Читать книгу Paaf! - Rich Schwab - Страница 11

7 – Büb

Оглавление

München, Montag, 21. Juli 1986

»Aber wir dürfen natürlich auch die nackten Tatsachen nicht aus den Augen verlieren«, sagte Dörmann gerade, als wir in Pfundigs Hinterhofbüro ankamen, und war, als er mich erkannt hatte, nach einem nervösen Wimpernflattern bemüht, nicht mehr in meine Richtung zu sehen. Ich hatte nix dagegen. »Es ist euch doch klar, dass uns – wie immer die Chose bis Sonntagabend gelaufen ist, am Montag eine Abrechnung ins Haus steht.« Uns …?

»Hat der denn hier verloren?«, murmelte ich Pfundig ins Ohr, während ich ihn umarmte und ihm ein paar Männergruppenklapse auf den Rücken gab.

Dr. Dr. Dietmar Dörmann hatte mehr Gesichter als Graf Ferrarys berühmte Briefmarkensammlung, wenn auch eventuell nicht ganz so viel Kohle wie jener – allein die Versteigerung dieser Sammlung hatte dem französischen Staat in den Zwanziger Jahren sechs Millionen Goldmark eingebracht.

’Ne Weile her, dass wir miteinander zu tun hatten. Also Dörmann und ich, nicht Ferrary. Er war Brittas Bruder, und was er mit der in ihrer Jugend angestellt hatte, war alles andere als schön. Jedenfalls nicht für sie. Immerhin hatte er mir vor zehn Jahren geholfen, sie aus den Händen ein paar mieser Kidnapper zu befreien.

»Wirst’s net glau’m«, sagte Pfundig und verpasste mir seinerseits gleichzeitig einen Schmatz auf die Wange und einen Leberhaken. Na ja, er war in einer bayrischen Männergruppe gewesen. Mittlerweile war er hauptberuflich Präsident seines eigenen kleinen, aber feinen Musikimperiums – nachdem er in den Siebzigern mit dem Buchen von Auftritten für Sallinger, den ewigen bayrischen Lokalmatador, ein Händchenvoll Geld gemacht hatte, war es ihm gelungen, noch mehr Händchen zu beweisen, indem er eine Truppe von Rock-Komikern aus Österreich für den deutschen Markt entdeckt und so geschickt aufgebaut hatte, dass sie Stammgast in der ZDF-Hitparade waren und er sich seit fünf Jahren den Spaß leisten konnte, nebenher das Booking für Penner’s Radio zu machen; er hatte uns sogar aus unserem beschissenen Bierdeckelvertrag mit der Münchener Konkurrenz rausverhandelt, und dank seiner Rührigkeit, seiner Kontakte vom Feinsten und seiner Loyalität seinen Künstlern gegenüber schien unsere letzte Platte sogar ein bisschen was für uns abzuwerfen – im Land der Neuen Deutschen Welle beileibe keine Selbstverständlichkeit.

»Wieso?«, fragte ich.

»Glei’«, sagte Pfundig, stand auf und klopfte mit einem Kaffeelöffel an seine Tasse. »So, Leit’«, sprach er die ganze Runde an, »jetzt sind wir wohl alle vollzählig, erst mal zumindest. Wie ich eben erfahren hab’, wird der Rothenberger es heut’ wohl nimmer her schaffen. Und ’s Management vom Broth hat a Fax g’schickt, in dem alles drin steht, was sie wie geregelt haben woll’n. Schätze, da wer’ma später noch drauf kommen – des sind neun Seiten.« Geringschätziges Gelächter um den Tisch herum. »Für den Fall, dass ihr euch eh net alle scho’ kennt, werd’ ich mal kurz die Vorstellung übernehmen. Also …«

»Nette Runde«, sprach Veedelnoh aus, was ich gerade dachte, und verzog das Gesicht, als hätte er gerade ein warmes belgisches Kirschbier auf Ex getrunken.

»Wolltest ja unbedingt mit«, erwiderte ich.

»Mh, weil du ja immer gleich alles wieder vergisst, was bei solchen Konferenzen Wichtiges verhandelt wurde, Büb.«

»Pah.«

»Büb!«, ermahnte mich Pfundig. Womit ich dann auch schon, nein, nicht vergessen, aber verpasst hatte, wer die beiden Gestalten am anderen Ende des Tischs waren, die aussahen, als seien sie von einer altbayrischen Trachtengruppe ausgeschickt worden, um mal Bericht zu erstatten, wie es in der Kulturszene Preußens so zuging. Wie sich herausstellte, saßen sie beide im Stadtrat von Scherdorf, der zuständigen Kreisstadt für Pöckensdorf und alles, was dort genehmigungspflichtig war. Falls es dort irgendetwas gab, das nicht genehmigungspflichtig war.

Pfundigs Konferenztisch war ungefähr so groß wie die meisten Bühnen, auf denen wir spielten. Er stand im Innenhof eines Hinterhauses in Haidhausen, umgeben von Hydrokulturbäumchen und überspannt von einem grünlichen Glasdach. Wir alle sahen aus, als säßen wir in einem Riesenaquarium. Auf dem Tisch gab’s ein paar schwere Aschenbecher, Unmengen von niedlichen grünen Wasserfläschchen, ein paar verchromte Thermoskannen und Kaffeegeschirr, Schälchen mit Obst und Keksen, eine Karte vom Kreis Scherdorf und eine Menge Papierkram. Eine Menge Papierkram.

Kein Bier.

Noh und ich guckten uns an und nickten. Siehste, sagten unsere Blicke. Er klappte seinen Rucksack auf und holte ein paar Büchsen heraus. Der kluge Mann baut vor. Zisch.

»Büb«, sagte Pfundig noch einmal.

»Ja, ja, ich hab’s mitbekommen – Herr Janssen vom bayrischen Innenministerium. Prost, Herr Janssen.« Herr Janssen nickte gnädig. Die junge graue Maus neben ihm, die uns die ganze Zeit mit halb offenem Mund angestarrt hatte, sah daraufhin ihn an und begann dann hektisch, Notizen in einen Spiralblock zu kritzeln – exotisch, wenn nicht gar verdächtig aussehende Musiker trinken Bier; Janssen nickt …? Sicher würde sie spätestens morgen Mittag unsere Lebensläufe vor sich liegen haben.

»Möchten Sie auch eins, Frollein?«, fragte Veedelnoh, als sie zwischendurch zu ihm hoch schielte. Sie schüttelte so heftig den rot gewordenen Kopf, als hätte er ihr angeboten, gemeinsam Herrn Janssens trotz offensichtlichen Festbügelns leicht verrutschtes Toupet zu bepinkeln, und konzentrierte sich fortan auf ihren Block.

»Xaver ist für’s Catering zuständig«, sagte Pfundig gerade. Ich prostete auch Xaver zu; den kannten wir schon seit Jahren, von unzähligen Festivals. Er grinste mich breit an, breit wahrscheinlich in mehrerer Hinsicht, und grinste noch breiter Veedelnoh an, der ihm ein Bier rüber warf.

Alle sind käuflich im Showgeschäft.

Weiter ging’s im Uhrzeigersinn. Anwesend waren noch die Vertreter dreier großer Plattenfirmen, zweier mächtiger Musikverlage und des Bayrischen Rundfunks, ein Herr von der ARD und je eine Dame von WDR und ZDF, die Vertreter von drei Bands, die man wohl ohne weiteres auf der Top Act-Liste finden würde, der Konzertveranstalter Franjo Homburg und zwei Vertreterinnen der Bundes-Grünen. Ebenfalls aus Scherdorf kam ein Pärchen von der Scherdorfer Anti-Atomkraft-Gruppe – zwei Freaks, die schon seit fünf Jahren in Pöckensdorf ein Anti-Atom-Festival organisierten –, während drei weitere Freaks in Sachen Licht und Ton aus Hamburg, Frankfurt und Köln angereist waren. Wo Dörmann inzwischen wohnte, wusste ich nicht; vielleicht immer noch in seinem Wasserschloss bei Wiesbaden. Aber mehr interessierte mich eigentlich auch, wieso er hier war.

Die Intelligenz ist ja nur das Vorzimmer unserer wahren Persönlichkeit, hatte Manuel Réja schon 1907 in »Die Kunst der Verrückten« geschrieben, seinem Standardwerk der Psychopathologie. Ich wusste nicht, ob Señor Réja noch lebte, aber weiter als in Dörmanns Vorzimmer schien er es bei seinen Recherchen nicht geschafft zu haben – dahinter sah es eher aus wie in Opa Klütschs ehemaligem Werkzeugschuppen: voller Staub und Dreck und Schmiere und Taubenkacke und Spinnweben und toten Fliegen, Asseln und Mäusen, und es stank nach Verwesung, nach Farbresten, Terpentin, Öl, Benzin und alten Gummischläuchen und Fahrradreifen, nach abgestandenem Rauch, feuchtem Mörtel, Schimmel und Schwamm. Nach Schwarzem Mann und nicht nachvollziehbaren Strafmaßnahmen, nach Gemeinheiten, Schrecken, Schmerzen und Tränen.

Klar war Dörmann intelligent, in hohem Maße, aber wahrscheinlich hatte er es auch schon seit dem ersten Kindergartenwettbewerb »Wer malt das schönste Christkind?« auf den Tod nicht ausstehen können, bei irgendetwas Zweiter zu sein, egal was es war. Es ist ja die Sorte Mensch schon schlimm genug, die meint, ständig überall dabei sein und überall und zu jedem Thema mitreden zu müssen – aber wenn jemand dann auch noch an Logorrhoe leidet, der Laberkrankheit, und darüber hinaus von keinem Zweifel beschattet ist, er könne nicht von allen am besten Bescheid wissen, er sei es, der auf jeden Fall und immer recht habe … Ich konnte ihn jedenfalls nicht leiden; von den unappetitlichen Einzelheiten seiner familiären Vergangenheit mal ganz abgesehen.

Aber er war hier und heute so ganz in seinem Element. Irgendeine Arschgeige aus den oberen Stockwerken der Polit-Hierarchie hatte anscheinend auf den letzten Drücker die gloriose Idee gehabt, der Dörmann, der habe doch schon vor ein paar Jahren so hervorragende Arbeit als Organisator der Kasseler Rock gegen Rechts-Festivals geleistet. Und dann noch die zwei Doktortitel – also war er quasi der Mann für ein so heikles Unternehmen wie das Paaf!.

Und wir hatten ihn am Hals.

Einem bereits nach einer halben Stunde ziemlich dicken Hals, und das galt nicht mal nur für mich.

Die Leutchen von der Scherdorfer Festivalgruppe waren sauer, weil ihnen hier offensichtlich etwas aus der Hand genommen wurde, das sie schon fünf Jahre erfolgreich aus eigener Kraft gestemmt hatten.

Die Jungs aus ihrem Stadtrat sahen hier natürlich eine schöne Gelegenheit, ihnen auch künftig ein paar kräftige Knüppel zwischen die Beine werfen zu können. Außerdem war es deren Chance, der bayrischen Landesregierung Parteilinie und Vollzugsfähigkeit zu demonstrieren.

Deren Vertreter Janssen war vor allem bemüht, mit Zähnen und Klauen Landeskompetenzen zu verteidigen und eine ganze Handvoll Schwarzer Peter Richtung Bonn zu schieben. Er ließ sich freilich die Gelegenheit nicht entgehen, die buckelnden Scherdorfer noch eine Nummer kleiner zu stutzen, nach dem Motto »Hättet Ihr diesen Festival-Unsinn schon vor fünf Jahren unterbunden, hätten wir heute nicht solche Probleme …«

Was wiederum die Grünen auf die Palme brachte, denn schließlich sei die ganze WAA doch erst einmal, wenn schon nicht vor allem auf Landesmist, dann doch in jedem Fall auf dem des konservativen Lagers gewachsen, industriefreundlich, wie dieses doch seit jeher sei; und außerdem lebe man schließlich in einer Demokratie, aber wahrscheinlich sei ja gerade das die größte Befürchtung Janssens und seiner Konsorten und Vorgesetzten: Dass das Volk sich langsam und zunehmend seiner Macht bewusst werde, und dass die selbstherrlichen konservativen Parteien bei der nächsten Wahl die Quittung für ihre Ignoranz und Arroganz und so weiter, und so weiter …

Die Jungs von den Musikfirmen interessierte das überwiegend einen feuchten Dreck – wann tritt unser Star auf, wollten sie wissen, und mit wem können wir über eine bessere Position verhandeln? Sie hatten bereits verhackstückt, auf welchem Label die Platte rauskommen würde, und konnten uns sogar schon einen Text vorlesen, der hinten auf dem Cover der Platte – ein Doppelalbum sogar – stehen sollte:

Paaf! Das 5. Anti-WAA-Festival – das größte der deutschen Rockgeschichte. 100.000 Besucher, 1.300 freiwillige Helfer, 600 Journalisten aus 10 Ländern und zirka 600 Musiker, Techniker und andere Aktive hinter der Bühne … Alle arbeiteten ohne irgendeine Gage. Die Erlöse aus dem Verkauf dieses Albums werden dem Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage unmittelbar zufließen … Neben Zuteilungen für die Bürgerinitiativen, Prozesskosten und ein Ökohaus in der Oberpfalz werden 10% der Einnahmen für das 6. Paaf!-Festival zurückgestellt. Hoffen wir, dass dies nicht mehr stattfinden muss.

»Und wer kontrolliert das?«, fragte kritisch der Pastor und schaute sich unauffällig um, ob auch alle seinen Mut bewunderten. ‚Dä Pastur‘ wurde der Sänger von Ming Tant aus Köln in Köln genannt – der Kölner ist ziemlich gut im Erfinden von passenden Spitznamen. Dieser war einer von den sehr passenden, weshalb er dem Chef von Ming Tant gewöhnlich ein eher säuerliches Lächeln entlockte.

»Wir«, lächelte der Vertreter der Universum – seiner Plattenfirma – ebenfalls säuerlich, und ich sah schon vor mir, wie aus den zugesagten fünfzehnhundert Ming Tant-T-Shirts nächste Woche auf einmal hundertfünfzig wurden. »Aber ihr habt selbstverständlich jederzeit Einblick in die Abrechnungsunterlagen.«

Dass es über ein paar tausend oder -zigtausend unter der Hand in Frankreich gepresste Alben gar keine Unterlagen geben würde, ließ er unerwähnt. Aber warum soll man auch Musiker mit solchen buchhalterischen Kinkerlitzchen belasten. Weshalb sich der Pastor auch zufrieden zurücklehnte und unter seinem sorgfältig ondulierten Pony wahrscheinlich schon an seiner Berichterstattung im Bandbüro feilte (»Gut, dass ich da war, Jungs – denen hab’ ich ganz schön Feuer unterm Arsch gemacht mit meinen kritischen Fragen!«).

»Apropos Abrechnungsunterlagen«, meldete Xaver sich. »Sind meine Informationen richtig, dass der Reisekostenzuschuss für zwölf Lichtleute viermal so hoch ausfällt wie der für ein zweiundzwanzigköpfiges Cateringpersonal?«

»Wenn, dann zu Recht!«, bellte der Frankfurter Lichtmann. »Meine Leute malochen schließlich rund um die Uhr!«

»Ach ja?«, grinste Xaver. »Fällt unter Maloche auch, dass morgens um vier unser Küchenzelt um zwei Flaschen Osborne erleichtert wird?«

»Wenn, dann allenfalls, um der arbeitenden Bevölkerung die Verdauung deines so genannten Curry-HuhnPnomh Peng zu erleichtern«, kam der Hamburger PA-Verleiher seinem Lichtkollegen zu Hilfe.

»Meinst du das Gericht, von dem jeder Bühnenheini am Nürburgring mindestens vier Portionen haben wollte, weil’s so lecker war?«

»Na ja, lecker schon – aber du hättest vorher erklären können, warum das Peng heißt. Wir mussten uns für backstage nachts noch zwei Klohäuschen aus dem Publikumsbereich organisieren!« Allgemeines Gelächter.

»Okay«, lachte Xaver gutmütig mit. »Dann sei hiermit schon mal drauf hingewiesen, dass es in Pöckensdorf einen Gulasch Peng Paaf! gibt. Verzehr auf eigene Gefahr.« Noch mehr Gelächter. Bring die Rede auf Schwiegermütter, ehelichen Sex oder aufs Furzen, dann hast Du deine Lacher sicher; da unterscheidet sich der alternative deutsche Konferenztisch kein bisschen von irgendeinem Stammtisch.

Und zu alldem hatte natürlich Dörmann sein Scherflein beizutragen. Bei einer jeden, aber auch jeden Wortmeldung hatte er einen Kommentar parat, äußerte erst mal eine Menge Verständnis für jeden Beitrag und jede Bedenken, schmierte jedem Bedenkenträger erst ordentlich Honig ums Maul, um ihn oder sie weich zu klopfen für eine anschließend schleimig vorgetragene Bitte um Verständnis für die Interessen und Nöte der anderen. Und alle ließen sich von ihm besänftigen und in konstruktive Bahnen leiten, wurden kooperativer, machten bereitwillig Abstriche von ihren Forderungen, waren bemüht, tragfähige Kompromisse zu erreichen. Und immer wieder erntete Dörmann beifälliges Nicken, besonders vom alten Homburg und dem vor allem an einem möglichst reibungslosen Ablauf interessierten Janssen.

Widerwillig musste auch ich zugeben, dass er das wirklich sehr geschickt anstellte. Aber es käme sicher auch niemand auf die Idee, ich müsse, gezwungen, ihm bei der Arbeit zuzusehen, einen Proktologen ins Herz schließen, bloß weil er sein Handwerk besonders gut beherrscht.

Doch selbst Dörmann musste erst mal schlucken, als die Tagesordnung bei dem neunseitigen Fax von Helfried Broth ankam. Dem zufolge waren, sinngemäß, alle teilnehmenden Musiker höchstenfalls Vorprogramm dritter Klasse, selbstverständlich nach den Wünschen des Meisters sortiert, und das Paaf! müsste eigentlich Helfried-Broth-Gala heißen. Krönung war, dass er damit drohte, gar nicht erst aufzutreten, wenn das Plakat zum Festival, das auch für die Bewerbung des Films benutzt werden sollte, nicht noch geändert würde. Die Scherdorfer Freaks hatten dies, wie immer, von einem Comic-Zeichner aus ihren eigenen Reihen entwerfen lassen; in diesem Jahr marschierte auf gelbem Hintergrund unter einem knallrot explodierenden Paaf! eine Meute knollennasiger bunter Demonstranten auf den Betrachter zu, Transparente über den Köpfen, auf denen so was wie Atomkraft? Nein danke! stand und WAA? Nee! – und die Namen der zugkräftigsten Kapellen des Festivals. Und da war Broths größtes Problem – es gab, ziemlich zentral, zwei gleich große Transparente, und sein Name auf dem einen war deutlich kleiner geschrieben als der von Ming Tant auf dem anderen, derzeit seine heftigsten und verhasstesten Konkurrenten. Seit drei Monaten wechselten die beiden sich an der Spitze der Pop-Hitparaden ab, er mit seiner Single Aus Essen komm ich (zu Essen werd ich), die Kölner mit ihrem durchaus dazu passenden ersten Versuch in Hochdeutsch, Marlene hat gekocht. Und nun fiel der Kohlenpott-Primadonna so was ein, ein paar Tage vor dem Festival …

»Na, dann kommt er eben nich’«, sagte ich trocken. Etliche Köpfe ruckten zu mir herum, und es trafen mich ein paar Blicke zwischen Steinigt ihn! Er hat gelästert! und Wer ist denn dieser Penner? »Na ja«, sagte ich, »wer wird ihn schon vermissen? Auf der Bühne kaum jemand, hinter der Bühne kein Schwein, und vor der Bühne werden die Bravo-Leser auch nicht so zahlreich vertreten sein. Mal davon abgesehen, dass wir hier über ein paar hundert Plakate reden, die seit sechs Wochen gedruckt sind und seit vier Wochen in ein paar Jugendzentren des Landes und an ein paar handverlesenen Bauzäunen hängen. Wenn überhaupt – wahrscheinlich hängen sie eher wieder in jedem dritten Wohngemeinschafts-Klo.«

»Vielleicht vergessen Sie die ganzseitigen Anzeigen in diversen Musikzeitschriften und Wochenmagazinen, die wir geschaltet haben?«, sagte der Heini von Broths Plattenfirma. »Und das Kinoplakat?«

»Die Radio-Spots«, ergänzte Broths Verleger. »Die hat uns auch niemand geschenkt.« Veedelnoh sprang mir bei:

»Na, bei euren derzeitigen Umsätzen werdet Ihr wohl dringend ein paar Werbekosten geltend –»

»Junger Mann«, unterbrach Homburg ihn müde, »was wissen Sie schon vom G’schäft?«

»Aber hier geht’s doch nicht um eure Geschäfte!«, protestierte das Scherdorfer Anti-Atom-Mädel. »Hier geht’s um …, um …, also …«

»Genau«, sagte ich. »Und davon abgesehen – wenn ich Grafiker wäre, müsste ich bei zwei gleich großen Kästchen Helfried Broth & Die Aufsteiger auch kleiner schreiben als Ming Tant …«

Aber der Kollege Helfried hatte in den letzten drei Jahren an die anderthalb Millionen Platten verkauft. Dass er das eventuell weniger seiner Musik als seiner tragenden Rolle in der überaus erfolgreichen Fernsehserie Leinen los! zu verdanken hatte, interessierte hier niemanden. Umsatz ist Umsatz. Und wenn Broth nicht auftrat, würde er nicht auf dem Album vertreten sein. Und wenn er nicht auf dem Album vertreten war, würde davon womöglich ein Drittel der geplanten Hunderttausender-Startauflage in den Regalen liegen bleiben. Also hätte ich hier in meinen schäbigen Klamotten auf dem Tisch herumstehen, ein volles Aquarium auf dem Kopf balancieren, mit drei Händen voll Götterspeise jonglieren und gleichzeitig die Goldberg-Variationen furzen können – ich spielte hier keine Rolle; ich war bloß einer dieser Musiker

Also musste Dörmann all seine diplomatischen Fähigkeiten aufbringen, um eine Kompromisslösung zu finden. Einer der Vorschläge dazu lautete, Broth und seine Kapelle sollten, um seiner besonderen Stellung in der deutschen Musiklandschaft willen, erstens an beiden Abenden als Top Act auftreten, und zweitens solle man doch darüber nachdenken, bei der geplanten großen All-Star-Session zum Abschluss statt des unausweichlichen Knocking On Heaven’s Door vielleicht ein paar von Broths Hits zu spielen. Tonlos vor sich hin pfeifend holte Veedelnoh einen Würfel aus der Tasche, ließ ihn über die Tischplatte klackern und knallte die Hand darauf, bevor man sehen konnte, welche Zahl oben lag.

»Verlierer geht«, sagte er zu mir.

»Unpaar«, sagte ich. Noh hob die Hand. Eine Vier. »Vielleicht auch besser so«, brummte ich. »Bevor ich ihnen anbiete, Zu Essen werd ich als Schlagzeugsolo aufzuführen, mit ein paar Pizza Funghi als Becken und Helfrieds Arsch als Bassdrum.«

»Und Kippen«, sagte Noh und gab mir einen Zehner.

Also ging der Verlierer.

In die Kneipe um die Ecke von Pfundigs Büro. Bier holen.

Und Kippen.

Auf dem Weg dorthin kam ich an einem heruntergekommenen Altbau vorbei, der aussah, als sei er von Hausbesetzern bewohnt. Unter einem offenen Fenster im ersten Stock hing ein Bettlaken mit der obligaten Anti-AKW-Sonne; aus dem Fenster schallte Musik. Jemand grölte mich an, ich solle kaputt machen, was mich kaputt macht. Ich überlegte, womit oder mit wem ich da wohl am besten anfinge, und assoziierte einen endlosen Reigen von Arschgeigen, die sich gegenseitig kaputt machten, weil sie einander kaputt machten, weil sie einander kaputt machten, weil sie einander kaputt machten. Ich fragte mich, ob ich da heil wieder rauskommen würde. Oder überhaupt irgendjemand …

»Aber wo wir eben beim Thema Sanitäranlagen waren«, nahm gerade einer der Scherdorfer Stadt-, Land-, Flussräte einen anderen Faden wieder auf, als ich drei schnelle Helle später wieder zurück kam, ein paar Flaschen Löwenbräu unterm Arm. Und Kippen. »Da sind wir doch wohl angesichts der neuesten Zahlen, was die erwartete Menge der Zuschauer angeht, anscheinend längst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Wir in Scherdorf haben da ein interessantes Angebot von einem örtlichen Unternehmer vorliegen …«

»Ach, der Heugen«, brummte Homburg.

»Ah, Sie kennen den?« Homburg schwieg und beschäftigte sich angelegentlich mit seiner schweren Armbanduhr, als hätte er schon zu viel gesagt, sein Lächeln ungefähr so dünn wie der Kaffee in einem Mitropa-Speisewagen

»Na, wer kennt den net?«, sprang Pfundig ein. »I könnt’ dreimal im Jahr nach Mallorca flieg’n, wenn i den öfters b’schäftigen würd’.«

»Aber der hat die Kapazitäten, die mir brauch’n«, beeilte sich der zweite Ratsherr zu versichern und versuchte, nicht allzu ertappt auszusehen. Aber sicher war Meerluft gut für seine Augen. Er trug eine Brille, so dick wie der Boden von Apfelkorngläsern. Ich musste es ja wissen, so oft, wie ich da schon durchgeguckt hatte.

»Mag sein«, sagte Pfundig und wies auf die Bühnenleute. »Aber denen dürfen’s von dem seine Preisvorstellungen scho’ fei’ goar nix erzähl’n.« Hochgezogene Augenbrauen bei Licht, Ton und Catering.

»Aach«, winkte Stadtrat Nummer eins ab. »Mit dem kann man verhandeln!«

»Mit dem Heugen verhandeln?!« Pfundig lachte. »Na, viel Vergnügen!«

»Scho’«, sekundierte Stadtrat Nummer zwei. »Mir müssten eam halt bloß an kleinen G’fallen tun …«

Paaf!

Подняться наверх