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Zak

Gegen halb acht traf ich im Marien-Hospital ein. In der Notaufnahme war nicht mehr viel zu tun. Oder noch nicht. Nur ein Typ in Motorradklamotten auf einer Bahre im Gang störte die Ruhe ein wenig. Er schrie wie am Spieß. Er hatte sich offensichtlich ohne Helm auf die Fresse gelegt und sah nicht sehr schön aus. Als er den blutdurchtränkten Klumpen Mull mal kurz von seinem Kopf wegnahm, sah ich, dass er sich das halbe Gesicht und das halbe linke Ohr weggescheuert hatte.

Ich fragte mich zu Zak durch und musste erstmal tief durchatmen, als ich ihn fand. Von seinem Gesicht sah man nur die geschlossenen Augen, eins davon blutunterlaufen, seine Nasenspitze und einen schmalen Schlitz, wo sein Mund sein sollte. Er schlief und stöhnte leise im Schlaf. Ich suchte den Arzt, der ihn behandelt hatte, gab mich als Zaks Bruder aus und tat aufgeregt. Der Arzt war ein junger Schnösel mit teurer Brille und noch teurerer Armbanduhr. Ich war sicher, dass sein Alter auch Mediziner war – die Uhr konnte er sich so kurz nach seinem Studium sonst sicher nicht leisten. Er war entsprechend blasiert und kurz angebunden.

»Unterkieferfraktur«, verkündete er von oben herab und als sei das nichts Besonderes, »mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Gehen Sie zur Polizei!«

»Aber da war ich doch schon; die wollen mir auch nix sagen!«, greinte ich, »was soll ich denn jetzt machen?«

Er guckte mich zwar skeptisch an – sein Chef hätte mir das bestimmt nicht abgekauft – aber er war wohl schon seit gestern Abend im Dienst, und der Motorradfahrer wartete draußen hörbar auf ihn.

»Schau’n Sie«, ließ er sich in seinem Villa-in-Hoffnungsthal-Tonfall herab, zu mir langhaarigem Proleten zu dozieren, »viel weiß ich auch nicht. Der Patient ist wohl Taxifahrer und hat sich letzte Nacht bei seiner Zentrale nicht abgemeldet. Daraufhin haben seine Kollegen nach ihm Ausschau gehalten und ihn bewusstlos in seinem Taxi auf der Oskar-Jäger-Straße gefunden, wo er einen parkenden Lastwagen gerammt hatte. Wie er sich dabei aber so den Kiefer gebrochen hat, ist mir allerdings auch in Rätsel.«

»Was meinen Sie mit ’so den Kiefer geb–’«, wollte ich nachhaken.

»Das kann ich Ihnen jetzt auch nicht detailliert erklären«, unterbrach er mich ungeduldig, »aber wenn er mit dem Kinn aufs Lenkrad geschlagen wäre, müsste der Bruch ganz anders aussehen. Mir scheint eher, dass es ihm den Unterkiefer von der Seite weggeschlagen hat. Aber Genaueres wissen wir erst morgen, wenn die Röntgenaufnahmen ausgewertet sind. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Drehte sich auf einem Gummiabsatz rum und quietschte Richtung Straßenfeger.

Ich überlegte einen Augenblick lang, ob ich zurück zu Werner und den beiden Mädels fahren sollte. Nein – morgen würde es einiges zu tun geben, und es wäre bestimmt nicht schlecht, dafür halbwegs ausgeschlafen zu sein. Ich rief an, berichtete und wünschte ihnen viel Spaß. Im Hintergrund sang Jack Bruce I’m So Glad.

Ich fuhr zu Vera. Sie war schon weg, und ihre Tochter war im Kindergarten. Ich ließ das Rollo in meinem Zimmer runter, um die Morgensonne auszusperren, und legte mich ins Bett. Draußen rauschte der Alltag durch die Stadt, mit Gehupe, Geknatter, Geschnatter und Gebell. Es war ein schöner, milder September, und als letztes Bild vorm Einschlafen sah ich Nijinsky, der vor Zaks Taxi stand und sagte: »Verpiss disch, sonz tredde isch dir dä Kopp weg!«

***

Nachmittags weckte mich der Duft von frisch aufgebrühtem Vanille-Tee. Er kam aus einem großen blauen Becher mit gelben Punkten, den mir Anna, Veras fünfjährige Tochter, unter die Nase hielt.

»Komm, Schnarchsack, genug geschlafen«, kicherte sie.

»Wie spät isses denn?«

»Drei Uhr, glaub ich.«

»Und wieso bist du dann schon hier, du Kröte?«

»Ich bin keine Kröte, ich bin ein Seraphim. Und deswegen hab ich auch keine Lust mehr, im Kindergarten zu gehen.« Sie kletterte zu mir aufs Bett und fing an, meine Haare zu verknoten. Sie roch noch besser als der Tee. Wahrscheinlich hatte Vera mal wieder ein neuer Duftwasser. Bedeutete normalerweise, dass es da irgendwo ’ne neue Freundin gab.

»In den Kindergarten«, verbesserte ich automatisch. »Und ich bin kein Schnarchsack. Ich übe im Traum neue Lieder, das mag sich nur von draußen ein bisschen komisch anhören. Außerdem heißt es Seraph, ohne -im, wenn’s nur einer ist. Und wenn er sechs Flügel hat. Wo sind denn deine?« Ich begann, sie auf der Suche nach ihren Flügeln im Rücken zu kitzeln, was in eine Riesenbalgerei ausartete. Kinder sind schon eine herzerwärmende Sache. Wenn man sie nicht dauernd am Hals hat; von der Verantwortung ganz abgesehen. Ich war froh, dass ich nicht Vater war, auch wenn man mit einer jauchzenden, blondgelockten Fünfjährigen mit vor Eifer geröteten Wangen schon mal auf ganz andere, wehmütige Gedanken kommt. Trautes Heim. Wenn das meine Fans in Ingolstadt wüssten …!

Ich machte uns ein paar Brote mit frischem Holländer, mildem Senf und Apfelscheiben, und wir setzten uns auf den Balkon voller duftender Tomatenpflanzen, Küchenkräuter und Blumen und hörten Louis Armstrong. Anna liebte ihn – die Scheibe mit den Greatest Hits hatte ich ihr schon zum zweiten Mal gekauft, weil sie die erste durchgenudelt hatte. Wir aßen unsere Brote und tranken den Tee. Er war viel zu dünn und noch mehr zu süß, aber ich sagte nichts dazu. Sie war offensichtlich sehr stolz, dass sie ihn ganz alleine aufgebrüht hatte.

***

»DIE FAHRT KOSTET DICH ABER ’N PAAR BIER!«, stand auf dem Blatt Papier, das Zak mir auf einem Klemmbrett entgegenhielt.

»Mindestens«, sagte ich. Und dann las ich, was er auf die Seite darunter gekrakelt hatte. Er war dem gelben Capri die Aachener Straße raus bis nach Junkersdorf gefolgt, eine der feineren Wohngegenden Kölns, wo der in einer Garageneinfahrt geparkt wurde. Die beiden Figuren hatten Britta in einen Bungalow gebracht, dessen Haustür von einer zierlichen Asiatin mit langen Haaren geöffnet worden war. »Pechschwarze Haare bis zum Arsch«, hatte Zak geschrieben, »irgendwo hab ich die schon mal geseh’n – ich meine, im Forum.«

Leider war die Einfahrt direkt hinter einer Kurve gelegen, und den Jungs musste das Taxi doch noch aufgefallen sein. Als Zak nämlich nach ein paar Minuten ausgestiegen war, um sich den Bungalow etwas näher anzusehen, hatte sich einer der beiden schon in seinen Rücken geschlichen.

»Ich hör jemanden durch die Zähne pfeifen, dreh mich um, seh den dicken Nijinsky, wie er mich angrinst und hab auch schon seinen Turnschuh in der Fresse. Bin froh, dass der keine Fußballschuhe trägt. Dann weiß ich erstmal nix mehr, bis ich merke, dass ich auf dem Beifahrersitz meiner Karre liege. Der Nijinsky fährt und hält mich mit dem rechten Arm an die Lehne gedrückt. Dann gibt’s ’nen Knall, und ich bin wieder weg. Als ich wach werde, steh’n ’n Haufen Kollegen und die Bullen um mich rum«, las ich. »Der Nijinsky wird sich bald ’ne andere Stadt für seine Streiche suchen müssen. Bis dahin wär’s nett, wenn du mir ’nen Kassettenrekorder und wat Musik besorgen könntest. Und wat machs’ du jetzt?«

»Ich besorg dir jetzt erstmal deine Musik. Dann such ich Twiggy und guck mir das Häuschen in Junkersdorf mal an.« Zak hob den rechten Daumen und schloss müde die Augen. Ich sah ihn mir noch ’n paar Sekunden an. Ja, er hatte bestimmt recht: Nijinsky würde in Köln nicht mehr viel Spaß kriegen: ’nen kölschen Taxifahrer zusammentreten …!

Ich machte mich auf die Socken.

***

Die Stadt brachte sich zunehmend in Feierabendstimmung. Auf der Goldenen Meile, den Ringen zwischen Friesen- und Barbarossaplatz, flogen mir ein paar schwarzbraun gefleckte Blattreste um die Beine. Irgendwo musste es hier doch noch den einen oder anderen Baum geben. Der Verkehr schob sich zäh in beide Richtungen. Hinter den Fenstern der Straßenbahnen klebten graue Gesichter ohne erkennbaren Ausdruck. Vielleicht waren sie tatsächlich nur aufgeklebt, aber ich fand nicht, dass sie eine gute Werbung für den Kaufhof-Schriftzug waren, der darunter prangte.

Ein Kind in einem Buggy, eingeklemmt zwischen prallen Einkaufstüten, schrie sich neben dem Zebrastreifen an der Richard-Wagner die Kehle wund. Eine höchstens neunzehnjährige Schwangere mit toupiertem Wasserstoffblond schrie ihrerseits genervt auf das Kind ein. Ich hörte mindestens sieben Wenn-du-jetz-nit-bald-still-bis’!, ohne dass sie dem Kind einmal verraten hätte, was denn dann wäre. Der italienisch aussehende Typ daneben betrachtete beide angewidert und versuchte, dabei lässig und unbeteiligt auszusehen.

Tja, Giuseppe, solltest vielleicht mal überlegen, ob es was nützt, deine Jisela mal eine Stunde durch die Stadt zu schieben, den Kopp in Auspuffhöhe festgeklemmt! Ich glaubte aber nicht, dass das viel nützen würde. Wahrscheinlicher war, dass sie einfach nur zu jung und überfordert war. Dabei war der Giuseppe sooo nett gewesen, damals auf der Deutzer Kirmes, viel süßer als die Mülheimer Halbstarken, mit denen sie sich da sonst immer rumtrieb. Die versuchten ihr nur dauernd an ihre großen Brüste zu gehen, während der hübsche Italiener ihr auf der Bank unten am Rheinufer erzählt hatte: »Dein Auge sin schöne’ dann die von Sophia Loren!« Mittlerweile schien er die Augen auf einem Paar Würfel schöner zu finden. Oder die der italienischen Schlampe hinterm Tresen des Club San Marco, den er nur noch verließ, um sich bei ihr zu Hause frisch gebügelte Klamotten abzuholen. Oder sie zum zweiten Mal zu schwängern.

Nie wieder Apfelkorn

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