Читать книгу Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage) - Reto Luder - Страница 21
Situationen verstehen
ОглавлениеMeist unterschätzen wir den Einfluss von Situationen auf das Verhalten des Gegenübers (Argyle, Furnham & Graham, 1981); dieses wird viel eher als Ausdruck der Persönlichkeit oder ihrer Eigenschaften und weniger als situativ bedingt verstanden. Es fehlt uns die kontinuierliche Selbsterfahrung des anderen in den unterschiedlichsten Situationen und deshalb das Erleben der situativen Abhängigkeit von Verhalten oder Fähigkeiten. Das zeigt sich auch in unserer Sprache: Sarah ist schwerhörig, Tobias hat ein ADHS, und Ivana kann kein Deutsch. Weil uns die direkte Erfahrung des Gegenübers quer durch verschiedene Lebenssituationen fehlt, müssen sich Lehrpersonen bewusst und aktiv um das entsprechende Wissen bemühen. Dafür müssen die jeweils relevanten Elemente aus einzelnen Situationen extrahiert und miteinander verglichen werden. So können die spezifischen Bedingungen, unter welchen Sarah genug hört, Tobias seine Impulsivität kontrollieren und Ivana eine Geschichte verstehen kann, besser erfasst und wo immer möglich für die Planung und Durchführung des Unterrichts genutzt werden.
Partizipation
Beispiel: Eine Geschichte erzählen
Situationen lassen sich verändern, nicht jedoch das Verhalten des anderen; ein gutes Verständnis situativer Eigenschaften und ihrer Bedeutung für das Verhalten des Gegenübers ist deshalb sehr wichtig für Lehrpersonen. Damit sie im schulischen Alltag ihre Aufgaben und ihre Verantwortung übernehmen können, muss es ihnen gelingen, Situationen zu schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler sich beteiligen können und dabei etwas Relevantes lernen (Partizipation an Bildung). Zwar haben Lehrerinnen und Lehrer nur beschränkten Einfluss auf Situationen, denn das Gegenüber gestaltet diese mit. Dennoch ist die Planung und Gestaltung von (Unterrichts-)Situationen eine der Kernaufgaben von Lehrpersonen. Es ist deshalb von großer Bedeutung, die Wirkung solcher Arrangements auf Schülerinnen und Schüler zu verstehen. Wie bereits oben erwähnt, bietet die ICF die konzeptuellen Grundlagen, um die Funktionsfähigkeit von Menschen in Situationen zu analysieren. Wie die ICF dafür genau verwendet werden kann, soll nun an einem Beispiel (Geschichte erzählen) genauer ausgeführt werden.
Zentrale Aktivitäten aus verschiedenen Lebensbereichen in der Situation «Geschichte erzählen»
Lernen und Wissensanwendung
— Kinder: zuhören, Informationen erwerben, Sprache erwerben, zusätzliche Sprache erwerben, Aufmerksamkeit fokussieren, denken
— Lehrperson: Aufmerksamkeit lenken, lesen
Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
— Kinder und Lehrperson: das eigene Verhalten steuern
Kommunikation
— Kinder: kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen
— Lehrperson: sprechen
Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
— Kinder: formelle Beziehungen / mit Autoritätspersonen umgehen
— Lehrperson: formelle Beziehungen / mit Untergebenen umgehen
ABBILDUNG 5: Analyse der Aktivitäten zu «Der Klasse eine spannende Geschichte erzählen»
Wenn die Lehrperson eine Geschichte erzählt oder vorliest, entsteht eine Situation, in der ihre Stimme, die vorgetragene Geschichte einerseits und die Aufmerksamkeit, das Zuhören und Mitdenken der Kinder andererseits zusammenwirken. In Abbildung 5 sind die zentralen Aktivitäten der Beteiligten aufgelistet, die den Lebensbereichen «Lernen und Wissensanwendung», «Allgemeine Aufgaben und Anforderungen», «Kommunikation» und «Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen» zugeordnet werden können. Die gestaltete Situation kann von unterschiedlicher Qualität oder Intensität sein. Je nach Inhalt der Geschichte und je nachdem, wie begabt und motiviert die Lehrperson beim Erzählen von Geschichten ist, werden die Kinder mehr oder weniger aufmerksam und interessiert zuhören. Umweltfaktoren können dabei einen hemmenden Einfluss haben; etwa, wenn es draußen stürmt, der Strom ausfällt, das Lesebuch fehlt und so weiter (äußere Faktoren). Es gibt auch situative Faktoren, welche die Partizipationsmöglichkeiten der direkt Beteiligten einschränken, etwa wenn die Lehrperson heiser ist, die Schülerinnen und Schüler aufgeregt sind oder wenn Lehrperson oder Schüler unmotiviert, müde oder in Gedanken ganz woanders sind. Diese inneren Faktoren werden jetzt noch ausgeblendet und erst im nächsten Abschnitt näher betrachtet.
Definition einer Situation
In einer Situation wirken immer bestimmte Faktoren zusammen, weil sie eine Bedeutung für die Durchführung einer Handlung oder die Ausübung einer Aktivität haben. Von den unzähligen Umweltfaktoren, die zu jedem Zeitpunkt präsent sind, sind immer nur diejenigen bedeutsam, die in einer Situation eine Wirkung entfalten. Und damit externe Faktoren eine Wirkung auf Menschen entfalten können, müssen sie wahrgenommen und verarbeitet werden können. Man kann Situationen deshalb auch als das Zusammenspiel ausgewählter und organisierter Umweltfaktoren verstehen, die jeweils einen Einfluss auf eine Handlung oder Aktivität haben (Abbildung 5). Bei Sarah, Tobias und Ivana wirken sehr unterschiedliche Aspekte der Situation «Einer Geschichte zuhören» hemmend. Für Sarah ist die Aktivität «Zuhören» schwierig, weil ihre «Funktionen des Hörens» (Körperfunktionen) eingeschränkt sind; deshalb kann sie in der Klassensituation mit vielen Nebengeräuschen, der schlechten Akustik im Schulzimmer und mit der niedrigen Lautstärke der Stimme der Lehrperson (Umweltfaktoren) nicht partizipieren. Für Tobias bereitet die Aktivität «Zuhören» keine grundsätzlichen Probleme, dennoch hat er Schwierigkeiten bei der Partizipation beim «Zuhören», weil er seine Aufmerksamkeit nur über kurze Zeit fokussieren kann (Aktivität) und sein Arbeitsgedächtnis (Körperfunktion) noch wenig trainiert ist. Ivana hingegen hat weder Schwierigkeiten mit der Lautstärke der Lehrerstimme noch mit der Länge der Geschichte, sie hat einfach die Schulsprache noch nicht erworben («Zusätzliche Sprache erwerben») und versteht deshalb die Geschichte nicht («Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen»). Sie ist also in ihrer Partizipation ebenfalls eingeschränkt, aber nicht wegen einer Funktionseinschränkung, sondern weil sie eine andere Erstsprache hat.
Wechselspiel zwischen Umweltfaktoren und der Funktionsfähigkeit
Wenn die Lehrperson die Funktionseinschränkungen oder Partizipationsprobleme einzelner Schülerinnen und Schüler kennt, kann sie antizipierend die Situation für diese Kinder verändern, sodass diese die zur Partizipation notwendigen Handlungen oder Aktivitäten ausüben können: Für Sarah, die nicht gut hört, kann eine FM-Anlage verwendet werden, welche die Stimme der Lehrperson direkt auf ihr Hörgerät überträgt. Die Situation wird dabei für die Lehrperson nur unwesentlich geändert; sie trägt einfach ein Mikrofon; für Sarah bedeutet diese Veränderung jedoch den Unterschied zwischen Beteiligtsein und Nichtbeteiligtsein. Tobias, der im Unterricht oft unaufmerksam ist, ist noch sehr jung und deshalb impulsiver als die älteren Mitschüler und Mitschülerinnen. Bilder können ihm helfen, die lange Aufmerksamkeitsspanne, die es braucht, um die ganze Geschichte nur über das Gehör zu erfassen, in kürzere Sequenzen zu unterteilen und so die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Geschichte zu lenken. Ivana, die die Schulsprache noch nicht genügend versteht, um die vorzulesende Geschichte zu verstehen, kann von den gleichen Bildern profitieren, weil diese Hinweise zu den Inhalten geben. Die Lehrperson könnte Ivana auch vorgängig die wichtigsten Begriffe aus der Geschichte zur Verfügung stellen, sodass sie diese zusammen mit ihrer Lernpartnerin vorbesprechen oder selbstständig nachschlagen kann. Verschiedene Umweltfaktoren (FM-Anlage, Bildmaterial, Wörterbuch, Unterstützung durch Mitschülerin) können also verwendet werden, um die Partizipation von Sarah, Tobias und Ivana zu verbessern (Abbildung 6).
Für jeweilige Aspekte der Funktionsfähigkeit relevante Umweltfaktoren
Für die Partizipation/Beteiligung von Sarah
— «Produkte und Technologien zur Kommunikation» (FM-Anlage) verbessert «Funktionen des Hörens» und ermöglicht somit «Zuhören»
Für die Partizipation/Beteiligung von Tobias
— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Geschichte in Bildern) verbessert «Aufmerksamkeit fokussieren», «Sein Verhalten steuern» und «Informationen erwerben»
Für die Partizipation/Beteiligung von Ivana
— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Geschichte in Bildern) verbessert «Informationen erwerben» und «Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen»
— «Produkte und Technologien für Bildung/Ausbildung» (Wörterbuch) verbessert «Informationen erwerben» und «Sprache erwerben»
— Unterstützung durch «Peers» verbessert «Informationen erwerben»
ABBILDUNG 6: Unterschiedliches Zusammenspiel von Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeit
Schritte zur Anpassung von Situationen
Bis vor wenigen Jahren war es nach vorherrschender Meinung am besten, Kinder in Sonderschulen oder Sonderklassen zu schulen, wenn sie andere Lernbedingungen benötigen. Heute weiß man, dass sie dort nicht bessere Lernfortschritte machen, unter dem sozialen Ausschluss leiden und später schlechtere Berufschancen haben (Bless, 2007; Eckhart et al., 2011). Denn alle Kinder partizipieren grundsätzlich an den gleichen Lebensbereichen (Abbildung 3) und benötigen die gleichen Gelegenheiten, um Aufgaben zu bewältigen oder Aktivitäten ausüben zu lernen: Wer nie an Situationen beteiligt ist, in denen es um die Aktivität «Lesen lernen» geht, der wird auch nie lesen lernen. Kinder lernen nicht besser, wenn man das Bildungsangebot und ihre Erfahrungsmöglichkeiten einschränkt, im Gegenteil. Wenn Lehrpersonen ein gutes Verständnis von vorhandenen Funktionseinschränkungen haben, können sie abschätzen, in welchen Situationen Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit Partizipationseinschränkungen erfahren. Diese können permanent durch eine stabile Schädigung verursacht sein (z. B. Schwerhörigkeit bei Sarah), als vorübergehende Phänomene in der Entwicklung der Fähigkeiten auftreten (Impulsivität bei Tobias) oder primär mit ihrer besonderen Lebenssituation zusammenhängen (Migrationshintergrund bei Ivana). Lehrpersonen müssen also fähig sein, 1. die Anforderungen zu antizipieren, die bestimmte Situationen an die Funktionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler stellen. Sie müssen zudem 2. die Fähigkeiten des Kindes in Bezug auf die gestellte Aufgabe oder Herausforderung einschätzen können. Vor diesem Hintergrund können sie sich 3. überlegen, wie sie eine Situation verändern können, damit diese vom Kind bewältigt werden kann (Abbildung 7). Welche Strategien dabei erfolgreich sind, kann nicht in jedem Fall vorhergesagt werden; hier kann es notwendig sein, die Beratung durch eine Fachperson in Anspruch zu nehmen. Es ist wichtig, verschiedene Strategien und Anpassungen auszuprobieren; denn direkt bei der Behebung des Defizites anzusetzen (Abbildung 7, Punkt 3.f.), ist meist nicht die beste Methode. Die Orientierung an der ICF kann helfen, verschiedene Zugänge zu identifizieren und entsprechende Handlungsmöglichkeiten zu überprüfen.
Schritte zur Anpassung von Anforderungssituationen
1. Anforderungen von Situationen antizipieren und analysieren können
a. Zentrale Aktivitäten im geplanten Kontext
b. Weitere Aktivitäten, welche die zentralen Aktivitäten unterstützen
c. Umweltfaktoren, die zur Ausführung der Aktivitäten gebraucht werden
2. Funktionsfähigkeit des Kindes in Bezug auf die geplante Situation einschätzen können
a. Möglicher Einfluss vorhandener Einschränkungen der Körperfunktionen?
b. Möglicher Einfluss vorhandener Einschränkungen der Aktivitäten?
3. Überlegungen anstellen und Strategien entwickeln zur Anpassung der Situationen
a. Barrierefaktoren in der Umwelt reduzieren oder eliminieren
b. Erleichternde Umweltfaktoren gezielt einsetzen und optimieren
c. Aktivitäten anpassen, welche die zentrale Aktivität negativ beeinflussen
d. Zentrale Aktivität anpassen
e. Alternative Aktivität planen und so eine andere Situation schaffen
f. Funktionseinschränkung behandeln und so die Voraussetzungen für Ausführung von Aktivitäten schaffen
ABBILDUNG 7: Schritte zur Anpassung von Anforderungssituationen
Diese Möglichkeiten sind in Abbildung 7 (unter 3.) zusammengestellt. Am einfachsten ist es, bei den Umweltfaktoren anzusetzen, die bei der Ausübung von Aktivitäten erschwerend wirken (Barrierefaktoren, 3.a. in Abbildung 7) oder diese erleichtern oder sogar erst ermöglichen (erleichternde Faktoren, 3.b. in Abbildung 7). Ein solch erleichternder Umweltfaktor ist die FM-Anlage oder das Hörgerät für Sarah. So wird das zuvor erheblich ausgeprägte Problem beim Zuhören (zentrale Aktivität) weitgehend vermieden. Weil Hören (Körperfunktion) kein Problem mehr darstellt, kann Sarah der Geschichte zuhören und sich an der von der Lehrperson gestalteten Unterrichtssituation beteiligen. Zweitens kann bei den Aktivitäten angesetzt werden, welche die Qualität der Beteiligung an einer Situation verbessern, ohne dass direkt die fehlende oder beeinträchtigte Funktionsfähigkeit angegangen wird. Hier kann das Beispiel von Tobias angeführt werden; seine Impulsivität wird nicht direkt behandelt (etwa mit Ritalin), sondern es wird eine Situation geschaffen, die das Ausüben verschiedener Aktivitäten unterstützt, indem eine Sequenzierungshilfe (Geschichte in Bildern) für eine lange Zuhörphase gegeben wird und so unterstützende Aktivitäten (Abbildung 6) ausgeführt werden können (3.c. in Abbildung 7). Drittens kann bei der zentralen Aktivität angesetzt werden, also bei den Aktivitäten, die für die Beteiligung am Unterricht unbedingt bewältigt werden müssen, oder Aktivitäten, die direkt in einer Unterrichtssituation geübt oder erlernt werden sollen (3.d. in Abbildung 7). Dieser Zugang wird bei Ivana gewählt, denn sie muss die Sprache verstehen lernen, damit sie sich am Unterricht beteiligen kann. Durch eine entsprechende Vorbereitung und mittels der Bilder als Gedächtnishilfe wird für sie eine Situation geschaffen, die ihre Beteiligungsmöglichkeiten erweitert und damit auch ihre Motivation stärkt, weiterhin Deutsch zu lernen.
Es gibt aber auch Situationen, an denen ein Kind mit einer bestimmten Funktionseinschränkung sich wirklich nicht beteiligen kann. Ein gehörloses Kind kann mit einer vorgelesenen Geschichte nichts anfangen, wenn es keinen Gebärdendolmetscher zur Seite hat. Wenn keine Gebärdendolmetscher zur Verfügung stehen, muss die Lehrperson alternative Unterrichtssituationen entwickeln, welche die Aktivitäten fordern und fördern, die das Kind tatsächlich auch erlernen kann (3.e. in Abbildung 7). Nur in ganz wenigen Situationen wird das Kind sich an der zentralen Unterrichtsaktivität auch mit bestmöglichen Unterstützungen und Modifikationen nicht beteiligen können. Dies ist etwa der Fall bei einem Kind mit schwerwiegenden Einschränkungen der Mobilität (z. B. Tetraplegie) mit Blick auf zahlreiche Bildungsziele in Bewegung und Sport. Dann kann der Lebensbereich «Mobilität» der ICF hilfreiche Hinweise für alternative Bildungsziele geben, die in diesem Bereich auch ohne die Aktivität «Gehen» erreicht werden können. Auf dieser Grundlage kann geplant werden, wie im Kontext des Sportunterrichts, aber auch in anderen Lernsituationen diese Ziele verfolgt werden können. 3.f. in Abbildung 7 kann in allen oben geschilderten Situationen in Betracht gezogen werden. Doch die direkte Behandlung von Funktionseinschränkungen gehört meist in den Aufgabenbereich von spezifisch dafür ausgebildeten Fachpersonen. Wichtig ist auch bei therapeutischen Maßnahmen, dass diese sich direkt auf die in der Schule erforderlichen Aktivitäten ausrichten und somit als Teil der zu planenden Anpassungen und Veränderungen verstanden werden und nicht als Ersatz für die Partizipation an den Aufgaben und Anforderungen der Schule. Es ist höchst anspruchsvoll, eine solche Situations-Funktions-Analyse vorzunehmen; hier können ebenfalls Fachpersonen die Regellehrperson unterstützen. Nicht immer ist klar, wieweit sich Funktionseinschränkungen durch situative Adaptationen verändern lassen. Um das besser einschätzen zu können, kann der Versuch hilfreich sein, das Kind nicht in der aktuellen sozialen Situation, sondern im Kontext seiner persönlichen Lebenssituation zu verstehen. Mit einigen Hinweisen dazu soll der vorliegende Beitrag abgeschlossen werden.