Читать книгу Die verkannten Grundlagen der Ökonomie - Riane Eisler - Страница 24
3.2 Geschichten, mit denen wir leben und sterben
ОглавлениеUnser Leben wird von Geschichten bestimmt: Sie sagen uns, ob etwas natürlich oder unnatürlich, möglich oder unmöglich, wertvoll oder wertlos ist. Wir verinnerlichen diese Geschichten, lange bevor unsere kritischen Fähigkeiten und unsere Gehirne sich vollständig entwickelt haben. Deshalb neigen wir dazu, die darin enthaltenen Botschaften als unabänderliche Wahrheiten zu akzeptieren – und eine der Hauptbotschaften dieser überlieferten Geschichten ist die Abwertung von einer Hälfte der Menschheit und allem, was mit ihr assoziiert wird.
Ich wuchs in Zeiten auf, in denen der Glaube an die Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann in den USA noch fest verankert war. Noch in den 1950ern reagierten die Leute auf die Geburt eines Mädchens mit dem Spruch: »Hoffentlich wird es das nächste Mal ein Junge.«
Die überlieferte Angewohnheit, Männerfragen über Frauenfragen zu stellen, ist so tief verwurzelt, dass selbst Menschen, die sich für ihre egalitären Prinzipien rühmen, bei allem, was Frauen anbelangt, oft noch denken, dass es sich dabei »nur um Frauenfragen« handele. Dabei käme selbstverständlich niemand auf den Gedanken, irgendetwas, das die männliche Hälfte der Menschheit anbelangt, als »einfach nur Männerfragen« abzutun.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich noch lebhaft an ein Gespräch mit einem bekannten Menschenrechtsaktivisten, den ich davon zu überzeugen versuchte, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Nachdem er sich meinen leidenschaftlichen Vortrag unter höflichem, zustimmendem Nicken angehört hatte, erklärte er mir, dass er sein Engagement nicht auf Frauenrechte würde ausweiten können, weil er bereits völlig mit so lebenswichtigen Fragen wie politischer Folter und politischem Mord beschäftigt sei. Als ich ihn darauf hinwies, dass es auch bei Frauenrechten um Leben und Tod ginge – die Gewalt gegen Frauen fordert jährlich Hunderttausende Todesopfer – beharrte er darauf, dass es sich dabei lediglich um »Frauenfragen« handele, derer man sich annehmen könne, wenn »wichtigere Probleme« gelöst seien.
Hier muss hinzugefügt werden, dass nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen mit zweierlei Maß messen, wenn es um Geschlechterfragen geht: So entscheiden sich viele Frauen in den USA bei politischen Wahlen lieber für männliche als für weibliche Kandidaten – und in anderen Gegenden der Welt hat dieser Gender-Bias sehr viel extremere Auswirkungen:
In zahlreichen Ländern werden Frauen und Mädchen traditionell, rechtlich und politisch immer noch offen diskriminiert. So sind Frauen in vielen Ländern Afrikas, Südostasiens und des Nahen Ostens nicht berechtigt, Land zu besitzen oder sich als Unternehmerinnen selbstständig zu machen. In manchen Ländern dürfen sie sich nicht einmal frei bewegen. Oft kommt es in diesen Gegenden auch vor, dass Eltern ihren Töchtern den Zugang zu Bildung verwehren oder sie, was Nahrung oder Gesundheitsfürsorge anbelangt, gegenüber den Söhnen benachteiligen.5
Dieser Doppelstandard bei der Ernährung, der oft von Müttern auf die eigenen Töchter angewandt wird, hat direkte Auswirkungen auf die weibliche Sterberate. Laut dem Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen starben in Indien im Jahr 1990 ein Viertel der indischen Mädchen, bevor sie ihr fünfzehntes Lebensjahr erreicht hatten.6 Auch in anderen Ländern der Welt liegt die Sterblichkeitsrate von Mädchen deutlich höher als die von Jungen. Laut einem 1991 veröffentlichten UN-Sonderbericht über Frauen starben in Pakistan pro Jahr von 1000 Personen im Alter von zwei bis fünf Jahren 54,4 Mädchen und 36,9 Jungen. In Haiti waren es 61,2 Mädchen im Vergleich zu 47,8 Jungen, in Thailand 26,8 im Vergleich zu 17,3 und in Syrien 14,6 im Vergleich zu 9,3.7
Dadurch, dass wir diese Fragen als »Frauenfragen« abtun, werden wir blind für das Offensichtliche: Wenn Frauen und Mädchen weniger zu essen bekommen, leiden nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen darunter. Es ist allgemein bekannt, dass Kinder von unterernährten Frauen oft in schlechtem Gesundheitszustand und mit unterentwickeltem Gehirn zur Welt kommen. Wenn Frauen und Mädchen in Hinblick auf Ernährung und Gesundheitsfürsorge benachteiligt werden, dann werden alle Kinder – egal ob männlich oder weiblich – ihres Geburtsrechts beraubt, nämlich ihres Potenzials für eine optimale Entwicklung.
Die Geschlechterdiskriminierung verursacht nicht nur enormes Leid und Unglück, sondern behindert auch massiv die menschliche und wirtschaftliche Entwicklung. So hat sie direkte Auswirkungen auf die Erwerbsbevölkerung, denn sie beeinträchtigt die Fähigkeit von Kindern – also langfristig auch Erwachsenen –, sich an neue Bedingungen anzupassen und Frustrationstoleranz zu entwickeln. Außerdem begünstigt sie gewalttätige Tendenzen. Diese Konsequenzen der Geschlechterdiskriminierung erschweren es, Lösungen für Probleme wie chronischen Hunger, Armut und bewaffnete Konflikte zu finden und Voraussetzungen für eine menschlichere, glücklichere und friedlichere Welt zu schaffen.
In den meisten Ländern erfährt auch die traditionell von Frauen geleistete Care-Arbeit nur wenig bis keine Unterstützung. So gibt es zum Beispiel nur in wenigen Ländern Beihilfen für Familien mit Kindern. In vielen Ländern wird Care-Arbeit selbst dann nur geringer Wert beigemessen, wenn sie innerhalb der Marktwirtschaft erfolgt – und gar keiner, wenn sie privat in Haushalten geleistet wird.
Betrachtet man diese Faktoren vor dem Hintergrund der traditionellen Diskriminierung von Frauen und Mädchen in Bildung, Gesundheitsfragen, Wirtschaft und sogar Ernährung, wundert es einen nicht, dass Frauen und Kinder weltweit die größte Gruppe im Heer der Armen bilden und hier zu den Ärmsten der Armen gehören.
Solange wir in Wirtschaft und Gesellschaft diesen Gender-Doppelstandard verwenden, ist es unrealistisch zu erwarten, dass sich etwas Grundlegendes an der Armutsrate in der Welt ändert, denn solange Frauen und alles, was mit Frauen assoziiert wird, eine Abwertung erfahren, werden Frauen und Kinder das Heer der Armen in der Welt weiter anwachsen lassen.8
Das bedeutet nicht, dass die auf dem Geschlecht basierenden wirtschaftlichen Ungleichheiten gravierender wären als die wirtschaftlichen Ungleichheiten, die auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder Ethnie oder anderen Faktoren beruhen. Doch wie oben bereits erwähnt, ist das Bild des überlegenen Mannes gegenüber der unterlegenen Frau ein Grundmuster für die Einteilung der Menschheit in »Unter- und Übergeordnete«, das bereits Kinder in dominanzgeprägten Familien verinnerlichen. Und solange Menschen solche mentalen Kategorien in sich tragen, ist es unrealistisch, irgendwelche Änderungen bezüglich des Ingroup-versus-Outgroup-Denkens zu erwarten, das so viel Ungerechtigkeit und Leid verursacht.
Ebenso wenig können wir ernsthaft auf eine allgemein mehr auf Fürsorge basierende Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik hoffen, solange die überlebensnotwendige, von Männern und Frauen geleistete Fürsorge und Care-Arbeit weiterhin als »bloße Frauenarbeit« abgewertet wird. Solange Fürsorge gesellschaftlich nicht mehr Anerkennung findet, wird sie auch in der Wirtschaftspolitik und -praxis nicht als wertvoll betrachtet werden.
Hier möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich – wenn ich von Fürsorge und Care-Arbeit als »Frauenarbeit« spreche – lediglich herkömmliche Überzeugungen wiedergebe, die wir aus Zeiten übernommen haben, in denen die Geschlechterrollen sehr viel rigider festgelegt waren. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der nicht nur Frauen Fürsorge leisten, sondern eine Gesellschaft, in der Frauen gleiche Berufs- und Erwerbschancen haben wie Männer und sich Frauen und Männer die Care-Arbeit teilen. Anders ausgedrückt: Ziel ist ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem Frauen nicht länger aus Bereichen ausgeschlossen sind, die traditionell Männern vorbehalten waren, und in dem Fürsorge und Care-Arbeit nicht länger als reine Frauensache oder als etwas für »verweiblichte« Männer betrachtet wird.
Außerdem möchte ich noch einmal betonen, dass die Sichtbarmachung und Anerkennung von Fürsorge allein unsere globalen Probleme nicht lösen wird. Wie wir sehen werden, ist der Wandel von einem Dominanz- zu einem Partnerschaftssystem sehr viel komplexer. Es ist allerdings von entscheidender Bedeutung, dass wir aufhören, die Geschlechter mit zweierlei Maß zu messen, denn nur dann kann ein solcher Wandel stattfinden.
Kurz gesagt: Wenn ich hier über die Abwertung der Frauen und des »Weiblichen« berichte, sollen dadurch nicht die Männer für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Missstände in unserer Welt verantwortlich gemacht werden. Wir sehen uns hier Traditionen gegenüber, die nicht nur Frauen, sondern auch Männer schädigen – natürlich leiden besonders die Frauen darunter, aber letztendlich sind wir alle davon betroffen.