmer eine Beschränkung ihrer Geschäftsmöglichkeiten dar, die nicht sein soll und darf. Und genau so radikal wie borniert sehen es die Staatsgewalten, die die Geschäftemacherei zur materialistischen Grundlage ihres Florierens erkoren haben. Die gesamte Welt wird neu betrachtet: als potenzielle Geschäftssphäre, in der man Waren einkaufen und an die man Waren verkaufen kann. Wenn ein Land nicht mitspielt oder gar sich diesem Programm verweigert – aus welchen Gründen auch immer – gilt es als rückständig, unmodern. Und so wird die Welt nicht nur betrachtet. Eine Nation wie China soll »sich öffnen« und Handel zulassen; von diesem Interesse beseelt, segeln die Kaufleute aus Europa mit dem Segen und dem Rückhalt ihrer staatlichen Schutzherrn dorthin.

Auch wenn der chinesische Hof wenig Bedarf danach hat und den Wünschen der westlichen »Barbaren« mit Desinteresse und Arroganz begegnet – »Mein Reich hat alles im Überfluss und braucht nichts einzuführen«, schreibt Kaiser Qianlong an Georg III. –, erlaubt er schließlich einen begrenzten Handel. Während chinesischer Tee zum Absatzschlager in England wird, verkaufen sich englische Waren nicht sonderlich gut in China. Die englischen Textilprodukte sind, aller Produktivität der modernen britischen Manufakturen zum Trotz, zu teuer – gemessen an der Billigkeit, mit der die Masse der chinesischen Bauern ihre Baumwollstoffe herstellt. So erwirtschaftet die Ostindische Kompanie zwar Profite, der englische Staat aber konstatiert eine negative Handelsbilanz und fortwährenden Abfluss englischen Silbers nach China.

Um das zu ändern, verkaufen die Briten Opium nach China. Opiumkonsum ist in China offiziell verboten, der Handel damit ebenso. Zunächst wird es auf den Schiffen der Ostindischen Kompanie geschmuggelt. Als sich zeigt, dass es gut absetzbar ist, steigt die Kompanie in die Produktion ein: Sie lässt den Mohn in ihren indischen Kolonialbesitzungen anbauen und von privaten Händlern in die chinesischen Häfen bringen. Der Erfolg für die englische Handelsbilanz ist durchschlagend; die indischen Kolonien beziehen in der Folge 1/7 ihrer Einkünfte aus dem Opiumhandel. Ebenso durchschlagend sind allerdings die Folgen für China, weil das »Rauschgift ... gleichermaßen verderblich auf Moral, Staatssäckel und Gesundheit im blumigen Reich der Mitte wirkt« (Karl Marx in der New York Daily Tribune; vgl. Marx 1955). Allein zwischen 1829 und 1840 fließen 45 Millionen Silberdollar aus China ab, 6 Millionen Chinesen sind opiumsüchtig, die mit dem Opiumschmuggel verbundene Korruption wirkt demoralisierend auf die chinesischen Beamten, die ihre fürsorgliche Seite zunehmend fahren lassen und damit ihre (und des Kaisers) Autorität beim Volk verlieren.

Der chinesische Hof beschließt 1839, praktisch gegen den Opium-Handel vorzugehen; ein Beamter6 setzt britische Händler gefangen und beschlagnahmt Schiffsladungen. Das nimmt England zum Anlass, einen Krieg gegen China zu führen, der ihm endlich umfassende neue Freiheiten verschafft. Mit dem »Opiumkrieg« und dem anschließenden Vertrag von Nanjing (1842) beginnt eine ganze Reihe von militärischen Auseinandersetzungen und Friedensschlüssen. Neben England und Frankreich, Amerika, Schweden, Norwegen, Belgien bringen sich auch die neu in imperialistische Weltpolitik einsteigenden Mächte Japan und Russland, schließlich auch die ewig verspätete Nation Deutschland ins Spiel, teilweise unmittelbar kriegerisch, teilweise mehr im Windschatten der anderen segelnd.

Die damit beginnende Öffnung Chinas ist ein regelrechtes Lehrstück über die imperialistische Erschließung der Welt und den Zusammenhang von privatem Geschäft und staatlicher Gewalt. Aufstrebende und buchstäblich weitblickende Geschäftsleute beanspruchen auf dem gesamten Globus Freiheit für sich und ihre Profitinteressen. Dieser Wunsch stößt in China auf Ablehnung, und zwar in Gestalt einer immerhin so durchorganisierten staatlichen Gewalt, dass diese nicht (wie in vielen anderen Fällen) einfach zu ignorieren oder zu übergehen ist. Das heißt keineswegs, dass man das Land in Ruhe lässt. Die wenigen zugebilligten Geschäfte werden mitgenommen. Sehr schnell registriert man an ihnen, dass sie »zu beschränkt sind« – sowohl vom Standpunkt der Kaufleute wie dem der nationalen Handelsbilanz. Also wird der Anspruch auf Geschäft und Gewinn, den man sich gegenüber diesem Land wie ein Recht herausnimmt, mit aller Gemeinheit und Gewalt durchgesetzt. Das zersetzt das Land nach innen und bringt – von unten wie von oben – praktischen Aufruhr gegen die »barbarischen Ausländer« hervor. Natürlich bedeutet das nicht, dass diese nun abziehen. Ganz im Gegenteil ruft es deren Regierungen erst recht auf den Plan. Diese wollen das Geschäftemachen ihrer rührigen Bürger gegen alle Widerstände ins Recht setzen; dafür zetteln sie regelrechte Kriege an. Dafür bemühen sie sich (auch das schon sehr modern!) um einwandfreie Legitimationstitel – schließlich sollen auch die anderen Staaten ihr Vorgehen anerkennen und die Öffentlichkeit zuhause alles moralisch in Ordnung finden.

»Dass ein Riesenreich, das nahezu ein Drittel der Menschheit umfasst, das durch künstliche Abkapselung vom allgemeinen Verkehr isoliert, langsam durch die Jahrhunderte dahinvegetiert und es deshalb zuwege bringt, sich mit Illusionen über seine himmlische Vollkommenheit zu täuschen – dass solch ein Reich schließlich zugrunde gehen muss in einem tödlichen Zweikampf, in dem der Vertreter der alten Welt aus ethischen Beweggründen handelt, während der Vertreter der überlegenen modernen Gesellschaft für das Privileg kämpft, auf den billigsten Märkten zu kaufen und auf den teuersten zu verkaufen – das ist wahrlich ein tragischer Abgesang, wie ihn seltsamer kein Dichter in seinen kühnsten Visionen ersinnen könnte.«

Karl Marx für die New York Daily Tribune, 20. September 1858, in: Marx 1955: 70 (weitere Berichte von Marx zum China-Handel und Englands Militäraktionen siehe renatedillmann.de)

Nach jedem Kriegserfolg gegen die militärisch unterlegene chinesische Regierung werden passende Verträge ausgehandelt. Insoweit wird der »Sohn des Himmels« also noch anerkannt; vermutlich weniger, weil seine Gewalt über Land und Leute für die Umsetzung der Verträge gebraucht wird, als deshalb, weil die imperialistischen Mächte sich in ihrer Konkurrenz um China wechselseitig ausbremsen. Mit Verträgen, die ziemlich offenherzig »ungleiche« genannt werden, wird China peu à peu gezwungen,

 Land abzutreten (Hongkong, Kowloon, die New Territories),

 immer mehr Häfen und Handelsplätze zu öffnen,

 immer mehr Produkte in Zolltarife aufzunehmen und damit zum Verkauf zuzulassen (u.a. Opium),

 für alle Ausländer das Prinzip der Exterritorialität anzuerkennen (d.h. sie sind wie sonst nur diplomatische Vertreter eines Landes »immun« und unterstehen ihrer eigenen Gerichtsbarkeit),

 christliche Missionare frei im Land wirken und Religionsfreiheit zuzulassen,

 ein »Amt für auswärtige Angelegenheiten« einzurichten, d.h. die Auseinandersetzung mit den Anliegen der Ausländer im Land zum Bestandteil ihrer Regierungstätigkeit zu machen,

 die Gründung von Industriebetrieben und den Bau von Eisenbahnlinien durch Ausländer zuzulassen,

 über die »Meistbegünstigungsklausel« das jeweils von einem Staat durchgesetzte Recht gleich allen anderen zuzubilligen,

 immense »Entschädigungen« für die verlorenen Kriege zu zahlen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die chinesische Gesellschaft bereits enorm verändert. Opiumhandel und die zerstörerische Konkurrenz ausländischer Produkte haben die bisherige Ökonomie angegriffen. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg gibt es erste industrielle Produktionsstätten, die von Ausländern betrieben werden. Während in den meisten kolonialisierten Ländern lediglich Rohstoffe gewonnen und zur Weiterverarbeitung in die entwickelten Industriestaaten exportiert werden,7 stellt das geöffnete China in dieser Beziehung einen Sonderfall dar. Auf Basis der im Land verbreiteten Handwerkskunst und bereits vorhandener Manufakturen und – dank der einsetzenden Landflucht – extrem billiger Löhne erscheint der Aufbau einiger Produktionsstätten, vor allem in der Textilproduktion (Baumwolle und Seide), lohnend. In Shanghai und an der Ostküste, günstig gelegen für den Transport nach Europa und Amerika, werden deshalb Fabriken betrieben; Japan ist im Nordosten aktiv (und übernimmt nach 1919 die deutschen Konzessionen in Qingdao).

Die Zustände in diesen Fabriken spotten jeder Beschreibung – die »Arbeitsbedingungen in China« sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts »vermutlich die schlimmsten in der ganzen Welt, Japan und Indien nicht ausgenommen« (Thomas Chu, Vorstand der industriellen Abteilung des Christlichen Vereins Junger Männer (YMCA), der 1924 eine Untersuchung durchführt, zit. in: de Beauvoir 1960: 174ff.).

Rewi Alley, ein Neuseeländer, der ab 1932 für den Stadtrat von Shanghai als Fabrikinspektor arbeitet und später der KPCh beitritt, schreibt: »Einmal rief man mich in eine Fabrik, wo der Direktor gerade einen Lehrling totgeprügelt hatte. Zur Rede gestellt, entgegnete der Gentleman: ›Der Bursche hat ohnehin nichts getaugt.‹ Die Polizei verhaftete den Direktor zwar, doch ein paar Monate später sah ich ihn wieder lächelnd hinter seinem Schreibtisch sitzen. Es gehörte wahrhaftig nicht viel dazu, einen Kuli ins Jenseits zu befördern. (...) Übelriechende Aborte und nirgends eine Waschgelegenheit, verdorbene Nahrung, blutendes Zahnfleisch und entzündete Augen, Fußtritte, Prügel und Unglücksfälle am laufenden Band – das war der Lohn dieser Arbeitssklaven, die niemand als menschliche Wesen betrachtete... Unvergesslich sind mir auch die Werkstätten einer Farbenfabrik, wo die jungen Arbeiter in dem ätzenden Staub der Chromsalze schlafen mussten, der ihnen Hände und Füße bis auf die Knochen zerfraß.«

zit. nach de Beauvoir 1960: 176f.

Aufrüstungs- und Kriegskosten haben die Finanzen des chinesischen Staats zerrüttet. China ist bei europäischen Bankenkonsortien hoch verschuldet. Schon die alten Steuern waren für die Bauern kaum tragbar; nun kommen neue hinzu, steigern die Armut und führen vermehrt zu Aufständen.8 Korruptheit und der demoralisierte Zustand der Beamtenschaft untergraben die staatliche Autorität; chinesische Unternehmen und Schmuggler machen sich die »exterritorialen« Privilegien der Ausländer zunutze und unterhöhlen das geltende Recht- und Steuerwesen; Kriminalität und Bandenwesen machen sich breit.

Als Reaktion auf den Zustand des Landes rührt sich zunehmend und auf verschiedenen Ebenen nationaler Widerstand. Das »Nationale« an diesem Aufbegehren ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: Einerseits richtet sich Feindseligkeit und Hass auf die ausländischen Mächte, deren Wirken als ruinös für China und deren Kriegshandlungen wie Friedensschlüsse als demütigend begriffen werden. In diesem nationalen Gefühl gegen die unerwünschten Ausländer sind sich – über alle existierenden sozialen Gegensätze hinweg – Chinesen aus allen Klassen und Schichten einig. Offensichtlich existiert im kaiserlichen China die Vorstellung einer chinesischen Identität, einer Zusammengehörigkeit von Volk und Herrschaft, bzw. bildet sich ein solches Nationalgefühl im modernen Sinn als Reaktion auf das Eindringen der Ausländer heraus. Andererseits zielt der Protest auch auf den regierenden Mandschu-Kaiser. Modernen, patriotisch denkenden Chinesen – in den meisten Fällen Söhne reicher Familien, die im westlichen Ausland oder in Japan studiert haben – gilt die Mandschu-Dynastie, gegen die es von Anfang an vor allem in der herrschenden chinesischen Klasse Vorbehalte gab, immer mehr als Fremdherrschaft. Ihr wird vorgeworfen, dass sie, weil fremd, die Ausländer und ihre expandierenden Ansprüche nicht konsequent bekämpft, sondern ihrer eigenen Machterhaltung zuliebe mit ihnen gemeinsame Sache macht. Angesichts der Schwäche der chinesischen Regierung finden sich genügend Anhaltspunkte für den Vorwurf nationalen Ausverkaufs, sowohl in den »ungleichen Verträgen«, den erzwungenen ökonomischen Konzessionen (etwa beim Eisenbahnbau)9 wie bei politischen Vereinbarungen.10 So wird letztlich die im Vergleich mit den modernen kapitalistischen Staaten wahrgenommene ökonomische, politische und kulturelle Rückständigkeit Chinas als Werk einer unchinesischen Führung gedeutet.

Die nationale Ausrichtung der Widerstandsbewegungen findet in verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Interessenlagen jeweils besondere Ausprägungen:

 Ein Teil des Volks lässt seine Wut über die zunehmend elenden Zustände unmittelbar an den verhassten Ausländern aus. In Hongkong werden Brote vergiftet, die für westliche Geschäftsleute bestimmt sind; christliche Missionare werden ermordet; in den Fabriken gibt es Fälle von Maschinenstürmerei. 1899/1900 organisieren die Boxer, eine Volksbewegung zur Selbstverteidigung, die nach dem chinesisch-japanischen Krieg großen Zulauf unter den Flüchtlingsmassen in Shandong findet, einen zunächst anti-christlichen, dann allgemein fremdenfeindlichen Aufstand. Aufstände und Rebellionen dieser Art werden im Normalfall von der chinesischen Regierung blutig niedergeschlagen; der Boxeraufstand, den der kaiserliche Hof ein Stück weit berechnend angestachelt hat, wird dagegen von einer gemeinsam aufgestellten Truppe aller imperialistischen Mächte unter deutscher Führung niedergekämpft.

 Teile der alten politischen Klasse Chinas, Beamte aus der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, hohe Provinzbeamte, aber auch Intellektuelle (Literaten) protestieren gegen den Verlust an Macht und Prestige, den China durch die zu nachgiebige Behandlung der Ausländer erfährt. Sie versuchen, das alte System durch Reformen zu retten; so gibt es unter anderem eine sehr populäre »Selbststärkungsbewegung«, die pur chinesisch finanzierte Eisenbahnen, die sogenannten Volksbahnen, baut.

 Eine neu entstehende Schicht von patriotisch denkenden chinesischen Intellektuellen und Angehörigen freier Berufe (Rechtsanwälte, Ärzte, Unternehmer) will China durchgreifend modernisieren – wobei wiederum sehr verschiedene Vorstellungen zum Zug kommen. Während die chinesischen Unternehmer sich vor allem gegen ökonomische Beschränkungen wenden, die sie in ihrer Konkurrenz mit den Ausländern erfahren, orientieren sich andere am politischen Vorbild der erfolgreichen kapitalistischen Mächte: So wie diese in jeder Hinsicht überlegenen Staaten soll das zukünftige China aussehen, ein freies und souveränes Land mit einem aufgeklärten und gebildeten Volk. Bewegungen aller Art – religiös-sozial, bildungs- oder reformorientiert, umstürzlerisch – werden in großer Zahl gegründet; so auch die »Gesellschaft zur Wiedererrichtung Chinas«, die 1894 von Sun Yatsen ins Leben gerufen wird, einem Arzt, der in Japan und den USA studiert hat. Sie wird 1912 mit anderen kleinen Parteien zur Guomindang Partei vereinigt. Angesichts der herrschenden Verhältnisse von Geschäft & Gewalt in ihrem Land sind die bürgerlich-nationalen Reformideen ein einziger Idealismus. Aufgrund ausbleibender Erfolge radikalisieren sich immer mehr ihrer Protagonisten: In der »verkommenen« und zu Reformen nicht bereiten Mandschu-Herrschaft machen sie zunehmend das Hindernis für ein neues, modernes China aus.

Nach zehn erfolglosen Versuchen wird die letzte Dynastie 1911 schließlich weggeputscht und eine chinesische Republik ausgerufen.11 Das beseitigt allerdings wenig von den Problemen, denen sich China gegenübersieht: Weder ziehen sich die westlichen Ausländer aus Respekt vor der neuen volkssouveränen Herrschaft zurück, noch ändert sich etwas an den materiellen Grundlagen von Volk und Staatsgewalt. Letztere muss sich ganz im Gegenteil gegen eine ganze Reihe von separatistischen Aufständen behaupten, die der Zerfall der kaiserlichen Macht auf den Plan gerufen hat, und sieht sich darüber hinaus mit den sogenannten »21 Forderungen« Japans konfrontiert, die aus China eine Art japanisches Protektorat machen wollen. Das staatliche Gewaltmonopol zerfällt zusehends; das Land wird de facto von einzelnen regionalen Militärdiktatoren (warlords) und ihren kriegerischen Auseinandersetzungen beherrscht.

Die imperialistischen Mächte, die China als Geschäftssphäre benutzen wollen, sehen sich insofern nicht nur mit Unwilligkeit, sondern auch mit zunehmender Unfähigkeit konfrontiert. Weil staatliche Funktionen wie das Eintreiben der Steuern und Zölle nicht mehr zentral funktionieren, kann China seine Schulden nicht mehr bedienen; der chinesische Kredit leidet – und damit die Möglichkeit des Auslands, in China Geld zu verdienen. Das darf nicht sein; auf Schulden und Zinsen wollen die Gläubigerstaaten auch nicht ohne Weiteres verzichten. Also greifen sie im Interesse an der Fortführung ihres Geschäfts mehr und mehr direkt in Staatsfunktionen ein: Im Seezolldienst, Postwesen und anderen Behörden fungieren ausländische Beamte als von der chinesischen Regierung bezahlte Verwalter, die einkassierte Gelder statt in den chinesischen Staatshaushalt direkt an eine internationale Bankenkommission in Shanghai weiterleiten.

»Die Kommunalpolitik unterstand dem Stadtrat von Schanghai, der 1910 noch von englischen Kaufleuten beherrscht wurde. Der Stadtrat erweiterte seinen Bereich durch den Bau äußerer Straßen. Er beschäftigte chinesisches Personal, die Polizei bestand aus indischen Sikhs. Das Seezollamt unterstand einem englischen Generalinspektor. Alles drehte sich hier um den Handel. Es gab noch Pferderennen; heute ist der Rennplatz ein Park. Die YMCA (Christlicher Verein junger Männer) wirkte zivilisierend, ebenso wie die protestantischen und katholischen Schulen. Die Masse der chinesischen Arbeiter, die aus den unerschöpflichen Menschenreserven des flachen Landes hereinkam, war nicht gewerkschaftlich organisiert. Gewerbeschutzgesetze entwickelten sich nur langsam. Die chinesische Bevölkerung wuchs und wuchs, weil hier ein Zentrum des Handels und der Industrie war und sich eine Zuflucht vor den Plünderungen der Generale bot.

In dieser halbkolonialen Situation hatte die chinesische Regierung wenig zu sagen. Das internationale Viertel und die angrenzende französische Konzession unterstanden nicht der chinesischen Gerichtsbarkeit. Nur am Rand der Stadt war etwas von der chinesischen Regierung zu bemerken. Ein chinesischer Richter war der Konsularverwaltung bei der Behandlung von Fällen behilflich, die Chinesen betrafen. Bis 1925 gab es ein gemischtes Gericht, ungefähr die einzige Vertretung chinesischer Staatsgewalt.

Die chinesische Bevölkerung lebte rechtlich in einem Vakuum. Es wurde von einer Unterwelt ausgefüllt, die von der »Grünen Bande« beherrscht war. Diese Bande hielt ihre Mitglieder mit Geld und Gewalt zusammen. Sie betrieb alle Laster einer modernen Großstadt: Prostitution, Erpressung und Rauschgifthandel. Mit der ausländischen Polizei, besonders der französischen, gab es eine stille Zusammenarbeit. Opium aus dem Gebiet oberhalb der Stadt fand zunehmend den Weg nach Schanghai. Der Stadtrat war gegenüber dieser Tätigkeit machtlos, es kam zu einer Art Vernunftehe zwischen den Ausländern und der chinesischen Unterwelt. Die hier wohnhaften Ausländer, nur wenige Tausend an der Zahl, fühlten sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Chinesen von Natur aus lasterhaft, Betrüger und Erpresser waren.«

Fairbank 1989: 184f.

Im Ersten Weltkrieg erklärt China Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg – auf Anraten Englands und der USA, gegen die Interessen Japans, das China international klein halten will. Militärisch besteht der Beitrag des Landes, seinen Möglichkeiten entsprechend, darin, etwa 140.000 chinesische Arbeiter zum Ausheben von Schützengräben nach Frankreich abzuordnen. Chinas Hoffnung, als Mit-Kriegsgewinner eine Revision der »ungleichen Verträge« zu ernten, wird in Versailles enttäuscht; stattdessen wird Japan in die deutschen Besitzungen (Shandong) eingesetzt. Dagegen erhebt sich unter Führung von Studenten aus Beijing Protest (»Bewegung vom 4. Mai 1919«), der sich auf andere Universitäten ausbreitet; Teile der städtischen Bevölkerung schließen sich an (Professoren & Lehrer, Kaufleute) mit einem Boykott japanischer Waren, Unternehmer & Arbeiter in Shanghai mit einwöchigem Streik). Die Bedeutung dieser Bewegung liegt weniger in ihren praktischen Erfolgen – die chinesische Regierung verweigert letzten Endes ihre Unterschrift unter den Versailler Vertrag – als vielmehr darin, dass sich in ihr die entscheidenden Akteure der Folgezeit herauskristallisieren:

 Die 1912 gegründete Guomindang (Nationale Volkspartei, GMD), die nach dem Putsch von 1911 die ersten Wahlen gewonnen, zugunsten einer starken Zentralgewalt aber sehr staatskonstruktiv auf einen Eintritt in die Regierung verzichtet hatte und 1913 verboten wurde, organisiert sich unter Sun Yatsen neu. Ihr Programm ist jetzt antiimperialistisch und enthält auch sozialpolitische Forderungen. Nach dem Erfolg der kommunistischen Revolution in Russland organisiert sie sich als Kaderpartei nach leninistischem Vorbild und knüpft – nachdem sich Sun lange Zeit erfolglos um westliche Unterstützung für sein Programm bemüht hat – ab 1923 Verbindungen zur Sowjetregierung (Ausbildung in Moskau, Hilfe beim Aufbau einer Armee).

 1921 gründet sich die KP Chinas, motiviert durch den Erfolg der kommunistischen Revolution im ebenfalls unterentwickelten Russland. Die sowjetische Führung hält China nicht geeignet für die Durchführung einer sozialistischen Revolution. Sie setzt auf eine »nationale Revolution« und propagiert eine Einheitsfront beider Parteien, die diese auch eingehen.12 1927 erklärt Ciang Caishek, der nach Sun Yatsens Tod (1925) die Parteiführung der Guomindang erobert, die Kommunisten zur unerwünschten Konkurrenz und lässt sie massenhaft umbringen (etwa 40.000). Der Rest der KP geht in den Untergrund.

Von 1928 bis 1949 regiert die Guomindang in China. »Ziel war es, die Bevölkerung an die Demokratie heranzuführen, einen modernen Nationalstaat aufzubauen, die Industrialisierung voranzutreiben, das Problem der ungleichen Landverteilung zu lösen, die Zoll- und Rechtshoheit wiederherzustellen und China zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft zu entwickeln.« (Stichwort Guomindang, CL: 284)

Diese Ziele zeugen vor allem davon, was es in China nicht gibt: ein durchgesetztes Gewaltmonopol, eine industrielle Basis, verlässliche Staatseinnahmen. Deren Vorhandensein wäre allerdings die entscheidende Voraussetzung dafür, die Mittel zu liefern, mit denen das Land den imperialistischen Mächten, die es nach wie vor zu ihrem Nutzen und seinem Schaden ausplündern, Paroli bieten und sich »zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft« entwickeln bzw. »einen modernen Nationalstaat« aufbauen könnte. Insofern fordert das Programm die Quadratur des Kreises. Anders gesagt: Die Zerstörung der alten Gesellschaft durch die imperialistischen Mächte erzeugt in China das Bedürfnis nach einer »bürgerlichen Revolution«, einem »modernen Nationalstaat«. Gleichzeitig ist die fortwährende ökonomische Ausbeutung Chinas wie die damit einhergehende Zerstörung der chinesischen Staatsgewalt durch die Imperialisten aber auch der Grund, warum ein solches Programm notwendigerweise scheitert.

Ciang Caishek hat das im Lauf der 1930er Jahre als mangelnden Erfolg seines »nationalen Aufbruchsprogramms« registriert, erst als zunehmende Schwäche der Zentralregierung, dann angesichts der Besetzung der Mandschurei durch Japan. Dagegen hat er konsequent auf militärische Durchsetzung gesetzt, in erster Linie gegen den inneren Feind, die Kommunisten: Er führt mehrere Kriegszüge gegen die KP, die 1934 fast ausgerottet ist (Beginn des »Langen Marsches«). Politisch hat er mehr und mehr Anleihen bei den europäischen Faschisten gemacht (Bewegung »Neues Leben« ab 1934, zunehmende Unterdrückung der Intellektuellen und des linken Parteiflügels).

Von 1937 bis 1945 führt China einen Verteidigungskrieg gegen Japan. Japan will endlich »eine grundlegende Lösung« herbeiführen, d.h. China erobern und kolonisieren, und rechnet damit, dass die anderen Mächte (England, USA, Sowjetunion) sich heraushalten. Die SU erklärt sich allerdings bereit, die chinesische Armee mit Flugzeugen und Panzern auszurüsten. Die Komintern hat 1936 zur Bildung einer Einheitsfront gegen die japanische Aggression aufgerufen, die KP der Guomindang noch während des »Langen Marsches« ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Zu dessen Annahme kann sie Ciang Caishek erst bringen, als patriotische Generäle gegen den »Generalissimus« rebellieren, weil er den Kampf um die Befreiung Chinas von den Japanern vernachlässigt und stattdessen seine Mittel für den Bürgerkrieg gegen »die Roten« einsetzt.

Im Kriegsverlauf setzt die Guomindang den Japanern im Süden wenig entgegen; 1941 wendet sie sich erneut gegen die Kommunisten und vernichtet eine ganze Armee der KP. Diese behauptet sich mittels Guerillakrieg im Norden besser. Die Japaner verlieren in China keine offene Schlacht, der militärische Beitrag Chinas zur Niederringung Japans besteht (nach Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA) vor allem darin, dass japanische Kräfte gebunden werden; die Zahl der chinesischen Opfer dafür liegt zwischen 15 und 20 Millionen Toten (!). Die Kriegsleistung Chinas bringt Ciang Caishek die Anerkennung der alliierten Kriegsmächte ein (Teilnahme an der Konferenz von Kairo 1943, neben Roosevelt und Churchill). 1943 verzichten England und USA auf ihre »exterritorialen Rechte«, 1945 gehört China offiziell zu den Kriegsgewinnerstaaten, gilt als »souverän« und soll in Roosevelts Vision der neuen internationalen Ordnung die vierte Macht neben USA, UdSSR und Großbritannien sein. Das begründet auch Chinas Sitz im Sicherheitsrat der neu gegründeten Vereinten Nationen.

Nach der japanischen Kapitulation im August 1945 beginnt der offene Bürgerkrieg zwischen Guomindang und KP. Obwohl die GMD die erheblich bessere Ausgangsposition hat (3 Millionen Soldaten, alle großen Städte, massive Unterstützung durch die USA) setzen sich die Kommunisten (1 Million Soldaten, Unterstützung durch die SU, die ihnen erbeutete japanische Waffen zuspielt) durch. Kriegsentscheidend ist, dass Mao Zedong die Bauern für sich gewinnt. Die KP verspricht den Bauern eine Bodenreform und setzt dieses Versprechen in »ihren« Gebieten auch prompt in die Tat um. Am Ende zieht sich die Guomindang nach Taiwan zurück, um von dort aus ihren Kampf um China fortzusetzen.

China – ein Lehrstück

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