Читать книгу China – ein Lehrstück - Renate Dr. Dillmann - Страница 28
„Separatismus“
Оглавлениеstellt übrigens für jeden Staat, ganz unabhängig von seiner Staatsform, einen Angriff auf sich, auf seine Hoheit über Land und Leute, dar; er ist eine Infragestellung seines Gewaltmonopols. Auch in Demokratien steht die Zugehörigkeit zu einem Staat nicht zur Wahl bzw. zur Abstimmung, nicht im Baskenland, in Nordirland, in Kurdistan, Korsika oder in Katalonien. Abgesehen von einigen erklärenswerten Sonderfällen, in denen die Trennung von alten Staatszusammenhängen friedlich über die Bühne gegangen ist, ist so etwas deshalb normalerweise Resultat eines Kriegs oder Bürgerkriegs.
Kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich einmal vor, in Hamburg würden einige Bürger ernsthaft einen Austritt ihrer „Hansestadt“ aus der Bundesrepublik Deutschland verlangen und über einen Zusammenschluss mit England nachdenken. Entsprechende Proteste würden von ausländischen Geheimdiensten betreut, von England und den USA finanziell und von China diplomatisch unterstützt. Was wäre da wohl los?
Soweit die Seite der chinesischen Regierung, schauen wir auf die der Protestierenden. Was ist das Ziel dieser separatistischen Bestrebung – wenn man sich dafür schon mit dem als „schrecklich“ beschworenen chinesischen Gewaltapparat anlegt? Wird ein gutes Leben gefordert? Grund dafür gäbe es reichlich. Denn die Lebensbedingungen an diesem „liberalsten Finanzplatz“ der Welt sehen nicht sonderlich gut aus – jedenfalls für diejenigen, die nicht viel Geld mit Handels- oder Bankgeschäften verdienen. 20 % der Hongkonger leben unter der Armutsgrenze (das ist schlechter als in Festland-China); die Bezeichnung „Cage people“ beschreibt anschaulich die Wohnverhältnisse eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung, der buchstäblich in Käfigen haust; bis 2000 (also unter britischer Herrschaft, die bis 1997 dauerte) gab es keinerlei Altersvorsorge, erst seit 2017 gibt es eine Krankenversicherung, 40 % der Bevölkerung leben mit Sozialhilfe, die ebenfalls erst 2000 eingeführt wurde; die Arbeitszeit liegt mit durchschnittlich 51,5 Stunden erheblich höher als auf dem Festland (44 Stunden). Der KP nahestehende Parteien fordern in Hongkong die Einführung eines Mindestlohns; die KP selbst ist in diesem Hort der Liberalität übrigens bis 2047 (Ende der Übergangsphase) verboten.
Mit all dem beschäftigen sich in der Hongkonger Protestbewegung vielleicht einige Linke; das Gros der Bewegung aber will die politische Bevormundung durch Beijing beenden und ist darin ganz bürger-rechtlich (und, wie man hört, teilweise recht rassistisch anti-chinesisch): für Freiheit, Wahlen und eben einen eigenen Staat Hongkong.56 Mag sein, dass das für einige Leute mit Vermögen oder Ambitionen auf gutbezahlte Jobs oder auch schlecht bezahlte Karrieren vorteilhaft ist.
Mag sein, dass das sogar ganz angemessene Forderungen für eine studentische Jugend sind. Denn angesichts schlechter ökonomischer Perspektiven Hongkongs in einem China, das diesen Verbindungspunkt zum Westen immer weniger braucht, weil es zunehmend selbst über dessen alte Vorteile (Handel und Finanzmarkt) verfügt, erscheint es der zukünftigen Elite vielleicht tatsächlich vielversprechender, wieder Teil eines britisch-amerikanischen Einfluss- oder sogar Herrschaftsgebiets zu werden. Damit machen sie sich durchaus bewusst zum Spielball außenpolitischer Schachzüge gegen die Volksrepublik.57 Für die große Menge der Hongkong-Bewohner gilt aber mit Sicherheit dasselbe wie überall auf der Welt: Ihnen ist nicht mit einem „eigenen“ Staat gedient, der denselben Kapitalismus etwas weniger autoritär verwaltet. Sie müssten sich für ihr Interesse an einem besseren Leben gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung und deren staatliche Verwalter wenden – in Hongkong ebenso wie auf dem chinesischen Festland.
So eindeutig das Bild also auf den ersten Blick erscheint – hier das große autoritäre China mit Auslieferungsabkommen, Sicherheitsgesetz und prügelnder Polizei, dort der kleine, lebenslustige Stadtstaat, dessen Jugend sich ihrer demokratischen Rechte bewusst ist und sich nicht einschüchtern lässt. Wer wäre da nicht auf Seiten des mutigen kleinen David? – so sehr liegt es eigentlich daneben. Eher zeigt sich ein weiteres Mal, dass Separatismus nicht mit Sozialismus zu verwechseln ist …