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Prolog

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Zamuschnija, Samstag, 26. April 1986

»Gori!«

Gregori Balakow stöhnte. Sehr unwillig verabschiedete er sich von der Hochzeit seines jüngsten Sohnes Simyon, obwohl die Feier schon drei Tage und Nächte andauerte und er sich bereits mehrmals in die Büsche hinterm Haus geschlagen hatte, um sich einen Finger in den Hals zu stecken und in seinem Körper Platz für neue Blini, Aalstücke, Butterwürfel und, vor allem, neuen Wodka zu schaffen. Ein Traum von einer Hochzeit, auch wenn Gregori länger als ein Jahr würde schuften und sparen müssen, um den Kredit abzubezahlen, den er dafür aufgenommen hatte. Aber Simyon war schließlich nicht nur sein jüngster, sondern auch sein einziger Sohn; die anderen beiden waren im Kessel von Stalingrad geblieben, für immer begraben unter Bergen von Kameraden.

»Was ist, Mama?«, raunzte er seine Frau an. Gerade hatte er noch mit ihr getanzt, hatte sie übermütig über den Hof geschleudert, schweißüberströmt, berauscht von der Freude über das Glück seines Sohnes, das Glück, das Lioba und er, trotz allem, als Eltern und als Großeltern hatten, berauscht von den wild galoppierenden Klängen der Hochzeitskapelle, von Wein, Bier und Wodka, von den Ausdünstungen der Frau in seinen Armen …

Ein Traum. Die Hochzeit war neunzehn Jahre her, sein Enkel Mischa weit weg auf der Polizeischule in Kiew.

Die Frau, die jetzt, wie fast jede Nacht seit zweiundsechzig Jahren, auf seinem linken Arm lag, ließ nicht locker.

»Gori«, flüsterte sie wieder eindringlich. »Da ist was. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Hör dir Soro an!« Nun drang es auch zu Gregori durch. Draußen knurrte der Hund, und seine Pfoten tapsten und kratzten auf dem Beton des Hofs, weil er unruhig hin und her lief. So gar nicht seine Art, er war fast so alt wie der Enkel. Ächzend wälzte Gregori sich aus dem Bett, seine mageren nackten Füße suchten auf dem kalten Dielenboden nach den Pantoffeln.

»Ich seh’ nach, Mama«, sagte er.

»Zieh dir was an«, sagte sie. Das hätt’ ich sowieso, dachte Gregori. Schon weil meine Zigaretten im Morgenrock stecken. Lioba sah es nicht mehr gern, wenn er rauchte. Seine Hustenanfälle machten ihr Sorgen – jeden Morgen, jeden Abend, fast konnte man die Uhr nach ihnen stellen. »Ach, Lili«, pflegte er zu sagen. »Im nächsten Jahr werd’ ich neunzig – da hör’ ich doch jetzt nicht mehr damit auf.«

Er schlich aus dem Alkoven, in dem ihr Bett stand, nahm den zerschlissenen Morgenmantel vom Haken im Durchgang, zerschlissen, aber warm – Lioba hatte ihn vor Jahren aus einer alten Steppdecke genäht –, zog ihn an, stieß sich wie jeden Morgen seit neun Jahren an dem neuen Tischchen, auf dem das Radio stand, das Simyon und seine Ludmilla ihm zum Achtzigsten geschenkt hatten, den linken Zeh an und fluchte leise in sich hinein.

Draußen winselte der Hund. Gregori runzelte die Stirn. Das einzige, was dem Köter normalerweise Angst machte, war Liobas Katze, besonders wenn sie gerade mal wieder geworfen hatte. Und Gregoris Zorn, natürlich, aber den hatte er nur in seinen Flegeljahren gelegentlich zu spüren bekommen; Bauer Gregori war ein sanfter Herr, sogar wenn sie samstags vom Markt in Pripjat zurückkamen. Wenn Gregori genug Kartoffeln, Mangold, Zwiebeln, Eier und Sonnenblumenkerne verkauft hatte, genehmigte er sich gerne ein Gläschen mit den anderen Bauern aus der Umgebung; dann schlenkerte sein Fahrrad mit dem Anhänger hinten dran zwar oft gefährlich auf den Feldwegen hin und her, und mehr als einmal war er im Graben gelandet, aber nie ließ er seinen Ärger an seinem Hund aus, wie so viele der anderen. Nein, Gregori lachte, stand nach einem weiteren kräftigen Schluck aus der Flasche wieder auf und sang auf dem Heimweg alte ukrainische Lieder; Lieder, die man seit dem Krieg eigentlich besser nicht mehr singen sollte in der glorreichen Sowjetunion – Balladen, voller Sehnsucht nach den alten Tagen.

Es war kalt, als Gregori die Tür zum Hof öffnete. Auf den Äckern von Zamuschnija glitzerte silberweiß der Reif, und in den Senken lagen noch Schneeflecken. Als der Hund die Tür knarren hörte, kam er angelaufen, die Rute zwischen den Hinterläufen, den Bauch fast am Boden schleifend, die Ohren ängstlich angelegt. Er drängte sich zwischen Gregoris Beine, als sei ein Bär hinter ihm her. Oder der Leibhaftige.

»Was ist los, mein Alter?«, brummte Gregori. »Es gibt keine Bären mehr hier. Und der Leibhaftige sitzt in Moskau und trinkt französischen Champagner.« Der zottelige rote Hund hob seinen Kopf und jaulte auf. Dann lief er zum Rand des kleinen Hofs, blieb am Rain des Sonnenblumenfelds stehen und bellte heiser, zweimal, dreimal, dann kam er wieder zurück gekrochen und drückte sich erneut an Gregoris Beine.

Der alte Bauer horchte, versuchte zu erkennen, was sich zwischen den Sonnenblumen verbarg oder vielleicht dahinter – aber es wehte fast kein Wind, die Pflanzen standen still. Was dahinter sein mochte, war nicht zu erkennen – Liobas Sonnenblumen wuchsen über zwei Meter hoch, mit Stängeln so dick wie ein Männerarm. Aber …

»Verdammt«, murmelte Gregori. Der Himmel. Über seinen Feldern war er blauschwarz, gesprenkelt mit Sternen. »Papa, wie viele sind es?«, hatte der kleine Simyon immer wissen wollen, wenn er abends auf der Bank vor dem Häuschen saß, müde in den Schoß seines Vaters geschmiegt. »Zähl sie«, hatte Gregori geantwortet. Und verlässlich war der Kleine darüber eingeschlafen.

Heute hätte er es vielleicht geschafft. Obwohl der Himmel sich wolkenlos über die Ebene spannte, waren nicht viele Sterne zu sehen. Denn im Osten, über den Sonnenblumen, breitete sich ein rötlicher Schein aus. Ein flackernder Schein, ein Zucken wie von Waldbränden.

Aber im Osten war kein Wald, nicht auf dieser Seite des Dnjepr.

Und um halb zwei in einer Aprilnacht geht noch keine Sonne auf.

Gregori holte seine Zigaretten aus der Tasche des Morgenrocks und zündete sich eine an. Er ging die fünfzig, sechzig Schritte bis zum Ende des Sonnenblumenfeldes, seine Pantoffeln schlappten. Soro, dicht an seiner Seite, schien sich nicht entscheiden zu können, ob er winseln oder böse knurren sollte.

Die Haustür knarrte wieder.

»Was ist, Gori?«, hörte Gregori seine Frau rufen, als er bei den Kartoffeln angekommen war. »Gori?«

»Ich bin hier«, rief er. Hinter sich hörte er ihre nackten Füße auf dem Lehm tapsen. Sie hatten nur ein Paar Pantoffeln – wann standen sie schon beide gleichzeitig mitten in der Nacht auf?

»Was ist los?«, fragte sie, in ihrem Flanellnachthemd vor Kälte schaudernd.

»Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori und deutete nach Osten.

»Mein Gott«, keuchte Lioba und schlug die Hand vor den Mund. Keine fünf Kilometer vor ihnen war der Ursprung des hellen Scheins zu sehen. Flammen, Funkenregen und Rauch. Eine Feuersäule, die höher zu sein schien als der Reaktor des Kraftwerks von Tschernobyl; und der war dreimal so hoch wie der Kirchturm von Zamuschnija. »Gori, was ist das?«

»Die verdammte Fabrik«, sagte Gregori wieder. Er hatte sie von Anfang an gehasst und nie anders genannt, die Fabrik und das hässliche Monstrum von Stadt, das sie für die Arbeiter dort und ihre Familien in die Landschaft geklotzt hatten. Er hatte schon zu Beginn der Bauarbeiten vor bald dreißig Jahren den Kopf geschüttelt und dem Ungeheuer – und seinen Nachbarn – Unheil prophezeit. Gregori hatte nie verstanden, was dort geschah, wozu die verdammte Fabrik überhaupt gut war, egal wie oft Simyon versuchte, es ihm zu erklären. Er begriff nicht, was Radionukleide sein sollten und wieso die nichts mit Simyons Radio zu tun hatten. Er hatte nur immer schon gespürt, dass was immer dort stattfand, was immer dort produziert wurde, nicht gut für sie alle war. Da konnten ein paar Nachbarn, die regelmäßig im Pripjat angelten, ihm noch so begeistert erzählen, dass die Fische immer größer wurden, seit das Kühlwasser aus dem Kraftwerk in den Fluss geleitet wurde.

»Mein Gott«, sagte Lioba wieder. Sie zitterte am ganzen Leib. Obwohl Gregori wusste, dass es nicht nur die Kälte war, zog er seinen Morgenrock aus und hängte ihn ihr über die knochigen Schultern. Dankbar und ängstlich drückte sie seine Hand.

Dann hörten sie die Sirenen, sahen Dutzende von blauen und gelben Lichtern die Landstraße von Pripjat nach Teschernobyl entlang blitzen.

»Geh ins Haus, Lili«, sagte Gregori sanft. »Sie wissen schon Bescheid.« Aber Lioba konnte sich von dem Anblick nicht lösen.

»Du hast es immer gesagt«, flüsterte sie.

»Ich hab’ es immer gesagt«, bestätigte Gregori. »Aber glaub nicht, dass ich froh bin, recht gehabt zu haben.«

»Nein«, sagte sie und drückte wieder seine Hand. »Das weiß ich.« Dann schrie sie auf, und Gregori zuckte zusammen. Soro kniff den Schwanz ein, verschwand jaulend wieder im Hof und drückte sich an die Hauswand. Das Grollen einer Explosion war über die Felder gefegt wie ein Schneesturm. Über dem Kraftwerk schoss eine blau glühende Stichflamme in den Nachthimmel, ihr Widerschein legte sich über die Landschaft wie das überirdische Licht auf den Bildern von Bethlehem in Simyons Adventskalendern. Für einen Augenblick wurde die Nacht so hell, war das Licht so nah, dass Lioba und Gregori die Hitze der Flammen auf ihren Gesichtern zu spüren meinten.

»Komm«, sagte er geblendet. »Komm ins Haus. Wir können nichts tun.«

»Ja«, sagte Lioba und rieb über das raue Unterhemd an seinem Rücken. »Du erkältest dich noch.«

Sie gingen zurück zum Haus, begleitet vom fernen Jaulen der Sirenen, dem pfeifenden Winseln des Hundes, dem ratlosen, aufgeregten Gegacker aus dem Hühnerstall; ein altes Ehepaar, seit zweiundsechzig Jahren verheiratet, in all der Zeit nur getrennt die paar Wochen, als der junge Gregori sich in den Wäldern von Zamuschnija verborgen hatte, um nicht in einen Krieg ziehen zu müssen, der ihn nichts anging. Was er oft genug in seinem Leben bereut hatte – war nicht der Verlust seiner beiden Söhne in dem Krieg danach der Preis dafür gewesen, ein bei Gott viel zu hoher Preis?

»Gut, dass der Junge in Sicherheit ist«, sagte Gregori.

»Ja«, sagte seine Frau. »Und der kleine Mischa. Vielleicht sollten sie besser doch nicht zur Maifeier herkommen?«

»Ach«, sagte er. »Bis dahin …«

Als Gregori Balakow hinter seiner Frau die Tür der Kate schloss, sie noch einmal mit der Hüfte kräftig ins Schloss drückte, wusste er nicht, dass sie beide soeben schon gestorben waren.

Sie würden ihren Sohn nie wieder sehen, auch ihren Enkel nicht, und ihren Urenkel überhaupt nie.

Sie konnten auch nicht wissen, zum Glück würden sie es nie erfahren, dass Simyon einer der ersten von insgesamt achthunderttausend so genannten Liquidatoren sein würde, die ohne Schutzkleidung und Gasmasken, ohne auch nur einen Schimmer einer Ahnung, wozu sie da verdammt waren, mit Schaufeln und Spitzhacken tonnenweise radioaktiven Schutt zusammenräumen würden. Dass ihr dritter Sohn sie um gerade mal drei Monate überleben würde. Und dass er es aber in diesen drei Monaten geschafft haben würde, ihnen eine Enkeltochter zu schenken – Lioba Anna, die, gerade einmal vier Jahre alt, an Leukämie sterben würde.

Paaf!

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