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Nachtschalter

Ich kippte noch einen Apfelkorn, bis ich die Autotür klappen hörte, dann spurtete ich los, um einen Blick durch die Ritze in dem kaputten Holzrollladen zu werfen. Rindfleisch stieg gerade auf der Fahrerseite in einen kanariengelben Ford Capri mit schwarzem Kunststoffdach. Britta saß zusammengekauert auf dem Rücksitz, und Elvis auf dem Beifahrersitz. Sie schienen es nicht eilig zu haben.

Ich spurtete zurück zum Telefon. Normalerweise traf man sich nach eins erst mal in der türkischen Pizzeria, hundertfünfzig Meter die Straße hoch.

»Den Zak, schnell!« Aber ich hatte ihn schon selbst am Apparat. Er steht meistens an dem Tisch neben dem Telefon und wartet auf ’ne Fuhre. Ich hatte eine für ihn. »Da kommt jeden Moment ein gelber Primaner-Mustang mit schwarzem Dach an dir vorbei. K-UK 425. Häng dich dran und sag mir, wo sie die Blaue Britta abladen. Pass auf, das sind Schläger. Ich warte im Nachtschalter auf dich.«

Ohne einen Ton hängte er ein. Ich konnte mich darauf verlassen, dass mein alter Schulfreund mit dem unaussprechlichen polnischen Namen Zakrzsewski jetzt in sein Taxi jumpen und dem Capri auf den Fersen bleiben würde bis zum Affenfelsen von Gibraltar. Ich würde rausfinden, was das ganze Theater hier sollte.

Ich bin einer, der gerne seine Ruhe hat, und mische mich deswegen auch nie in anderer Leute Angelegenheiten. Aber ich lasse mich nicht von jedem in meinem eigenen Laden mit Hockern beschmeißen. Und ich muss es mir auch nicht bieten lassen, dass man mir die einzige Frau im Laden vor der Nase wegzerrt. Zumindest war ich es mir und Wolli schuldig, Elvis die Kohle für die fünfundvierzig Graninis abzuknöpfen, die er mir zerdeppert hatte.

***

Nachdem ich die Sauerei beseitigt und den Laden zugemacht hatte, ging ich zu Fuß die drei Ecken bis zum Nachtschalter. Was mir unterwegs nicht aus dem Kopf ging, war das Verhalten der Blauen Britta während der ganzen Geschichte. Sie war ganz schön blass geworden, als Pat und Patachon reingekommen waren, hatte aber eigentlich kein bisschen überrascht gewirkt. Es war eher die Reaktion von jemandem, der schon länger mit Unheil rechnet und sich dann auch nicht mehr wundert, wenn es eintritt. Sie schien sofort gewusst zu haben, dass die beiden ihretwegen da waren. Und beim Rausgehen hatte sie auf mich gewirkt wie die Mörder in den Edgar-Wallace-Filmen, wenn sie nach dem brillanten Resümee von Blacky Fuchsberger zwischen zwei Bobbies abgeführt werden: Man weiß, dass alles gelaufen ist, die Frage ist nur noch: Strick oder Dartmoor? Und im Hintergrund darf Blacky schon Karin Dor küssen. Oder war es Baal?

Egal – ich hatte gerade keine Karin zum Küssen, sondern zerbrach mir den halb vollen Schädel darüber, was denn die Blaue Britta verbrochen haben mochte. Hatte sie was verbrochen? Was wusste ich überhaupt über sie, außer dass sie gut singen, saufen und blasen konnte?

Sie war dreiundzwanzig, irgendwo im Sauerland aufgewachsen und mit siebzehn nach Köln gekommen, weil sie als Sängerin schon alle Bands in ihrer Gegend durch hatte und einfach zu gut für sie alle war. Ein Naturtalent. Ein Talent, das auch noch ehrgeizig und fleißig war – in Köln fing sie an, Gesangs-, Klavier- und Tanzstunden zu nehmen; sie wollte hoch hinaus. In der Bandhierarchie der Stadt diente sie sich dann auch ziemlich schnell hoch – innerhalb von fünf Jahren hatte sie ihre eigene Band, für die sie auch ihr eigenes Material schrieb. Sie hatte jede Menge Studiojobs, Auftritte, Angebote von Plattenfirmen und einen Heiratsantrag von Werner Faus. Im letzten Jahr hatte sie dann bei einer Winz-Firma unterschrieben und eine wunderschöne LP herausgebracht, Blue B. And The Purple Veil. Eine Woche nach der erfolgreichen Präsentation im Weißhaus meldete der Besitzer der Firma Konkurs an und verschwand irgendwo auf den Seychellen. Es stellte sich heraus, dass er seine Kohle hauptsächlich mit dem Verschieben von geklauten Mercedessen gemacht, aber noch nicht eine der Rechnungen für die Produktionskosten der Platte bezahlt hatte.

Ein halbes Jahr hatten wir uns dann nicht gesehen. Britta tourte wie eine Geisteskranke Deutschland rauf und runter, um die Schulden abzuzahlen, und Penner’s Radio war auch ziemlich viel unterwegs – wir spielten ja sowieso überall, wo ’ne Steckdose war.

Doch – einmal trafen wir uns auf der Raststätte am Hockenheimring. Blue B. waren auf dem Weg von Osnabrück nach Würzburg und wir von Freiburg nach Bremen oder so ähnlich. Als wir vom Tanken kamen und uns in die Cafeteria schoben, kam sie gerade vom Kaffeetrinken raus.

»Du siehst müde aus«, sagte ich und hauchte ihr einen Kuss auf die weiche Stelle zwischen Kragen und Ohrläppchen.

»Guck dich mal an«, erwiderte sie mit einem schiefen Grinsen und einem sanften (sehnsüchtigen?) Leuchten ganz hinten in ihren blauen Augen und küsste die Ringe unter meinen. »Wie lange noch?«

»Noch acht Paar Stöcke. Und ihr?«

»Wenn du mich jetzt schwängern würdest, müsste ich die letzten beiden Gigs wohl absagen.«

»Wenn wir jetzt damit anfingen, würden wahrscheinlich heute Abend schon zwei ausfallen«, erwiderte ich bedauernd. »Schade, schade.«

»Ja«, sagte sie, »schön, dich gesehen zu haben.«

***

Verdrießlich starrte ich auf die Flasche Apfelkorn, die mir Werner vom Nachtschalter automatisch vor die Nase gestellt hatte. Wenn ich mich jetzt mit der anfreundete, war ich womöglich später zu blau, um Prinz Eisenherz zu spielen – wahrscheinlich würde ich nicht mal auf ein Pferd kommen. Also bestellte ich mir’n paar Wasser und warf ein Zweimarkstück in den Flipper. Die beiden Studenten davor wollten erst protestieren, aber ich drückte ihnen den Apfelkorn in die Hand, setzte sie auf die Fensterbank und empfahl ihnen, erst mal ein Trinkpäuschen einzulegen.

Es kam mir vor, als hätte ich Hunderte von Freispielen geholt und gespielt, aber frag mich keiner nach irgendwelchen Spielergebnissen. Flippern ist das Spiel zum Meditieren. Besser als Patiencen, Schach oder auf ’nem Nagelbrett liegen. Irgendwo zwischen dem bunten Geflacker und Geblitze siehst du verschwommen Die Magische Silberne Kugel herumflitzen und knallst die Mittelfinger auf die Knöpfe, um das Ding oben zu halten. Wie einer von den Glorreichen Sieben mit einem Schuss nach dem andern den Dollar in der flirrenden Luft von Texas tanzen lässt, ziehst du wieder und wieder ab, bis deine Trommel leer geschossen ist, und ganz entfernt hörst du das Klacken der Freispiele wie das beifällige Raunen der dummen Siedler vor dem Saloon. Fast so gut wie Schlagzeug spielen. Oder Vögeln.

»Probleme, Büb?« Werner stellte die unvermeidliche Flasche Apfelkorn und zwei Gläser auf die Glasplatte des Flippers und schenkte ein. Ich sah ihn an, als wäre ich gerade aus einem dieser klebrigen Mittagsschläfchen voller Ken-Russell-Träume erwacht. Sah ihn an, dann die Flasche, sah mich im Laden um. Alle Stühle standen schon auf den Tischen, und wir waren nur noch zu fünft – Werner, zwei seiner Thekenmädels und ich. Und Chet Baker, der gerade Heroin in Blues verwandelte.

»Wie spät isses denn?«

»Halb sieben«, unterdrückte Werner ein Gähnen. »Wa’s los?«

»Gehen die beiden mit?«, fragte ich ihn mit einem Kopfnicken zur Theke hin.

Er zuckte die knochigen Schultern: »Haste Lust?«

»Trinken wir erstmal einen.«

»Sowieso. Prost, Büb.« Wir tranken drei, vier Gläschen, und ich erzählte ihm, was am Abend im Schrebergarten gelaufen war.

»Nijinsky«, sagte Werner und schenkte nach, »und Brikett-Fuss. Haste schwer Schwein gehabt.«

»Hä?«

»Nijinsky, weil er so gut springen und die Füße hochkriegen kann, auch wenn man’s bei seiner Figur kaum glaubt, und Brikett-Fuss, weil der sich seit Jahren Briketts auf die rote Tolle knallt, um seine Stirn abzuhärten. Geh nie näher als auf einen Meter an den ran. Der hat schon mehr Nasenbeine auf dem Gewissen als Joe Frazier und die Müllers Aap zusammen. Und weißte, wo du jetzt mal anrufen solltest, wenn der Zak seit mehr als fünf Stunden an denen dranhängt?«

Na klar! Ich griff mir das Telefon. Es war die dritte Notaufnahme, die des Marien-Hospitals in Ehrenfeld. Ich bestellte mir ein Taxi, trank noch einen und umarmte die beiden an der Theke.

»Bestimmt ein andermal«, sagte ich. Sie nickten beide lächelnd und hielten Händchen.

»Ruf an«, sagte Werner, »wir warten.«

***

Den Werner kannte ich seit ungefähr drei Jahren, seit ich entdeckt hatte, dass man sich bei und mit ihm ganz wunderbar die Nacht um die Ohren schlagen konnte. Auch er mischte einen vorzüglichen Apfelkorn – kein Wunder, er trank kaum was anderes. Er war eins von diesen Handtüchern, wo man sich immer fragt: Wo tun die eigentlich all das hin, was sie saufen? Er war immer braungebrannt, weil er zwei-, dreimal im Jahr in Urlaub fuhr, und hatte tief eingegrabene Kerben um die Mundwinkel; vom Schnaps, vom Nachtleben, von zwölf Jahren Ehe, von den Problemen, die vier eheliche und mindestens neun uneheliche Kinder so mit sich bringen, von dem Zynismus, in den man sich dann gerne flüchtet. Und er hatte eine Macke: Ficken.

Wer den Spruch von der Nase des Mannes und seinem Johannes in die Welt gesetzt hat, war wahrscheinlich vorher mit Werner in der Sauna gewesen, denn der hatte einen wirklich riesigen, dicken Adlerzinken. Im Nachtschalter arbeiteten immer nur Blondinen, die alle paar Wochen bis Monate wechselten. Von fünfzehn bis fünfundzwanzig, von Einsfünfzig bis Zweimeter, von vierzig bis hundertvierzig Kilo, vom Typ Wenn-ich-ein-Junge-wär bis zum Typ Rauschgoldengel – Hauptsache, jung und blond. Und es arbeiteten immer so viele davon, dass es nicht geschäftsschädigend war, wenn eine mal ’ne Weile nicht da war. Alle zwei, drei Stunden kriegte Werner nämlich seinen Rappel, dann verschwand er mit einer von ihnen in der Wohnung ein Stockwerk drüber. Und dann wurde auf seinem Dreimal-drei-Meter-Bett erstmal ein Stündchen gerammelt – ein Nähmaschinchen war nix dagegen. Wir waren ein paar Mal zu viert dort oben versackt, deswegen kannte ich das aus eigener Anschauung – die Mädels stöhnten und schrieen, und er machte ihnen ächzend den Rammler. Wenn ich heute ’ne Frau »Ich kann nich’ mehr!« sagen höre, assoziiere ich immer sofort dieses Schlafzimmer.

Ich hatte mal eine gefragt, wieso sie das eigentlich mitmache.

»Ich steh auf den Werner«, war die verständnislose Antwort. Ich fragte nicht weiter nach. Ich hatte damals zwar schon ’ne Menge feministische Bücher gelesen, aber junge Frauen missionieren war deswegen noch lange nicht mein Bier. Außerdem war »Muss ja jeder selber wissen« schon lange einer meiner Leitsätze. Und ich hatte ja nix gegen Werner. Ein paar Wochen, nachdem wir uns kennen lernten, hatte ich ihm verklickert, dass Sterilisation nicht im Geringsten was zu tun hat mit Impotenz oder gar Kastration. Er hatte sich daraufhin erfolgreich einem Eingriff unterzogen und konnte jetzt nach Lust und Laune in der Gegend herumvögeln. Seitdem war ich sein Freund. Von AIDS hatte man damals noch nichts gehört.

Nie wieder Apfelkorn

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