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3 – Heinz

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Stuttgart, Samstag, 19. Juli 1986

»Herein, wenn’s kein Schneider ist!«, schrie Heinz Gehrmann und kicherte in sich hinein, weil er wusste, wer geklopft beziehungsweise leise wie immer viermal kurz, zweimal lang an die Tür gepocht hatte. Aber Willy Schneidereit hatte sie schon aufgedrückt, langsam, fast schüchtern, wie es seine Art war, gerade so weit wie nötig, und schob sich durch den Spalt ins Zimmer. Dann wurde die Tür grob sperrangelweit aufgestoßen und der dicke Klemens stampfte hinterher. Dick und Doof, dachte Heinz, und sein Kichern artete in unkontrollierbares Gegacker aus.

»Schön, dass Sie ihren Spaß haben, Herr Gehrmann«, versuchte Schneidereit die Musik zu übertönen. »Ah – Charlie Parker, oder? Ornithology?«

»Nicht schlecht!«, giggelte Heinz. »Aber nur fast – es ist Night in Tunisia.« Er saß im Schneidersitz auf seinem ungemachten Bett, den aufgeklappten grauen Saxophonkoffer links neben sich, und polierte das halb auseinander gebaute Instrument in seinem Schoß. Rechts von ihm qualmte ein Joint im Deckel eines Marmeladenglases. Heinz trug eine grüne Turnhose und ein schwarzes T-Shirt, auf dem Frank Zappa mit heruntergelassenen Hosen auf einem Klosett saß. Das Zimmer um das Bett herum sah aus, als hätte sein Bewohner ein paar Flohmarktstände ausgeraubt und die Säcke mit der Beute zur Begutachtung einfach ausgekippt – Kleidungsstücke aller Art, Stoffpuppen, Tonbänder, Platten und Plattencover, ein halbes Fahrrad, Kerzenständer aus Messing und Holz, ein gelbes Umleitungsschild, zwei verschrammte Lederkoffer, aus denen weitere Klamotten quollen, randvolle Aschenbecher, Geschirr mit längst versteinerten oder womöglich schon wieder lebenden Essensresten, eine Wasserpfeife, Zeitschriften, Taschenbücher und Berge von Notenblättern in wildem Durcheinander.

Der dicke Klemens stiefelte durch das Chaos wie durch Herbstlaub, quer durch das Zimmer, zu dem Plattenspieler, der auf einer dreibeinigen weißen Kommode voller Brandlöcher stand, das fehlende vierte Bein war durch ein paar Karl-May-Bände ersetzt. Er packte mit einer lässigen Bewegung den Tonarm, ließ die Nadel mit einem hässlichen Kreischen über die Rillen schrammen, brach ihn einfach ab und warf ihn in eine Zimmerecke. Heinzens Gekicher verstummte, sein Kinn klappte herab, aus einem Mundwinkel hing ein Speichelfaden. Für ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill im Raum.

»He!«, schrie er dann. »Seid ihr bekloppt?!« Schneidereit machte eine entschuldigende Geste. Klemens nahm Charlie Parker vom Plattenteller, und schleuderte die Platte wie eine Frisbeescheibe quer durch das Zimmer. Heinz war zu bedröhnt, um schnell genug zu reagieren, die Platte traf ihn an der Stirn und verursachte einen Schnitt, aus dem sofort das Blut hervortrat und ihm die Wange entlang rann. Er wischte sich mit einer Hand darüber, betrachtete ungläubig das Blut daran, schüttelte den Kopf, während sich mit einem Schluchzer sein Mund schloss.

»Mann, ey …«, flüsterte er. Dann trat Angst in seine Augen.

Schneidereit fegte eine fleckige Jeans vom Bett und setzte sich auf das Fußende, wiederholte die entschuldigende Geste.

»Ich glaube, Klemens hat schlecht geschlafen«, sagte er mit seinem üblichen scheuen Lächeln. »Und dann noch diese Ungeduld …«

»Was wollt ihr denn?«, greinte Heinz. »Ich hab’ doch …« Klemens grunzte, zog eine Coltrane-Platte aus ihrem Cover, wog sie abschätzend in der Hand und fixierte den Schnitt auf Heinzens Stirn, stand da und beherrschte bedrohlich den Raum wie ein eben ausgebrochener Gorilla.

»Sie haben arg wenig, Herr Gehrmann«, sagte Schneidereit. »Wir haben arg wenig. Weil Sie anscheinend einiges nicht begriffen haben und bedauerlich wenig kooperativ sind. Das war so nicht abgemacht.«

»Aber …«

»Ich finde es daher nicht verwunderlich, dass Klemens schlechte Laune hat. Und ungeduldig wird.« Zehn Zentimeter über Heinzens Kopf zerschellte Coltrane an einem Schwarz-weiß-Poster, auf dem Heinz in verrauchter Atmosphäre sein Saxophon blies. The German Heinz stand in Orange darüber, Finest Jazz in Rock darunter. Am unteren Rand war ein weißer Streifen freigelassen worden, auf den mit verschmiertem roten Filzstift live im Schloßkeller gekrakelt war, Ostermontag 21.00 Uhr, Eintritt frei. Keine Jahreszahl, aber Heinzens Haare waren auf dem Foto viel dichter und länger als auf seinem blutenden Kopf darunter, und sein Gesicht um einiges runder.

»Schönes Poster. Aber Eintritt frei gibt’s bei uns nicht, mein Junge«, sagte Schneidereit, in einem Ton, als würde er das bedauern. »Wenn wir dich weiter so gut versorgen sollen, musst du uns versorgen. Und das nicht mit monatelangen Ankündigungen und leeren Versprechungen.«

»Aber ich hab’ doch …«, stammelte Heinz und umklammerte das Saxophon in seinem Arm wie einen tröstenden Teddy.

»Ja, du hast. Dass irgendwas im Busch ist. Irgendwas kann ich dir heute auch geben – aber ich möchte bezweifeln, dass du dir das in deine kaputten Venen spritzen möchtest.« Mit überraschend hartem Griff packte er Heinzens linken Fuß und verdrehte ihn. Unter dem Innenknöchel war alles verschorft und zerstochen. Als Schneidereit seinen Daumen auf die geschwollene Stelle drückte, schrie Heinz auf; Tränen schossen ihm in die Augen.

»Nicht! Bitte nicht!«, heulte er.

»Wollen die ihn auftreten lassen?«, fragte Schneidereit, seine Stimme so sanft, dass Heinz sie mit dem quälenden Daumen nicht in Verbindung bringen konnte. »Will er auftreten? Wird er? Und wenn ja, wann?« Heinz wand sich vor Schmerzen und verschluckte den Rotz, der aus seiner Nase troff.

»Ja!«, stöhnte er. »Ja! Am Samstag! Als Top Act!« Der Druck ließ nach, der Daumen verschwand. Schneidereit fischte ein säuberlich gefaltetes weißes Taschentuch aus der Tasche seines billigen blauen Regenmantels, das gleiche Modell wie der von Klemens, allerdings fünf bis sechs Nummern kleiner, wischte sich die Finger ab und ließ das Tuch angeekelt auf den Fuß fallen. Dann griff er in eine Innentasche und zauberte ein Plastiktütchen mit weißem Pulver hervor. Wäre es Zucker gewesen, hätte es für eine ganze Kanne Kaffee gereicht.

Es war kein Zucker.

Heinz richtete sich auf, seine Augen begannen zu glänzen, in seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken. Bittend streckte er die Hand nach dem Pulver aus. Schneidereit entzog es ihm, wedelte damit herum und lächelte sein bekümmertes Lächeln.

»Wird er nicht«, sagte er. »Nicht, wenn du das hier haben willst. Und mehr. Viel mehr.« Er bückte sich, hob eine klebrige Ravioli-Dose auf, die neben dem Bett lag, riss mit einem sorgfältig manikürten Fingernagel ein Loch in das Beutelchen und ließ das Pulver langsam in die Soßenreste in der Dose rieseln.

»Nein …!«, jammerte Heinz. »Aber ich kann den doch nicht hindern …«

»Doch«, sagte Schneidereit. »Kannst du. Wirst du. Wird Zeit, dass du dir dein Stöffchen mal ernsthaft verdienst.«

»Ja, wie denn?«

»Das werden wir dir noch rechtzeitig mitteilen, Junge.« Schneidereit drehte das Beutelchen um, faltete es einmal zusammen. Das Rieseln hörte auf, er machte Anstalten, das Päckchen wieder in seine Tasche zu stecken.

»Nein!«, machte Heinz. »Was soll ich tun?« Schneidereit stand auf und wischte seinen Mantel ab, als habe er auf einer nassen Bank gesessen.

»Er wird nicht auftreten«, sagte er. »Dort nicht. Und nirgendwo mehr.« Heinz stöhnte. »Und du wirst unser verlängerter Arm sein. Und deinem Land ausnahmsweise mal nicht auf der Tasche liegen, sondern ihm einen großen, patriotischen Dienst erweisen.« Schneidereit ließ das Beutelchen auf das Bett fallen. »Und du wirst keine weitere Chance bekommen, merk dir das.« Er ging zur Tür und öffnete sie. Erst da fragte sich Heinz, wie sie denn überhaupt in die Wohnung gekommen waren – seine beiden Wohngenossen waren gar nicht da, und ein Klingeln hatte er auch nicht gehört.

Der dicke Klemens machte drei Schritte, bis seine Knie an das Fußende des Betts stießen, holte eine Dose Cola aus seiner Manteltasche, öffnete sie und trank einen langen Schluck.

»Aaah!«, machte er und rülpste. »Merk dir das gut!« Dann trank er noch einen Schluck. »Schönes Instrument«, sagte er noch und kippte grinsend den Rest der Cola über das Saxophon.

»Oh, nein!«, jaulte Heinz auf. »Meine Klappen! Du Scheißer!«

»Dz, dz!«, machte Klemens, warf die leere Dose in eine Ecke und ging an Schneidereit vorbei hinaus.

»Mann! Wisst ihr, was das für eine Scheiß-Arbeit ist, die Klappen jetzt wieder sauber zu kriegen?! Ich muss …« Jedes einzelne Klappenpolster vorsichtig mit warmer Seifenlauge reinigen, dachte er weinerlich. Und selbst das garantierte nicht, dass anschließend jeder Ton so aus dem Instrument heraus kam, wie er ihn beim Hineinblasen gemeint hatte. Besser und sicherer wäre, alle Polster gegen neue auszutauschen – aber das war ein teurer Spaß und würde beim einzigen Spezialisten der Stadt wahrscheinlich wieder Wochen dauern. »Das darf nich’ wahr sein!«, jammerte er. »Scheiße, verdammte!«

Schneidereit kam noch einmal zurück und warf Heinz ein weiteres Plastikbeutelchen in den nassen Schoß.

»Hier«, sagte er väterlich, »verscherbel das und kauf dir einen neuen Plattenspieler.« Dann ging auch er. Die Tür blieb offen.

Als draußen die Wohnungstür zuknallte, sprang Heinz auf, warf seine Zimmertür zu und schnappte sich die beiden Beutel.

»Wow!«, sagte er. »Das sind ja mindestens …« Er feuchtete seinen Zeigefinger an, tupfte in das offene Päckchen hinein, leckte das weiße Pulver vom Finger und verdrehte die Augen. »Hey! Vom Allerfeinsten! Richtig gutes Stöffchen!« Er warf sich wieder auf das Bett und kramte eine verschrammte Alt-Blockflöte aus dem Saxophonkoffer. Schraubte sie auf und entnahm ihr eine Einwegspritze. »‚Dienst am Vaterland’!«, brummte er. »Arschlöcher!« Unter dem Kopfkissen fand er einen schwarz angelaufenen Esslöffel. Er zündete eine Kerze neben dem Bett an, spuckte in den Löffel und träufelte ein wenig von dem Heroin in die Spucke. Dann hielt er das Ganze über die Kerzenflamme, bis Dampf aufstieg und das Pulver sich zischend verflüssigte. Mit einem verträumten Lächeln zog er die Flüssigkeit auf die Spritze auf, ließ sie eine Minute abkühlen und suchte dann, das Thema von Night In Tunisia pfeifend, an seinem Fußknöchel eine heile Stelle. »Dienst am Vaterland!«, kicherte er. »Auf den verfickten Verfassungsschutz!«, rief er, als er die Nadel in eine Vene jagte. »Auf dieses unser Land!«

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, lauschte mit weit offenem Mund der Musik in seinem Kopf und dem rauschenden Weg der Wunderdroge durch seine Blutbahn.

»Aaah«, seufzte er. »Was ’n Stöffchen! Dafür räum’ ich euch die ganze verkackte Rasta-Bande aus dem Weg …! Verfasster Verfickungsschutz!«

Kichernd schlief er ein, die Nadel noch im Fuß. Ein schmaler Blutfaden rann aus der Einstichstelle und gerann an seiner Ferse.

Paaf!

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