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«Behinderung» neu denken

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Unterricht ist dann gut, wenn alle daran beteiligten Kinder für ihre Entwicklung und Bildung optimal profitieren können. Eine Schule für alle ist eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam leben und lernen. Dabei sind der Lehrplan, die Lehrmittel, Aufgaben und Unterrichtsmaterialien wichtige Orientierungspunkte. Bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen können hier allerdings Schwierigkeiten auftreten, weil sie erwartete Voraussetzungen nicht mitbringen oder unerwartete Bedürfnisse beim Lernen und Interagieren haben. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtssituationen planen und gestalten, Hilfen bereitstellen, Ziele festlegen und überprüfen, sodass alle Schülerinnen und Schüler angesprochen und herausgefordert sind und von den geschaffenen Lerngelegenheiten profitieren können? Dies erfordert hohe Professionalität, deren Grundlagen im Studium erworben werden und die sich im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit weiterentwickelt. Erforderlich ist auch ein tragendes Netzwerk verschiedener Fachleute, auf das sich Regellehrpersonen abstützen können.

Traditionelle Behinderungsbegriffe sind wenig hilfreich

Was können Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit? Was nehmen sie mit an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen, wie viel Selbstvertrauen und Freude am Lernen oder Interesse an Neuem haben sie? Damit Lehrpersonen allen Schülerinnen und Schülern ein adäquates Lernangebot machen können, schätzen sie laufend die Voraussetzungen, die gegenwärtige Situation sowie das Potenzial der einzelnen Kinder und Jugendlichen ein. Doch was ist, wenn ein Kind eine Behinderung hat? Behinderungen schaffen Unsicherheit für alle direkt oder indirekt Betroffenen, weil damit andere Lernvoraussetzungen, besondere Anforderungen an Lernsettings, ungewohnte Interaktionsformen sowie Ungewissheit des Bildungserfolgs verbunden sind. Diese Unsicherheit kann nur reduziert werden, wenn Lehrpersonen ein besseres Verständnis der Situation des Kindes gewinnen – als Grundlage für ihr eigenes Handeln. Traditionelle Behinderungsbegriffe wie geistige Behinderung, Lernbehinderung, Körperbehinderung oder ähnliche Konzepte sind wenig hilfreich, denn sie fokussieren nur auf das, was eine Lehrperson meist nicht ändern kann. Doch auch im schulischen Kontext verwenden immer noch viele Fachpersonen ausschließlich Begriffe wie Down-Syndrom, geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Verhaltensstörung, Lernbehinderung oder Autismus, wenn es darum geht, Schwierigkeiten zu erklären. Mit der Bestimmung einer Störung glaubt man zu wissen, was das Kind hat, was dem Kind fehlt und wie man ihm helfen kann. Oft bewirken solche Feststellungen genau das Gegenteil: Lehrpersonen fühlen sich hilflos, weil sie aus solchen Diagnosen keine Informationen ziehen können, die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Komplexe Schwierigkeiten werden auf eine oft nicht einmal klar definierbare Eigenschaft des Kindes reduziert; problematische Situationen und Probleme zwischen Menschen werden zu einem Problem des Kindes gemacht.

Wichtige Informationen für Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht

Alle wirklich wichtigen Informationen betreffend Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht sind in diesen Begriffen nicht mehr sichtbar: Welche Aufgaben kann das Kind bewältigen, respektive wie müssen diese angepasst werden, damit das Kind sie bewältigen kann? Mit welchen Lehr-Lern-Settings kann es sich am besten am Unterricht beteiligen? Wie lassen sich Ziele setzen und deren Erreichung beurteilen, respektive wie können Rückmeldungen zu Lernen, Leistungen und Entwicklung gegeben werden? Was kann beispielsweise Sarah besonders gut? Wie kann Tobias motiviert werden? Wo brauchen die von einer Behinderung betroffenen Kinder Unterstützung, und wo müssen sie herausgefordert werden? Wann lernen sie besser allein als mit der Hilfe von Klassenkameraden? Wie erklärt die Lehrerin der Klasse, weshalb Ivana beim Schreiben einer Prüfung mehr Zeit erhält? Hinter Diagnosen verschwindet fast alles, was Lehrpersonen über Kinder mit Behinderungen wissen müssen.

Damit Lehrpersonen sich gegenüber Kindern mit Behinderungen als wirksam erleben, müssen sie einen neuen Zugang zum Verstehen der Situation betroffener Kinder entwickeln. Krankheiten und Störungen (Diabetes, Autismus, Down-Syndrom) zu heilen oder zu behandeln, gehört nicht zum Berufsauftrag von Lehrpersonen. In manchen Fällen ist es zwar wichtig zu wissen, dass eine Krankheit vorliegt, weil bestimmte Verhaltensweisen oder Bedürfnisse damit zusammenhängen können. Wichtig ist insbesondere ein gutes Verständnis dessen, wie sich eine Schädigung oder Krankheit auf die Beteiligung am Unterricht und am Schulleben auswirkt. Für die Handlungsfähigkeit von Lehrpersonen ist es indessen vor allem wichtig zu verstehen, was an Behinderungen tatsächlich nicht beeinflusst und was durch Lehr-Lern-Prozesse verändert werden kann.

Wie können Lehrpersonen Behinderungen so verstehen, dass sich Handlungsmöglichkeiten eröffnen statt verschließen? Wie Behinderung in diesem Sinne neu gedacht werden kann und was das für Lehrpersonen und ihre Arbeit bedeutet, ist Gegenstand dieses Beitrags. Behinderungen sind Einschränkungen oder Besonderheiten, die beim Ausführen von Handlungen, beim Bewältigen von Situationen oder beim Problemlösen und Lernen wirksam werden. Behinderungen sind keine fixen Eigenschaften von Personen, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen Charakteristiken einer Person und ihrer Umwelt. Behinderungen sind situativ zu verstehen; sie werden immer in ganz bestimmten Situationen sichtbar, wenn etwa bestimmte Anforderungen an das betroffene Kind gestellt werden. Das Planen und das Gestalten von Situationen sind Kernaufgaben von Lehrpersonen, und sehr oft sind sie auch direkt an Lernsituationen mitbeteiligt. Genau hier müssen die Informationen zu allfälligen Behinderungen einfließen können.

ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health Behinderung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2001 zur besseren Erfassung von Behinderungen eine neue Klassifikation verabschiedet und allen ihren Mitgliedsländern zur Anwendung empfohlen. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) und deren Version für Kinder und Jugendliche (Children and Youth Version, ICF-CY, WHO, 2011) bauen auf einem neuen Verständnis von Behinderung auf. Die ICF bringt Ordnung in die bisherigen Behinderungsbegriffe und ermöglicht, für alle Fachpersonen und Betroffenen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Sie trennt Krankheiten und andere Gesundheitsprobleme von den Komponenten der Funktionsfähigkeit. Gesundheitsprobleme werden mit der «Internationalen Klassifikation der Krankheiten» (International Classification of Diseases, ICD) separat erfasst, wobei die ICD vor allem in medizinischen Arbeitskontexten verwendet wird. Mit der ICF können Probleme auf der Ebene des Körpers, der Handlungsfähigkeit der Person und der Beteiligung an Situationen unterschieden werden. Immer mitgedacht werden die Kontextfaktoren, sowohl seitens der Umwelt (Umweltfaktoren) als auch seitens der beteiligten Personen (personbezogene Faktoren). Damit liegen die Grundlagen vor für ein besseres Verständnis der Situation eines Kindes mit Behinderungen. Im Folgenden sollen die wichtigsten Eigenschaften der ICF, ihre Bedeutung für ein neues Verständnis von Behinderungen in der Schule und für die Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen dargestellt werden.

Inklusive Pädagogik und Didaktik (E-Book, Neuauflage)

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