Читать книгу "Wer seiner Seele Flügel gibt …" - Renate Holm - Страница 13

Die andere Seite von Ragow …

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Was ich bisher von Ragow erzählt habe, waren die positiven Seiten meiner Jugendjahre auf dem Land. Mit der Heugabel zu hantieren, war für mich das Natürlichste auf der Welt. Dass ich relativ bald mit einer ganz anderen Art von Gabel konfrontiert sein würde, nämlich mit der Stimmgabel, zählt zu den kleinen Wundern, die einem im Leben widerfahren können … Zunächst kamen aber sehr schmerzhafte Jahre auf uns zu. Als der Krieg 1945 zu Ende ging, marschierten russische Soldaten in unser kleines Dorf ein. Ich kann mich nur an Eines erinnern: Angst, Angst, Angst … Besonders schlimm war es, als sie eines Tages drohten, das ganze Dorf niederzubrennen, weil sich angeblich unser Nachbarbauer einem russischen Befehl widersetzt hätte. Alle Dorfbewohner mussten in ein nahegelegenes Waldstück flüchten. In der Eile konnten wir nur ein paar Lebensmittel, Kissen und Decken mitnehmen. Wieder war es mein Puppenwagen, den wir als Transportmittel nutzten. Es waren unvorstellbar qualvolle Stunden, es war tiefer Herbst, feucht, kalt und nebelig. Und dann diese Riesenangst, dass womöglich unser ganzes Dorf mitsamt allen Tieren, Häusern und Lebensmittelvorräten in Flammen aufgehen könnte … Von einer Stunde zur anderen haben wir geschaut, ob der Himmel über dem Dorf schon vom Feuer rot geworden ist …

Als drei Tage und drei Nächte nichts passiert war, schlich sich einer der Männer ins Dorf, um auszukundschaften, was geschehen war. Er kam mit der Nachricht zurück, dass die Russen das Dorf nicht niedergebrannt hätten. Stattdessen hätten sie die ganze Familie von jenem Bauern exekutiert, der angeblich Widerstand geleistet haben soll. Diesen Anblick werde ich nie vergessen … Als wir ins Dorf zurückkehrten, fanden wir die ganze Familie – vom Enkelkind bis zur Großmutter – an den Händen zusammengebunden tot vor ihrem Bauernhof liegen.


Heute, siebzig Jahre später, sind solche Grausamkeiten in erschütternder Weise nahezu täglich in allen Facetten in den Medien zu sehen. Der Unterschied zu den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges ist nur, dass diese nicht medial transportiert wurden. Die Menschen, die das damals erleben mussten, haben keine Wiedergutmachungen erhalten. Es gab zu dieser Zeit weder psychologische Betreuung noch karitative Hilfeleistungen, wie es heute der Fall ist. Erst im Jahr 1949, als meine Mutter und ich nach Berlin zurückgekehrt waren, änderte sich alles zum Besseren und somit auch unser Leben.



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