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Schulische Behinderung ist anforderungsbasiert, kategorial und fluid

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Systemspezifität von schulischen Behinderungsstatus

Schulsysteme weisen spezifische Anforderungsstrukturen, spezifische Hierarchien von Fähigkeiten und damit spezifische Person-Umwelt-Verhältnisse auf. Die Anforderungsstrukturen, Ziele und Förderstrategien von Pflichtschulsystemen sind im Kern auf schulisch relevante Formen der «Performanz» (ICF) hin orientiert. Aus diesem Grund haben moderne Pflichtschulsysteme spezifische Behinderungsstatus hervorgebracht. «Sonderpädagogischer Förderbedarf» oder «individuelle Lernziele» können Menschen nur in ihrer Rolle als Schülerin und Schüler zugeschrieben werden – nicht aber Verkehrsteilnehmenden, Frührentnerinnen oder Personen, die ein barrierefreies Hotelzimmer buchen möchten. Umgekehrt gelten viele junge Menschen als «Menschen mit Behinderung» im Sinne des Sozial- oder Antidiskriminierungsrechts, ohne jemals in Schulsystemen als sonderpädagogisch förderbedürftig klassifiziert zu werden. Die verbreitete Annahme, es existiere eine stabile, klar identifizierbare Gruppe von Menschen mit Behinderung und diese Menschen würden in Schulsystemen eben sonderpädagogisch gefördert oder hätten allesamt einen schulischen Behinderungsstatus, ist unzutreffend.

Elemente der Institution «schulische Behinderung»

Um die Besonderheiten des Verhältnisses von Schulsystemen und Behinderung verstehen zu können, ist es vielmehr notwendig, mit Powell (2013) von einer eigenständigen – was nicht bedeutet: von anderen Systemen völlig losgelösten – Institution schulischer Behinderung auszugehen. Die Institution der schulischen Behinderung ist gekennzeichnet und getragen durch spezifische politische Diskurse. Hieraus entstanden Rechtsetzungen wie Lehrpläne, Bedarfsfeststellungs- und Zuweisungsreglemente oder Promotionsverordnungen, durch spezifische Professionen und deren Interessen, spezifische Begrifflichkeiten, Überzeugungen, Organisationsformen, Maßnahmentypen, implizite und explizite Normalitätsvorstellungen, Klassifizierungssysteme und Kategorisierungsprozesse.

Im nachfolgenden Beitrag legt Hollenweger dar, dass die ICF Behinderung und Funktionsfähigkeit als situiertes Kontinuum versteht, und sie zeigt auf, wie Professionelle ein kontinuierliches Verständnis von Behinderung pädagogisch fruchtbar machen können. Ähnlich argumentiert Weisser (2010, S. 6, Hervorh. im Orig.), wenn er festhält, es handle sich im Falle von Situationen der Behinderung «um Fähigkeitskonflikte als Konflikte zwischen dem, was (für jemanden) gerade möglich [ist], und dem, was gerade gefordert wird». Mit anderen Worten: Fähigkeitskonflikte sind nicht durch Behinderungen (mit-)determiniert, sie sind Behinderung.

Realität schulischer Anforderungsstrukturen

Die Frage, wo genau denn nun Funktionsfähigkeit endet und Behinderung beginnt, lässt sich mithin nur vor dem Hintergrund je gegebener Umwelten beantworten. Deren implizite und explizite Anforderungsstrukturen, so der Soziologe Kastl (2010, S. 126), «müssen und können […] auf ihre soziale Bedeutung und Änderbarkeit hin befragt werden», sind jedoch «so real wie Kaffeemaschinen» (ebd.). Wer sich vergewissern möchte, wie real allein die expliziten Anforderungsstrukturen von Bildungssystemen sind, wird in der baulichen Struktur und der Infrastruktur von Schulgebäuden ebenso fündig wie in Lehrplänen, Lehrmitteln, Testverfahren, in Beschreibungen von Performanz- oder Kompetenzstandards für fachliche und überfachliche Fähigkeiten, in Beobachtungsinstrumenten zuhanden von Lehrpersonen oder in Schul- und Klassenregeln.

So wird zum Beispiel eine psychodiagnostische Kategorie wie «Lese-/Rechtschreibstörung» nur im Kontext eines Schulsystems relevant, das spezifische Anforderungen an die Fähigkeit des Lesens und Schreibens richtet und Ressourcen für deren Diagnose und Förderung zur Verfügung stellt. Diese Anforderungen sind in Lehrplänen recht genau festgeschrieben, werden regelmäßig erfasst und bewertet und können auch mittels Tests diagnostisch überprüft werden. Weicht die Performanz einer Schülerin in einem definierten Ausmaß von diesen Anforderungen ab, können Angehörige einer hierzu ermächtigten Profession (Schulpsychologie, Logopädie, Medizin oder Heil-/Sonderpädagogik) möglicherweise eine Lese-/Rechtschreibstörung diagnostizieren, einen entsprechenden besonderen Förderbedarf feststellen und damit bewirken, dass die Schülerin oder der Schüler von Fachpersonen gefördert wird. Verlässt die Schülerin aber das Schulzimmer und spielt mit Freunden im Wald, dann ist sie dabei in keiner Weise eingeschränkt oder behindert. Und wenn ihre schulische Performanz nicht mehr von Mindestanforderungen abweicht, dann endet grundsätzlich auch ihre besondere pädagogische Förderung in einem (hypothetischen) «Förderschwerpunkt Lesen und Schreiben».

Kategoriale Organisation von schulischen Behinderungsstatus

Das Beispiel zeigt noch ein weiteres Charakteristikum schulischer Behinderungsstatus auf: Sie sind fast immer kategorial organisiert. Selbst wenn Lehrpersonen Behinderung und Performanz als etwas Situiertes und Kontinuierliches verstehen, so erfordert die administrative Logik für die Feststellung besonderer Bedarfe doch in der Regel eine Transformation in eine Ja-nein-Entscheidung. Eine Schülerin «hat» nach einer vorgegebenen Bedarfsfeststellungsprozedur einen formellen Förderstatus oder Nachteilsausgleich – oder sie «hat» ihn eben nicht. Ist ihre Performanz im Lesen und Schreiben zwar deutlich beeinträchtigt, weicht aber gerade nicht so weit von Mindeststandards ab, wie dies für die Erlangung eines schulischen Behinderungsstatus erforderlich ist, dann bleibt es bei der «normalen» Förderung, es wird kein Nachteilsausgleich gewährt und so weiter.

Probleme von kategorialen Status

Kategoriale Behinderungsstatus sind Grundlage für die Sicherung individueller Anspruchsberechtigungen auf Unterstützung, Förderung oder Nachteilsausgleich und die damit verbundene Zuweisung von Ressourcen. Sie haben aber auch zahlreiche problematische Nebenwirkungen: Sie können zu einer Stigmatisierung gewisser Kinder und Jugendlicher führen, Erwartungen an deren Performanz absenken, eine Exklusionsdrift in Richtung segregierter Förderorte bewirken oder, wie das vorangehende Beispiel zeigt, auch dazu führen, dass durchaus sinnvolle und notwendige Förderungsmaßnahmen nicht gewährt werden.

Status auch innerhalb des Systems nicht permanent

Doch auch für kategorial verfasste schulische Behinderungsstatus trifft zu, was Barnartt (2010) als «Fluidität von Behinderung» kennzeichnet. Selbst wenn man in Rechnung stellt, Behinderung sei ein zwar relationaler, aber letztlich an Personen innerhalb ihrer jeweiligen Umwelt gebundener Status – die Rede von «Menschen mit Behinderung» legt dies ebenso nahe wie fast alle schulisch-administrativen Behinderungskategorien –, so wäre es doch irreführend, solche Status als grundsätzlich permanente zu verstehen, erst recht innerhalb einer Umwelt, wie sie die Schulsysteme darstellen. Es gehört zum Kernprogramm der Schule, menschliche Fähigkeiten und Performanz als fluid und veränderbar zu betrachten und so umfassend wie möglich zu fördern, wenn nötig auch durch kompensatorische Maßnahmen, Hilfsmittel oder die Variation von Anforderungen. → Siehe Beitrag von Luder und Kunz. Verbessert sich die schulspezifische «Performanz» (ICF) von Schülerinnen und Schülern, weil barrieren- oder individuell-funktionsbezogene Interventionen, auch und gerade jene, die durch kategoriale Bedarfsstatus ausgelöst werden, genau das bewirken, was sie ihrem Anspruch nach bewirken sollen, dann kann die Grundlage für die Zuschreibung schulischer Behinderungsstatus entfallen. Treten Jugendliche mit dem Ende des Pflichtschulalters aus dem Schulsystem aus, dann enden schulspezifische Behinderungsstatus ohnehin.

Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)

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