Читать книгу Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage) - Reto Luder - Страница 9

Praktisches Handeln als gemeinsame Aktivität

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Förderung aller Kinder, eben auch von Kindern mit SEN, kann im Begriffsverständnis der Aktivitätstheorie (vgl. AT der dritten Generation: z. B. Engeström, 1987, 1999) als Tätigkeit aufgefasst werden. Das Motiv für die besondere Förderung eines Kindes ist ein pädagogisches, indem nämlich die Reduktion von Differenz in den an Schulen relevanten Diversitätsdimensionen angestrebt wird wie zum Beispiel die Möglichkeit, Texte zu lesen, zu verstehen und selbst auch produzieren zu können. Die umfassende Tätigkeit «Förderung» unterteilt sich in einzelne Handlungen (z. B. die Planung von unterschiedlichen Fördermaßnahmen während eines Schuljahrs), die durch gemeinsam verantwortete Ziele im Förderteam gesteuert werden. Diese Handlungen wiederum unterteilen sich in einzelne Operationen (zum Beispiel konkrete Leseförderungstrainings durchführen, Rechtschreibprogramme anleiten, die Arbeit der Kinder damit begleiten), die sich aus instrumentellen Bedingungen ergeben. Dabei stellt die Tätigkeit «Förderung» eine kollektive Tätigkeit dar (zum Beispiel durch mehrere Personen, die ihre je individuell ausgeführten Handlungen jeweils auf die Ziele ausrichten).

Eine inklusive Schule ist angewiesen auf spezifische, professionelle sonderpädagogische Förder- und Unterstützungsangebote. Die Abschaffung einer disziplinären Sonderpädagogik zugunsten einer Pädagogik der Vielfalt würde bedeuten, dass es den Lehrpersonen allein obliegt, über diese Wissensbestände und dieses praktische Können zu verfügen und Wissen und Können weiterzuentwickeln. Es dürfte sehr schwierig sein, angehende Lehrpersonen im Rahmen ihrer allgemeinen Ausbildung zusätzlich auch noch auf diese Aufgabe vorzubereiten, das heißt neben ihrer anspruchsvollen Unterrichtspraxis von ihnen auch noch die spezifische sonderpädagogische Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen zu fordern. Wenn das aber nicht gelingt, ist das Ergebnis ein substanzieller Verlust von Wissen und Praxiskönnen und damit ein massiver Verlust an gezielter Förderung für die betroffenen Kinder. Inklusive Förderung und Unterstützung gelingt nur in Anbindung an eine entsprechende Praxis und im damit verbundenen Austausch von Praxiswissen mit weiteren Personen. Dazu braucht es spezialisierte Netzwerke, Ausbildungsgänge und Weiterbildungsangebote von und für Spezialistinnen und Spezialisten. Notwendig ist deshalb eine Klärung der Aufgaben, Kompetenzen und gegenseitigen Pflichten zwischen spezifisch ausgebildeten Fachpersonen mit spezifischem Wissen und entsprechender Praxis einerseits und Klassenlehrpersonen andererseits.

Pädagogisch-therapeutische Fachperson (PTF)

— Pädagogisch-therapeutische Fachpersonen (PTF) im Bereich Sonderpädagogik, Therapie usw. verfügen über das fachliche Wissen und Können in Bezug auf die diagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltensvoraussetzungen und die Entwicklung individuell angepasster, pädagogisch-therapeutischer Förderziele, Fördermaßnahmen und Unterrichtsmaterialien. Sie arbeiten aktiv mit den Regelschullehrpersonen im gemeinsamen Unterricht zusammen. Sie unterstützen und fördern Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele.

Lehrperson

— Eine Lehrperson (Klassenlehrperson oder Fachlehrperson) gestaltet einen differenzierten, inklusiven Unterricht, plant lehrplanbezogen die Lernziele aller Schülerinnen und Schüler und überprüft, ob sie sie erreichen können. Sie schafft ein positives und auf gegenseitiger Hilfe und Rücksichtnahme basierendes Klassenklima. Sie ist in der Lage, Lernschwierigkeiten und besondere Lern- und Verhaltensvoraussetzungen wahrzunehmen. Die Lehrperson arbeitet für eine solche Förderung mit der PTF zusammen. Sie gestaltet die Zusammenarbeit mit den Eltern und im Schulteam und übernimmt die Verantwortung für die schulische Gesamtsituation all ihrer Schülerinnen und Schüler.

Wie kommt in einer inklusiven Schule dieses spezifische Know-how für die Förderung in einem inklusiven Schulsystem den Kindern zugute, die es benötigen? Eine einzelne Lehrperson allein kann diesem Anspruch nicht genügen. Eine inklusive Schule erfordert die Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Schulteams. Inter- und intradisziplinäre Zusammenarbeit von Lehrpersonen an der Regelschule und den pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen erweist sich dabei als Arbeitsform, welche die Kompetenzen der Lehrpersonen verbessert (vgl. Baumert & Kunter, 2006) und zur Professionalisierung in den Bereichen inklusive Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderplanung beiträgt (vgl. Luder et al., 2011). Dabei ist es wesentlich, die gemeinsame Praxis an gemeinsam formulierten Förderzielen auszurichten: «Die Freiheitsgrade der disziplinären Praxis sollen […] nicht verringert werden, die interdisziplinäre Ausrichtung der pädagogisch-therapeutischen Handlungen hingegen soll verstärkt werden» (Kunz, Gschwend & Luder, 2011, S. 21).

Professionelle Zusammenarbeit

Die professionelle Zusammenarbeit zwischen Klassenlehrperson (KLP) und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (PTF) kann unterschiedlichste Formen annehmen (vgl. Kunz et al., 2012). Wenn ein Tandem oder Team, bestehend aus mindestens einer KLP und einer PTF, sich optimal ergänzt und aufeinander abgestimmt ist, dann kann von getrennten jeweiligen Zuständigkeiten und einer Überlappung von gemeinsam verantworteten Aufgaben gesprochen werden. Die Personen bleiben einerseits in ihren Funktionen mit klaren Aufgabenbereichen unabhängig und bringen andererseits ihre unterschiedlichen Kompetenzen im Unterricht ein. Beide Personen teilen sich die Verantwortung für das Gelingen schulischer Förderung.

Geht man von multiprofessionellen Lehrerteams aus, die in flexiblen Formen schulischer Arbeitsorganisation zusammenarbeiten, dann gibt es auch eine Reihe möglicher Kombinationen, nicht zwingend im Sinn von getrennten Zuständigkeiten. So kann das gesamte Team für eine bestimmte Fragestellung zuständig sein, die Aufgaben und Funktionen sind jeweils unterschiedlich und untereinander koordiniert. Aber auch hier bedingt dies eine klare Rollenaufteilung entlang der Kompetenzen einzelner Personen. Auf der Basis des Modells «getrennte Zuständigkeiten mit einer Schnittmenge» lassen sich diesbezüglich solche Absprachen spezifischer und gemeinsamer Aufgaben von Klassenlehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen bestimmen. In Tabelle 1 werden exemplarisch für die Bereiche Unterricht, individuelle Förderung und Förderplanung, Evaluation und Beurteilung sowie Zusammenarbeit und Koordination solche Aufgaben beschrieben, die auf Praxiserfahrungen und entsprechenden Empfehlungen beruhen (vgl. u. a. Ramírez Moreno, 2010; Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2011). Sie werden nicht als abschließende Zusammenstellung, sondern als mögliche Beispiele und Diskussionsgrundlage verstanden.

TABELLE 1: Aufgabenklärung für die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und pädagogisch-therapeutischen Fachpersonen (schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Therapeutinnen und Therapeuten) (in Anlehnung an Kunz & Gschwend, 2011)

BereichZuständigkeit primär bei der LehrpersonSchnittmenge: gemeinsame ZuständigkeitZuständigkeit primär bei der pädagogisch-therapeutischen Fachperson
UnterrichtGestaltung eines integrationsfähigen Unterrichts (innere Differenzierung und Individualisierung)Individuelle Unterstützung und Förderung im gemeinsamen Unterricht (z. B. Teamteaching)Gemeinsame Unterrichts-reflexion und Unterrichts-entwicklungEntwicklung individuell angepasster Förder- und UnterrichtsmaterialienGezielte Förderung und Unterstützung in Bezug auf individuelle Lern- und Entwicklungsziele
Individuelle Förderung und FörderplanungErkennen von Lernschwierigkeiten und Entwicklungs-auffälligkeitenZielsetzung und Vereinbarung von MaßnahmenDiagnostische Erfassung von Lern- und Entwicklungs-voraussetzungenCase Management / Verfassen individueller Förderpläne
Evaluation und BeurteilungBeurteilung aller Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die LehrplanzielePrognostische Beurteilung und LaufbahnberatungDiagnostische Erfassung von Lern- und Verhaltens-voraussetzungen (im Sinne pädagogischer Diagnostik / Verlaufsdiagnostik)Führungsrolle beim Verfassen individueller Lernberichte
Zusammenarbeit und KoordinationHauptansprechperson für die Eltern und Gesamtverantwortung für alle Schülerinnen und Schüler der KlasseZusammenarbeit mit Eltern und im SchulteamEinbringen von fachlichem sonderpädagogischem Wissen, BeratungsangeboteKoordination der Zusammenarbeit mit externen Stellen
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