Читать книгу Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage) - Reto Luder - Страница 19

Funktionsfähigkeit und Behinderung

Оглавление

ICF: Umweltfaktoren beeinflussen die Partizipation und Aktivitätsmöglichkeiten von Menschen

Wie bereits erwähnt, erleben alle Menschen während ihres Lebens vorübergehende oder anhaltende Beeinträchtigungen ihrer Fähigkeit, an einem guten Leben teilzuhaben. Manchmal stehen Beziehungsprobleme im Vordergrund, manchmal fehlen die notwendigen Ressourcen, manchmal ist man krank, und manchmal ist man einfach müde und niedergeschlagen. Probleme gehören zum Leben, und wir alle müssen damit leben; Schülerinnen und Schülern geht es nicht anders. Oft stehen schwierige Lebenssituationen nicht im Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen, sondern mit Krisen in der Familie, mit kritischen Lebensereignissen oder Problemen im schulischen Alltag. Verfügt ein Kind nicht über die erwarteten Kompetenzen, sollte zuerst gefragt werden, ob es genügend Gelegenheiten gehabt hatte, diese zu erwerben. Erst wenn mangelnde Gelegenheiten und andere Ursachen ausgeschlossen werden können, kann eine Behinderung in Betracht gezogen werden. Einige Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Lebenssituation oder kritischer Lebensereignisse, aufgrund ihrer Prädisposition oder eines Gesundheitsproblems besonders vulnerabel. Lange andauernde Einschränkungen der Funktionsfähigkeit können zu Behinderungen führen, dabei wirken alle Faktoren, die im ICF-Modell dargestellt sind, zusammen (siehe Abbildung 1). Um diese Dynamik zu verstehen, ist es wichtig, die verschiedenen Dimensionen von Funktionsfähigkeit und Behinderung zu kennen. Auf sie soll in diesem Abschnitt näher eingegangen werden.

Komponenten von Funktionsfähigkeit und Behinderung

Die Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung (Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation) stehen in einem komplexen Wechselspiel untereinander. Der Selbstorganisation und -regulation des Individuums kommt dabei eine hohe Bedeutung zu; die Beziehungen zwischen den Komponenten sind vielfältig. Mit der ICF werden komplexe Verursachungskonstellationen nicht einseitig auf Krankheiten reduziert, sondern in ihrer bio-psycho-sozialen Mehrdimensionalität erkundet. Die Komponente des Körpers besteht aus zwei Klassifikationen; eine erfasst die Funktionen der Körpersysteme und eine deren Strukturen: «Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologischer Funktionen)»; «Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile» (WHO, 2011, S. 34). Mit dem Begriff «Schädigung» wird die Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur bezeichnet. Die Komponente der Aktivitäten und Partizipation umfasst alle Lebensbereiche, welche die verschiedenen Aspekte der Funktionsfähigkeit aus individueller respektive gesellschaftlicher Perspektive beschreiben: «Eine Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen Menschen.» «Partizipation [Teilhabe] ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation.» «Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch haben kann, die Aktivität durchzuführen.» «Eine Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe] ist ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in Lebenssituationen erleben kann.» (ebd.)

1. Mentale Funktionen

2. Sinnesfunktionen und Schmerz

3. Stimm- und Sprechfunktionen

4. Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen Immun- und Atmungssystems

5. Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems

6. Funktionen des Urogenital- und des reproduktiven Systems

7. Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen

8. Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde

ABBILDUNG 2: Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Körperfunktionen

ICF: Körperfunktionen

ICF: Körperstrukturen

ICF: Aktivitäten und Partizipation

Die ICF unterteilt innere Bedingungen und Einflussfaktoren entlang von Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und personbezogenen Faktoren; äußere Bedingungen dagegen entlang von Umweltfaktoren. Dabei nicht erfasst werden die subjektiven Empfindungen, Wünsche und Interpretationen der betroffenen Person, die das Erleben dieses Einbezogenseins beeinflussen. Partizipation ist abhängig von inneren und äußeren Bedingungen und ihrem Wechselspiel; auf diese Zusammenhänge wird unten näher eingegangen. Die Körperfunktionen werden wie in Abbildung 2 dargestellt unterteilt. Die Körperstrukturen orientieren sich an den gleichen Körpersystemen. Die ICF unterscheidet zwischen Aktivitäten und Partizipation, um den Unterschied zwischen den individuellen Leistungsfähigkeiten oder Kompetenzen und der in der aktuellen Umwelt gezeigten Leistung oder Performanz zu unterscheiden. Sie werden jedoch entlang der gleichen neun Lebensbereiche erfasst (siehe Abbildung 3). «Erziehung/Bildung» ist einer der drei «bedeutenden Lebensbereiche» (neben «Arbeit und Beschäftigung» sowie «Wirtschaftliches Leben»), die im achten Kapitel zusammengefasst dargestellt werden.

1. Lernen und Wissensanwendung

2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen

3. Kommunikation

4. Mobilität

5. Selbstversorgung

6. Häusliches Leben

7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen

8. Bedeutende Lebensbereiche

9. Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben

ABBILDUNG 3: Kapitelüberschriften zur Klassifikation der Aktivitäten und Partizipation

Partizipationsbeeinträchtigungen sind im schulischen Kontext zentral, denn dort setzt der Auftrag der Schule an. Die Schule stellt nicht eingeschränkte Funktionsfähigkeiten wieder her, sondern sie erweitert die Partizipationsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler und entwickelt sie weiter. Lehrerinnen und Lehrer sind Fachpersonen für das Lernen und Lehren, also für die Veränderung von Verhaltensweisen und die Erweiterung der Fähigkeiten zur kompetenten Bewältigung unterschiedlichster Situationen. Gesundheitsprobleme können die Partizipationsmöglichkeiten beeinträchtigen. Deshalb ist es wichtig, dass Lehrpersonen auch die mit Krankheiten verbundenen Einschränkungen der Körperfunktionen kennen. Hier braucht es jedoch weniger ein systematisches Wissen zu allen möglichen Problemen als vielmehr spezifische Kenntnisse bezüglich konkret betroffener Schülerinnen und Schüler. Wichtig ist es für Lehrpersonen, den Einfluss von Problemen auf der Ebene von Körperfunktionen in den verschiedenen Situationen, an denen das betroffene Kind sich beteiligt, nicht zu über- oder unterschätzen. Denn auch Kinder mit einer Sinnes- oder körperlichen Beeinträchtigung können hochbegabt sein, und wer schlecht und langsam spricht, muss deswegen nicht in seiner kognitiven Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein. Andererseits können bereits leichte Hörschädigungen im Klassenverband dazu führen, dass betroffene Kinder ohne entsprechende Maßnahmen dem Unterricht nicht folgen können.

Wie das Wechselspiel zwischen Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation im Einzelfall genau zu verstehen ist, kann oft nicht eindeutig festgestellt werden. Auffälliges Verhalten kann durch biologische Faktoren ausgelöst werden, es kann aber auch das Ergebnis einer über längere Zeit erfahrenen Einschränkung der Partizipation sein. Verschiedene Fachleute, die Eltern und das Kind können das auch unterschiedlich einschätzen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass alle Beteiligten sich hierzu austauschen und verschiedene Hypothesen in Betracht ziehen; dabei kann das ICF-Modell als gemeinsame Grundlage dienen. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass das für die Interpretation und das Verstehen notwendige Wissen tatsächlich verfügbar ist. Was etwa eine Gehörlosigkeit für die Funktionsfähigkeit – und insbesondere für die Beteiligung am Unterricht – bedeutet, kann eine Regellehrperson in den meisten Fällen nicht abschließend einschätzen.

Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)

Подняться наверх