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Kontext mitdenken: Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren
ОглавлениеICF: Personbezogene Faktoren
Neben den Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung umfasst die ICF auch zwei Komponenten zur Beschreibung des Kontexts, in dem Funktionsfähigkeit und Behinderung erfasst werden: die Komponente «Umweltfaktoren» und die Komponente «personbezogene Faktoren», anders gesagt die äußeren und inneren Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit und Behinderung. Beide Komponenten interagieren mit Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation. Wenn es um Behinderung geht, denken viele Menschen an Eigenschaften von Personen und weniger an die Umstände, in denen eine Behinderung wirksam wird. Es sind aber genau diese Umstände, die durch die Lehrperson verändert werden können. Ein gutes Verständnis dieser Dynamik ist deshalb von sehr großer Bedeutung. Im Folgenden soll näher auf die Kontextfaktoren eingegangen werden. Insbesondere soll aufgezeigt werden, wie sie in konkreten Situationen zusammenspielen, und es soll deutlich gemacht werden, wie diese Situationen besser verstanden werden können. Denn im Verstehen von Situationen liegt der Schlüssel für ihre Veränderung und für die optimierte Gestaltung zukünftiger Situationen.
ICF: Umweltfaktoren
Alles, was eine Person umgibt, was sie beeinflusst und von ihr beeinflusst wird, ist Teil ihrer Umwelt. In der ICF werden Umweltfaktoren wie folgt definiert: «Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten» (WHO, 2011, S. 44). Darunter werden alle Faktoren erfasst, die «außerhalb» des Individuums liegen und für Funktionsfähigkeit und Behinderung als wichtig erachtet werden. Dies ist einerseits die unmittelbare persönliche Umwelt, andererseits sind es aber auch die sozialen Strukturen, Dienste und Gesetze, die einen Einfluss auf Individuen haben. Diese Faktoren können alle Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung positiv oder negativ beeinflussen. Die Umweltfaktoren sind in fünf Kapitel gegliedert (siehe Abbildung 4). Sie können als Förderfaktoren oder als Barrieren wirken. Meistens kann ihre positive oder negative Wirkung nicht absolut, sondern nur situativ bestimmt werden. So kann eine überbehütende Mutter in den Lebensbereichen «Selbstversorgung» und «Häusliches Leben» ein Förderfaktor sein, weil sie das Kind sehr gut betreut, ihm beim Ankleiden und Essen hilft und so weiter. Auf der anderen Seite kann die intensive Unterstützung durch die Mutter zur Barriere werden, wenn es darum geht, dass das Kind lernt, mit «allgemeinen Aufgaben und Anforderungen» selbstständig umzugehen.
1. Produkte und Technologien
2. Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt
3. Unterstützung und Beziehungen
4. Einstellungen
5. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze
ABBILDUNG 4: Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Umweltfaktoren
Beispiele zu den Umweltfaktoren in der IFC
Adäquate Lehrmittel und Kommunikationstechnologien, aber auch Rollstühle oder eine Apotheke werden im ersten Kapitel der Umweltfaktoren in der ICF verhandelt; Klima, Licht, Laute und Geräusche, Luftqualität sowie Flora und Fauna gehören zum zweiten Kapitel. Sowohl beim dritten als auch beim vierten Kapitel geht es um andere Menschen. Das dritte Kapitel konzentriert sich darauf, wie Menschen andere unterstützen und in welchem Bezug sie dabei zueinander stehen. Hier steht das soziale Netz im Zentrum; fokussiert wird auf die Qualität und die Quantität von Beziehungen. Im vierten Kapitel geht es hingegen um Einstellungen und Haltungen einzelner Bezugspersonen (z. B. Regellehrperson), von Gruppen (z. B. Klassenkameraden) oder der Gesellschaft. Einstellungen können ihre Wirkung auch entfalten, ohne dass eine direkte Beziehung vorhanden ist. Sie zeigen sich auch indirekt in fehlendem Verständnis für die Situation anderer Menschen. Kinder mit Behinderungen nicht unterrichten zu wollen, hat also gemäß ICF zwei unterscheidbare Komponenten: erstens die fehlende Unterstützung oder die Ablehnung einer Beziehung und zweitens die Einstellungen, Werte oder Weltanschauungen. Das fünfte Kapitel nimmt die verschiedenen Systeme mit ihren Dienstleistungen und Handlungsgrundsätzen in den Fokus, etwa das Bildungs- oder Gesundheitssystem sowie das Transportwesen oder die Rechtspflege.
Umweltfaktoren müssen in Bezug auf bestimmte Situationen erfasst und verstanden werden, denn es wäre unmöglich, immer alle irgendwie vorhandenen Umweltfaktoren zu berücksichtigen. Wichtig sind diejenigen Faktoren, die in einer bestimmten Situation für die betreffende Person von Bedeutung für ihre Funktionsfähigkeit sind. Der Pollengehalt in der Luft ist nur für Kinder mit einer Allergie ein relevanter Umweltfaktor; die Treppen im Schulhaus sind nur für Kinder mit körperlichen Einschränkungen problematisch, und fehlende Therapieangebote sind nur eine Barriere, wenn sie benötigt würden. Andere Barrieren sind jedoch weniger leicht zu benennen, weil sie nicht direkt beobachtet werden können, sondern sich aus Einstellungen und Handlungen anderer Personen ergeben. Das schweizerische Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG, SR 151.3) schreibt vor, dass Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen (Artikel 1) und dass Kinder mit Behinderungen eine Grundschulung erhalten sollen, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist (Artikel 20). Doch wie genau sollen Lehrpersonen ihren Unterricht gestalten, damit dies sichergestellt wird? Hier gibt es keine einfachen Anpassungen oder standardisierte Lösungen; im Zentrum steht die Frage, wie weit die Lehrperson ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt und sie auf die Situation der Schülerinnen und Schüler abstimmen kann.
Lehrpersonen selbst sind Umweltfaktor
Es ist eine ungewohnte Perspektive; aber auch die Lehrperson selbst ist ein Umweltfaktor, der als Förderfaktor oder als Barriere wirken kann. Geht eine Lehrerin davon aus, dass ein Kind mit Down-Syndrom nie lesen und schreiben lernen wird, wird sich dies in der Unterrichtsorganisation und in der geleisteten Unterstützung zeigen. Weil Kinder sich entwickeln und in der Schule neue Kompetenzen aufgebaut werden, hat die Lehrperson nicht nur einen Einfluss auf die gegenwärtige, sondern auch auf die zukünftige Funktionsfähigkeit. Und hier genau setzt die Professionalität der Lehrperson an. Ihre Aufgabe ist es, gegenwärtige (Unterrichts-)Situationen so zu gestalten, dass dadurch Partizipation ermöglicht wird. Was wir von anderen Menschen halten und was wir ihnen zugestehen, ist einerseits Privatsache, auch für Lehrerinnen und Lehrer. Andererseits sind für die Berufsausübung relevante unreflektierte Vorurteile nicht mit professionellem Handeln vereinbar. Entsprechend müssen Lehrpersonen die berufsrelevanten Kompetenzen entwickeln, damit sie ihre Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen können. → Siehe auch Beitrag von Luder, Kunz und Müller Bösch. Auf Fragen wie «Wo überfordere ich ein Kind, wo unterschätze ich es?», «Wo schließe ich Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aus, obwohl die Zukunft immer ungewiss ist?» müssen mit der Unterstützung von weiteren Fachpersonen Antworten gefunden werden. → Siehe auch Beitrag von Luder und Kunz.
Personbezogene Faktoren
«Personbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind» (WHO, 2011, S. 45). Gemeint sind hier Faktoren wie Geschlecht, Alter, Lebensstil oder sozialer Hintergrund sowie «allgemeine Verhaltensmuster und Charakter» (ebd.). Die personbezogenen Faktoren sind zwar Teil des ICF-Modells, sie sind aber nicht in der ICF klassifiziert. Dies hat damit zu tun, dass je nach Gesundheitsproblem die Abgrenzung zwischen Behinderungen und personbezogenen Faktoren unterschiedlich eingeschätzt wird. Zum Beispiel werden Probleme mit sozialen Interaktionen als Teil der eingeschränkten Aktivitäten bei einem Asperger-Syndrom verstanden. Die damit verbundene soziale Zurückgezogenheit wird somit als Teil der Funktionseinschränkung verstanden. Wird als primäres Gesundheitsproblem jedoch die durch Retinitis Pigmentosa verursachte Schädigung der Sehfunktionen betrachtet, dann wird man dazu tendieren, die soziale Zurückgezogenheit als eine Charaktereigenschaft (Introversion) zu beurteilen. Was als Lebenshintergrund und was als Teil der Funktionsfähigkeit und Behinderung erachtet wird, ist deshalb nicht unabhängig von der Situation des betroffenen Menschen zu unterscheiden.
Ein weiterer Grund, weshalb die WHO bisher keine Klassifikation zu den personbezogenen Faktoren entwickelt hat, liegt in der unterschiedlichen Einschätzung dieser Faktoren in verschiedenen Kulturkreisen. Aufmüpfiges Verhalten von Mädchen wird in egalitären Kulturen toleriert, in patriarchalischen Kulturen jedoch pathologisiert und unterdrückt. Was in stark individualisierten Gesellschaften als Selbstbehauptung und Durchsetzungsfähigkeit gefördert wird, gilt in kollektiven Gesellschaften als egoistisch und antisozial. Was als personbezogene Faktoren identifiziert wird und wie diese eingeschätzt werden, hängt also stark von der sozialen Umwelt, den vorherrschenden Einstellungen und Erwartungen ab. Auch im Alltag lassen sich bei anderen Menschen festgestellte und als besonders wichtig identifizierte Eigenschaften letztlich nicht von der beurteilenden Person trennen. Ob eine Lehrperson sich durch das Clownverhalten eines Kindes gestört fühlt oder ob sie dieses lustig und kreativ findet, hat vor allem mit der Lehrperson selbst zu tun. Auch Erwartungen der Lehrpersonen werden von personbezogenen Faktoren der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. Vor allem die Bedeutung des Geschlechts und der sozialen Herkunft wird in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt. Weil es immer andere Menschen braucht, um personbezogene Faktoren festzustellen, lassen sich letztlich Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren nicht wirklich voneinander trennen.
Lehrpersonen können Situationen verändern
Diesen Einfluss und die Zusammenhänge zu kennen und zu verstehen, ist wichtig; aber noch wichtiger ist es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechend zu handeln. Behinderungen existieren nicht unabhängig von Situationen, in denen sie sich zeigen. In Situationen kommen bestimmte Bedingungen und bestimmte Anforderungen zusammen, und diese können verändert werden. Und genau hier setzen die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen an: Es geht für sie primär darum, Situationen so zu verändern, dass die gestellten Anforderungen besser bewältigt werden können. Zum Beispiel erhält ein blindes Kind einen Text digital und kann ihn so mit seiner Software für Sprachausgaben hören statt lesen. Die Anforderung, den Inhalt eines bestimmten Texts zu verstehen, wurde nicht verändert, nur die Situation, in der diese Anforderung gestellt wird. Als zweite Möglichkeit können auch die Anforderungen verändert werden, etwa durch Unterstützung beim Bewältigen einer Aufgabe oder mittels einfacherer Aufgaben. Zu beurteilen, ob die Situation, die Anforderungen oder beides zu ändern sei, ist alles andere als einfach. Hier setzt die Beratung durch entsprechende Fachleute an. Notwendige Anpassungen möglichst entwicklungs- und lernfördernd einzusetzen, ist die Aufgabe der Lehrperson und weiterer zentraler Bezugspersonen. Wie die ICF helfen kann, Situationen besser zu verstehen als Grundlage für professionelles Handeln, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden.