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2.1 Die gesellschaftlichen Grundlagen der Wirtschaft

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Wirtschaftssysteme entstehen nicht in einem Vakuum. Sie entwickeln sich in einem umfassenderen gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Kontext. Um eine Grundlage für ein neues Wirtschaftssystem schaffen zu können, müssen wir diesen umfassenderen Kontext verstehen und verändern. Erst dann können wir eine effektive Wirtschaftsordnung aufbauen, die das Wohlergehen und die Weiterentwicklung der Menschen unterstützt und fördert und die natürliche Lebensgrundlage unserer Kinder und zukünftiger Generationen schützt und erhält.

So seltsam es klingen mag: Wenn wir unser Wirtschaftssystem ändern wollen, dürfen wir uns nicht auf die Wirtschaft allein konzentrieren. Wir müssen tiefer und weiter gehen. Wir können ineffiziente, ungerechte und umweltschädigende Wirtschaftspraktiken überwinden – aber damit uns das gelingt, müssen wir die gesellschaftlichen Faktoren betrachten, die unsere Wirtschaft und unsere Wirtschaftstheorien formen und wiederum von diesen geformt werden. Anders ausgedrückt: Wir können Wirtschaftssysteme nicht verstehen, geschweige denn verändern, solange wir nicht den umfassenderen Kontext betrachten, also die psychologischen und gesellschaftlichen Beziehungsdynamiken in allen Lebensbereichen.

In Wirtschaftssystemen geht es um eine Form menschlicher Beziehungen. Es geht nicht um Verbindungen zwischen Gütern, sondern zwischen Menschen. Aus diesem Grund müssen Menschen sowie Tätigkeiten, die menschliches Leben und menschliche Beziehungen verbessern, im Mittelpunkt wirtschaftlicher Analysen stehen. Unser Leben wird von Beziehungen bestimmt. Beziehungen bilden die Grundlage aller gesellschaftlichen Institutionen – angefangen von Familie, Erziehung und Bildung bis hin zu Politik und Wirtschaft.

Die neuartige wissenschaftliche Herangehensweise an die Wirtschaft, die in diesem Buch vorgestellt wird, hat sich aus einer Fachgebiete übergreifenden Forschung heraus entwickelt und findet aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Theorien wie der Systemtheorie der Evolution, der Chaostheorie, der Komplexitätstheorie, der Selbstorganisationstheorie und weiterer neuer Betrachtungsweisen sozialer Systeme statt. Die auf dieser Herangehensweise basierende Forschung führte zunächst zur Veröffentlichung von Kelch und Schwert. Unsere Geschichte, unsere Zukunft, worin ich eine mehrdimensionale Betrachtungsweise der Menschheitsgeschichte einführe, um zum Kern dessen vorzustoßen, was uns in unserer kulturellen Entwicklung vorantreibt bzw. zurückwirft.1 Im Rahmen dieser Forschung entstanden auch weitere Bücher, in denen ich das Thema Geschlechter und Macht aus dieser Perspektive untersuchte.2 Hier wende ich diese wissenschaftliche Herangehensweise auf die Wirtschaft an und schließe so den Kreis meiner Nachforschungen über Geschlechtlichkeit, Macht und Geld – von denen es heißt, sie würden die Welt am Laufen halten.

Meine Analyse der Wirtschaft bezieht sich auf aktuelle Ergebnisse aus der Erforschung evolutionärer Systeme und stützt sich auf die aus meiner Sicht besten Forschungsarbeiten auf dem Feld der Wirtschaftswissenschaften. Meine offizielle akademische Ausbildung habe ich nicht in Wirtschaftswissenschaft absolviert, sondern auf dem Gebiet der Rechts- und Sozialwissenschaften und der Anthropologie. Das macht mich zur Außenseiterin, was sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt. Der Vorteil besteht darin, dass ich dadurch weniger vorgefasste Vorstellungen in meine Betrachtung der Wirtschaft mit einbringe – was einer der Gründe ist, warum Fortschritte in den unterschiedlichsten Disziplinen häufig von Außenseitern erzielt werden.

Mein Ansatz besteht darin, aus mehreren Fachströmungen zu schöpfen. Diese Forschungsmethode findet immer stärkere Verbreitung, denn wenn wir angemessen auf die Herausforderungen unserer komplexen Welt reagieren wollen, müssen wir zahlreiche Wissensgebiete miteinander verknüpfen. Bei dieser breit angelegten Analyse werden Themenbereiche – darunter auch kulturelle Überzeugungen und gesellschaftliche Institutionen – untersucht, die oberflächlich betrachtet nicht mit der Wirtschaft in Zusammenhang stehen und von der konventionellen Wirtschaftswissenschaft meistens nicht berücksichtigt werden. Besondere Beachtung schenkt diese Analyse den Überzeugungen davon, was wertvoll ist und was nicht. Zu den untersuchten Themenbereichen gehören Beziehungen, Männer und Frauen, Familie und Arbeit, Technik, Politik und all die vielen anderen Themen, die miteinander verknüpft sind und aus denen die lebendige Wirtschaft auf unserem vernetzten und zunehmend gefährdeten Planeten besteht. Tatsächlich werden Themenbereiche betrachtet, die in konventionellen Wirtschaftsanalysen völlig fehlen, wie zum Beispiel die frühe Eltern-Kind-Beziehung und die Beziehung zwischen der weiblichen und der männlichen Hälfte der Menschheit sowie die tiefgreifenden Auswirkungen, welche diese auf die Werte und die Interaktionen von Menschen haben – auch in Hinblick auf die Wirtschaft. Außerdem findet die Betrachtung hier aus einem neuen Blickwinkel statt, nämlich unter Berücksichtigung von zwei grundlegenden Beziehungsmodellen: dem von gegenseitigem Respekt getragenen Partnerschaftssystem und dem auf Hierarchie basierenden Dominanzsystem.

Frühere gesellschaftswissenschaftliche Kategorien, die mit Gegenüberstellungen wie rechts und links, religiös und säkular, Ost und West, industrialisiert und prä- oder postindustriell arbeiten, fokussieren jeweils nur Teilaspekte einer Gesellschaft, beispielsweise technologische Entwicklungen oder Fragen der geographischen oder ideologischen Ausrichtung. Das macht eine tatsächlich systemumfassende Untersuchung unmöglich. Das Partnerschaftssystem und das Dominanzsystem umfassen die Gesamtheit gesellschaftlicher Überzeugungen und Institutionen – angefangen bei der Familie über Bildung und Religion bis hin zu Politik und Wirtschaft. Das heißt, sie beschreiben umfassende soziale Strukturen, die aus dem herkömmlichen, auf enger gefassten Kategorien basierenden Blickwinkel nicht erkennbar waren.

Der Psychologe Robert Ornstein schreibt in seinem Buch Die Psychologie des Bewusstseins, dass Phänomene für uns nur schwer wahrnehmbar sind, wenn wir sie keiner Kategorie zuordnen können: Sprache stelle ein beinahe unbewusst festgelegtes Kategoriensystem dar, das es den Sprechenden ermöglicht, Erfahrungen auszublenden, die außerhalb dieses gemeinsamen Kategoriensystems liegen.3

Für einen Systemwandel brauchen wir Kategorien, die nicht einfach die grundlegenden Bereiche unserer Gesellschaft außer Acht lassen. Die Kategorien des Partnerschafts- und Dominanzsystems erfüllen diesen Anspruch. Sie umfassen die grundlegenden Werte und Institutionen einer Gesellschaft, sowohl in dem von uns als Privatsphäre bezeichneten Bereich der Familie und anderer enger Beziehungen als auch im öffentlichen Leben wie den lokalen, nationalen und internationalen Gemeinschaften. Von vorrangiger Bedeutung ist jedoch, dass sich mithilfe dieser Modelle beschreiben lässt, welche Werte und Institutionen diese beiden grundverschiedenen Beziehungsmuster jeweils fördern oder hemmen, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen – einschließlich der Wirtschaft.

Die verkannten Grundlagen der Ökonomie

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