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Wie Gehirne jung bleiben

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Noch vor Kurzem galt als gesichert, dass menschliche Gehirne nach einer Wachstumsphase in Kindheit und Jugend spätestens ab vierzig ständig Nervenzellen einbüßen. Nichts lag deshalb näher, als älteren und alten Menschen im Gegensatz zu jungen eine verminderte geistige Leistungsfähigkeit zuzuschreiben. Doch dann wurden die adulte Neurogenese und die Neuroplastizität entdeckt. Kurz gesagt bedeutet das: Ja, es sterben Nervenzellen im Gehirn ab, doch es können sich zeitlebens auch neue bilden, und zwar bis zum Tod. Einige Neurowissenschaftler*innen gehen sogar davon aus, dass das Absterben von Gehirnzellen Teil des Lernprozesses unseres Gehirns ist.

Außerdem ist unser Gehirn in jedem Alter formbar. Es passt sich an veränderte Anforderungen an. Mit anderen Worten: Sprichwörter wie »Alte Hunde lernen keine neuen Tricks« und »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« sind seit etwa einem Vierteljahrhundert widerlegt. Der Mythos von Verfall und Verlust beim Älterwerden hielt wissenschaftlicher Überprüfung nicht stand.

Das sind ebenso umwälzende Entdeckungen wie die, dass die Erde keine Scheibe ist und sich außerdem um die Sonne dreht. Die neuen Erkenntnisse über unser Gehirn sind so revolutionär, dass sie in all ihren Konsequenzen noch nicht bei jeder und jedem voll angekommen sind.

Auf jeden Fall hat Hans es plötzlich schwerer, wenn er nichts mehr lernen möchte, und die alten Hunde ebenso. Andererseits kann Grete begreifen, dass sie weder dazu verdammt ist, im Alter langsam, aber sicher senil zu werden, noch dass irgendetwas dagegenspricht, Neues und Ungewohntes zu tun. Ganz im Gegenteil: Bei einem Experiment mit Sechzig- bis Achtzigjährigen hat es sich als ausgesprochen hilfreich erwiesen, Klavierspielen zu lernen. Nach nur sechs Monaten Training waren die Klavierspieler*innen weniger vergesslich, sprachen flüssiger und konnten Informationen besser verarbeiten als Personen einer Kontrollgruppe ohne Musikunterricht.

Als ich das las, musste ich sofort an Alice Herz-Sommer denken. Sie ist eines meiner Vorbilder, was gutes Altern betrifft.

Herz-Sommer wird 1903 in Prag geboren. Sie wächst in einem wohlhabenden, kultivierten Elternhaus auf, in dem Künstler und Schriftsteller – u.a. Franz Kafka, Thomas Mann, Stefan Zweig und Rainer-Maria Rilke – ein und aus gehen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ist Alice Herz-Sommer auf dem besten Weg, eine hervorragende Konzertpianistin zu werden. Doch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wird sie ebenso wie ihr Mann und ihr kleiner Sohn Rafi in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Im Lagerorchester kann Herz-Sommer weiter Klavier spielen. Sie gibt über hundert Konzerte für ihre Mitgefangenen und ist an der Aufführung der berühmten Kinderoper »Brundibar« beteiligt.

»Die Musik hat meine Seele gerettet«, sagt Herz-Sommer später über diese schreckliche Zeit. Sie und ihr Sohn überleben. Doch ihr Ehemann, ihre Mutter und viele Freund*innen werden von den Nazis ermordet. Herz-Sommer übersiedelt nach Israel und ist weiter als Pianistin und Klavierlehrerin aktiv. Die Musik und das Klavierspielen sind ihr Lebensinhalt. Außerdem schließt sie viele Freundschaften weltweit und baut sich einen Kreis Gleichgesinnter auf. Mit dreiundachtzig Jahren entschließt Herz-Sommer sich, nach London zu ziehen, wo ihr Sohn als Musikprofessor lebt. Mit hundertundacht Jahren ist sie die älteste Holocaust-Überlebende und zugleich die älteste Konzertpianistin der Welt. Sie sagt: »Der Geist ist die beste Arznei für den Körper.«

Schaut man sich Fotos von ihr an, gibt es kaum eines, auf dem sie nicht über das ganze Gesicht strahlt. Im Februar 2014 stirbt sie mit hundertzehn Jahren in London.

Ich denke, es war nicht das Klavierspielen als solches, das Alice Herz-Sommer ein trotz aller Katastrophen so erfülltes und glückliches Leben ermöglicht hat. Wesentlicher scheint mir, dass sie sich zeitlebens mit dem beschäftigt hat, was sie liebte. Davon hat sie sich niemals abbringen lassen, und diese Begeisterung hat sie über alle Schwierigkeiten hinweggetragen.

Unser Gehirn können wir ebenso wie unsere Muskeln trainieren. In Übung zu bleiben ist nicht nur ein Leben lang möglich, sondern auch nötig. In der Jugend sind Menschen viel selbstverständlicher aktiv und immer dabei, Neues zu lernen. Genau das ist es, was uns auch im Alter wohltut.

Wie wäre es, wenn du mindestens einmal in der Woche etwas machst, das du noch nie oder seit ewigen Zeiten nicht mehr getan hast? Was reizt dich schon lange? Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, aktiver zu werden.

Wer keine Falten hat, hat nie gelacht

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