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Das Kind in seiner Lebenssituation verstehen
ОглавлениеWechselspiel zwischen den personbezogenen Faktoren und der Funktionsfähigkeit
In Situationen kommen die inneren und äußeren Lebensumstände von verschiedenen Menschen zusammen. Jede Person bringt ihre eigene Lebensgeschichte (biografischer Kontext) mit in Lebenssituationen, an denen sie beteiligt ist. Jede Lebenssituation ist in einen größeren sozialen Kontext eingebunden. Um das Verhalten von Menschen in bestimmten Situationen zu verstehen, muss das Wechselspiel zwischen biografischem und sozialem Kontext in den Blick genommen werden. Das Verhalten resultiert immer aus dem Zusammenspiel zwischen einer äußeren (Umgebung) und einer inneren Situation (Person) (vgl. die Feldtheorie von Lewin; Lewin, 2012). In der ICF wird ein so verstandenes Verhalten mit dem Konzept der «Partizipation» erfasst. Mit Partizipation (Beteiligung) bezeichnet die ICF das Einbezogensein in eine Situation (siehe oben), das im Kontext der spezifischen personalen und sozialen Situation realisiert werden kann. Im letzten Abschnitt stand die Situierung der Funktionsfähigkeit in einer bestimmten Unterrichts- oder Anforderungssituation im Zentrum, nun sollen einige Überlegungen zur Situierung von Funktionsfähigkeit im aktuellen Lebenszusammenhang des Kindes angefügt werden. Im letzten Abschnitt stand das Wechselspiel zwischen Umweltfaktoren und Funktionsfähigkeit im Zentrum, in diesem Abschnitt hingegen geht es um das Wechselspiel zwischen den personbezogenen Faktoren und der Funktionsfähigkeit.
Selbstverständlich werden in der Schule immer wieder auch Beteiligungseinschränkungen bei Schülerinnen und Schülern sichtbar und wirksam, die primär mit der außerschulischen Lebenssituation zu tun haben. Dazu gehören vorübergehende Situationen, wie etwa Müdigkeit einer Schülerin oder eines Schülers, Trauer wegen des Verlusts eines Familienmitglieds oder Irritationen und Ablenkbarkeit wegen Streitigkeiten unter den Lernenden. Es gibt aber auch im familiären Umfeld Situationen, die durch das Zusammenwirken verschiedener Umweltfaktoren über lange Zeit wirken und so die Funktionsfähigkeit und die Behinderung eines Kindes nachhaltig beeinflussen können. Um die Lebenssituation des Kindes zu verstehen, muss also die Funktionsfähigkeit des Individuums auch im Kontext seiner bisherigen Erfahrungen verstanden werden, es muss eine biografische Kontextualisierung vorgenommen werden. Dafür müssen die offensichtlichen personbezogenen Faktoren wie Alter und Geschlecht berücksichtigt werden, aber auch jene, die permanente Spuren in der Persönlichkeit und Identität des Kindes hinterlassen, wie etwa Temperament, Dispositionen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Resilienz oder Habitus vor dem Hintergrund der ethnischen und sozialen Herkunft.
Bei der Einschätzung der Funktionsfähigkeit und Behinderung ist es wichtig, sich auch zu deren personaler Situierung Überlegungen zu machen. Der personbezogene Faktor «Alter» ist für die Einschätzung von Funktionsfähigkeit von großer Bedeutung. Wie erwähnt, ist Impulsivität respektive fehlende Impulskontrolle normal für junge Kinder und kann bei vielen Kindern bis ins Kindergarten- und frühe Primarschulalter beobachtet werden, ohne dass dies als abweichendes Verhalten zu beurteilen ist. Gute Kenntnisse zur Entwicklung der verschiedenen Körperfunktionen und Aktivitäten sind deshalb von großer Bedeutung. Auch das Geschlecht kann die Funktionsfähigkeit beeinflussen, einerseits durch direkte biologische Mechanismen, andererseits vermittelt über soziale Erwartungen und Normen. Die soziale Herkunft ist deshalb mitunter von Bedeutung, weil bestimmte Verhaltensdispositionen in den familiären Interaktionsmustern stabilisiert werden. Wächst das Kind zum Beispiel in einer wenig verlässlichen Umwelt auf, in der, was heute gesagt wird, morgen möglicherweise keine Geltung mehr hat, hat das Kind wenig Anlass, seine Impulse und Bedürfnisse aufzuschieben, da sich morgen vielleicht schon keine Gelegenheit zu deren Befriedigung mehr bietet. Auch kann es sein, dass Kinder wegen einer Behinderung viele wichtige Lebenserfahrungen nicht machen konnten, etwa weil ihre Eltern sie vor schwierigen Situationen schützen wollten. Dies kann sich in mangelnder Konfliktfähigkeit oder sozialer Ängstlichkeit zeigen.
Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt
Im Kindesalter sind die personbezogenen Faktoren als unterschiedliche Aspekte des Lebenshintergrundes zu verstehen und nicht als fixe Eigenschaften des Kindes. Veränderte Lebenssituationen haben einen Einfluss auf die dort erfassten Faktoren, sie können durch neue Erfahrungen verändert werden. Die soziale Herkunft ist für Kinder gleichzeitig auch ihre Umwelt. Das Kind bringt seine Lebenssituation mit in die Schule, so wie der Lebenshintergrund der Lehrpersonen ihre Arbeit beeinflusst. Liegen die verschiedenen Lebenslagen sehr weit auseinander, kann es schwierig sein, überhaupt gemeinsam an Situationen zu partizipieren. Durch intensive Elternarbeit ist es möglich, sich über die Lebenssituation des Kindes auszutauschen und gemeinsame Ziele und Maßnahmen zu vereinbaren, die gemäß den Möglichkeiten der verschiedenen Lebensräume (Schule, Elternhaus, Freizeit) umgesetzt werden können. Hier kann ein gutes situatives Verständnis der Lehrperson nicht nur bei der Gestaltung von Unterrichtssituationen helfen, sondern auch im Gespräch mit den Eltern. Die weiter oben geschilderten verschiedenen Analyse- und Handlungsmöglichkeiten (siehe Abbildung 7) können auch hier eingebracht werden.
Die ICF bietet keine detaillierten Analysedimensionen für das Verstehen individueller Lebenslagen. Soweit diese aber bekannt sind oder erkannt wurden, kann die ICF hilfreich sein für das Verstehen des Zusammenspiels zwischen diesen und der Funktionsfähigkeit des Kindes. Es kann ein besseres Verständnis gewonnen werden, wie sich die Funktionsfähigkeit und Behinderung bisher entwickelt hat, welche Aspekte einer Behinderung vermutlich wenig verändert werden können und mit welchen Anpassungen der Umwelt oder Anforderungssituationen das Kind am besten unterstützt werden kann. Gerade beim Einschätzen von längerfristigen Entwicklungen oder bei der Formulierung von alternativen Bildungszielen ist diese biografische Kontextualisierung sehr wichtig. So können Ziele formuliert werden, die auch erreicht werden können, und alle Beteiligten können sich auf das konzentrieren, was verändert werden kann, ohne die Aspekte auszublenden, die sich kaum beeinflussen lassen oder deren Beeinflussung nicht zum Auftrag der Schule gehört. So gelingt es Lehrpersonen besser, Dinge, die sie nicht ändern können, mit einer gewissen Gelassenheit hinzunehmen. Und hoffentlich entwickeln sie so mit der Zeit auch eine größere Sicherheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Literatur
Argyle, M., Furnham, A. & Graham, J. A. (1981). Social situations. Cambridge University Press.
Bless, G. (2007). Zur Wirksamkeit der Integration. Forschungsüberblick, praktische Umsetzung einer integrativen Schulform, Untersuchungen zum Lernfortschritt. Haupt.
Eckhart, M., Haeberlin, U., Sahli Lozano, C. & Blanc, P. (2011). Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Haupt.
Lewin, K. (2012). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Huber.
WHO (2011). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (ICF-CY). Huber.