Читать книгу Wer keine Falten hat, hat nie gelacht - Renate Georgy - Страница 8
Neugeborene haben den höchsten Pflegegrad
ОглавлениеZugegeben, süß sind sie ja, die Babys. Diese klitzekleinen Händchen und Füßchen, diese Knubbelnäschen, diese Ärmchen und Beinchen mit Speckfalten. Man muss sie einfach knuddeln und wiegen und ans Herz drücken. Das hat die Natur mit der Erfindung des Kindchenschemas sehr klug eingerichtet. Menschen – nicht alle und nicht immer, schon klar – fliegen auf Niedlichkeit. Das Bedürfnis, etwas so Kleines und Hilfloses zu beschützen, entstammt unserem archaischen Erbe. Anders hätten Menschen sich niemals so rasant vermehren und über die Erdkugel verbreiten können. Denn so bezaubernd diese kleinen zarten Wesen sein können, auch die gewünschtesten Wunschkinder bringen ihre Eltern hin und wieder dem Wahnsinn nahe. Schlaflose Nächte, stundenlanges Mark und Bein erschütterndes Schreien und Rund-um-die-Uhr-Sorge sind dabei nur die Spitze des Eisberges, der Mutter- oder Elternschaft heißt. Es wird selten so benannt, aber Neugeborene und Babys haben allesamt den höchsten Pflegegrad. Ganz im Gegensatz zu den meisten Hochbetagten. 60 Prozent der Fünfundachtzig- bis Neunzigjährigen und 40 Prozent der über Neunzigjährigen benötigen nämlich KEINE Pflege. Von den Sechzig- bis Achtzigjährigen sind sogar lediglich 3,5 Prozent pflegebedürftig. Die Neuankömmlinge auf der Erde dagegen können zu 100 Prozent weder alleine essen noch aufs Klo gehen oder sich anziehen. Und noch gravierender: Sie wissen durchweg nicht, was sie gestern Nachmittag gemacht haben und wo ihre Nase ist.
Während wir aber das mühsame Aufrichten und Fortbewegen einer Neunzigjährigen im Pflegeheim oft mitleidig oder gar mit Entsetzen beobachten, klatschen wir bei vergleichbaren Bemühungen eines wenige Monate alten Babys entzückt in die Hände: Guck doch mal, was dieses kleine Wunderwesen schon alles kann!
Ja, ich weiß, zwischen etwas NOCH können und etwas SCHON können besteht ein Unterschied. Im ersten Fall meinen wir die Abwärtskurve geradezu greifen zu können, während wir im zweiten Fall von der Aufwärtsentwicklung überzeugt sind.
Doch wer sagt eigentlich, dass das Leben eine Linie und kein Kreis ist? Wenn Babys keine für sie sorgenden Erwachsenen haben, sind sie jedenfalls komplett aufgeschmissen. Es ist gefährlich, so hilflos zu sein. Das wissen Babys zwar noch nicht, aber sie fühlen es, beispielsweise dann, wenn sie ganze Häuserblöcke zusammenschreien, weil sie sich mitten in der finstersten Nacht plötzlich verlassen glauben.
Alles in einem Baby strebt danach, sich zu entwickeln, zu entfalten und die eigenen Fähigkeiten zu entdecken. Das ist schlicht und einfach die wirksamste Überlebensstrategie. Auch wenn das kleine Wesen Hunderte Male auf den Hintern plumpst, bevor es ein paar Schritte allein machen kann, gibt es seine Versuche, laufen zu lernen, niemals auf. Es will unbedingt selbstständig werden, was buchstäblich nichts anderes heißt, als aus eigener Kraft stehen zu können.
Sicher, Babys, die gut versorgt werden, haben eine Menge Spaß. Sie können sich für so etwas Spannendes wie ihre eigenen Zehen begeistern, selig an der Brust ihrer Mutter saugen oder geborgen auf dem Bauch ihres Vaters schlummern. Die ganze Welt ist für sie eine einzige Wundertüte, und sie kommen aus dem Staunen kaum heraus. Doch sobald sich eines ihrer Bedürfnisse unmissverständlich meldet – essen, trinken, trockene Windeln haben, Körperkontakt –, sind sie auf wohlmeinende Erwachsene angewiesen. Sich das, was sie brauchen, selbst zu verschaffen, dafür sind sie noch viel zu jung.