Читать книгу "Wer seiner Seele Flügel gibt …" - Renate Holm - Страница 11
ОглавлениеWir mussten an diesem Tag bereits zum dritten Mal in den Luftschutzkeller. Draußen heulten die Sirenen … Nach Jahren des täglichen Bombenhagels über Berlin hatte man es sich hier im Keller bereits ein bisschen häuslich eingerichtet. Jeder Hausbewohner hatte sein kleines Eckchen mit einigen persönlichen Dingen. Für mich waren mein Puppenwagen und meine Käthe-Kruse-Puppe das Wichtigste. Die waren immer dabei. Der Luftschutzkeller war für uns schon so etwas wie ein zweites Wohnzimmer geworden. In dieser Nacht im Jahre 1943 war es besonders schlimm. Ganz in unserer Nähe schlugen die Bomben ein und jedes Mal glaubten wir, diesmal hier nicht mehr lebend herauszukommen … Aber dann trat sie doch wieder ein – die so ersehnte Totenstille … Und nach einiger Zeit wagte sich der erste Nachbar zum Ausgang und gab das Zeichen, dass wir wieder in unsere Wohnungen konnten. In diesem Moment hatte man die Hoffnung: Nun ist es endlich vorbei! Alles wird gut … Großes Aufatmen … und man konnte sogar wieder ein bisschen lächeln. Doch am nächsten Tag ging mit den ersten Sirenen dasselbe von vorne los …
Diese Situation änderte sich erst, als eines Morgens über das Radio der Aufruf kam, dass Goebbels alle Mütter und Kinder aus Berlin evakuieren ließ. In den darauffolgenden Tagen wurde uns ein Quartier im Spreewald zugeteilt. Wir durften nur das Notwendigste mitnehmen. Mein Puppenwagen war gleichzeitig mein Koffer, darin ließ sich recht viel verstauen. Man brachte uns in ein kleines Dorf, rund neunzig Kilometer von Berlin entfernt. Dieses Dorf hieß Ragow. Wir wurden in einer ehemaligen Schule untergebracht, wo meiner Mutter und mir eineinhalb Zimmer zugewiesen wurden. Was war das für ein ungeheurer Sprung von Berlin hierher aufs Land! Es dauerte nicht lange und man kannte jeden Einzelnen im Dorf. Für uns Kinder war es freilich ein kleines Paradies. Wiesen, Äcker, Felder, ein kleiner Teich – kurzum: Möglichkeiten zum Spielen und Herumtoben ohne Ende! Und was das Beste war: Plötzlich gab es Tiere zum Anfassen, die man bislang nur aus Schulbüchern kannte: Kühe, Pferde, Ochsen, Ziegen, Hennen, Hasen … das war eine Sensation für mich! Und da begann meine ganz große Tierliebe. Im Vergleich zu Berlin war es für mich fast wie ein Urlaub auf dem Land!
Meine Mutti und ich zu Kriegsbeginn, nicht ahnend, was alles Schreckliches auf uns zukommen wird
Doch jetzt kam auch ganz schnell der Ernst des Lebens zurück. Schließlich musste ich ja in die Schule. Und das war in der Tat nicht so einfach und bequem, denn das Gymnasium befand sich im Nachbarort Lübben, sechs Kilometer von Ragow entfernt. Also hieß es für mich rauf aufs Rad! Bei jedem Wetter! Aber ich fuhr gerne in die Paul-Gerhardt-Schule, nicht zuletzt deshalb, weil hier Jungen und Mädchen unterrichtet wurden. Das war neu für mich, denn in Berlin ging ich ins Lyzeum, eine reine Mädchenschule. Ich muss ehrlich sagen: Ich habe die Schulzeit in Lübben richtig genossen! Wir hatten eine tolle Klassengemeinschaft. Burschen wie Mädchen teilten miteinander Freud und Leid. Da war keine Konkurrenz, sondern ein Miteinander. Abgesehen davon, waren wir in Musik ein unschlagbares Team! Wolfgang Friedrich war unser bravouröser Tenor, Klaus Ostermann ein sensationeller Bass, ich war mit meiner Sopranstimme die Dritte im Bunde. Aus dieser Kameradschaft wurde übrigens eine Freundschaft, die über fünfzig Jahre anhielt.
Die Paul-Gerhardt-Schule in Lübben, in deren Aula ich den allerersten Gesangsauftritt meines Lebens hatte – unvergesslich …
Wolfgang war auch der Initiator für unser erstes Konzert, ein Oratorium von Bach. Wir hatten viel und mit großem Enthusiasmus probiert. Am Tag der Aufführung verwandelte sich die Aula der Schule in einen kleinen Konzertsaal, und wir feierten auf Anhieb einen Riesenerfolg! Damit hätte ich nie im Leben gerechnet … noch weniger damit, dass man einhellig der Meinung war, dass ich einmal eine große Sängerin werden würde. Keiner ahnte wohl, dass ich in diesem Moment ganz andere Gedanken im Kopf hatte. Im Stillen dachte ich: »Lieber Gott, lass mich nie wieder solches Lampenfieber haben!« Leider hat der liebe Gott anscheinend genau in diesem Moment weggehört …