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1 - Martina
ОглавлениеBonn, Dienstag, 15. Juli 1986
»Wir sind drin, Kinners! Wir sind dri-hin!«, quietschte Martina Esser-Steinecke und wirbelte mit wippenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen durch die Tür des verqualmten Büros. Zum ersten Mal seit vier Wochen betrat sie den Raum, ohne gleich wild mit den Händen durch die Luft zu wedeln und mindestens ein weiteres Fenster zu öffnen. »Der Alte hat’s geschafft!«
»Welcher Alte?«, brummte Rainer Kolbe und zündete sich an einem elf Millimeter langen Zigarettenstummel eine neue an. Wahrscheinlich die achtzigste heute. Um sechs Uhr nachmittags. »Und wo drin?«
»›Welcher Alte!‹«, grunzte Sabine Illenberger. »Kann doch nur der olle Kriegel sein. Oder?«, wandte sie sich an Martina.
»Na klar«, jauchzte die.
»Und wo drin?«, wiederholte Sabine.
»Na, in der Taaaagesschau!«
»In der Tagesschau?«, echoten ihre beiden grünen Parteigenossen. Ähem, GenossInnen.
»Ja, Kinners!«
»Scheiße!«, hustete Kolbe und pustete Zigarettenasche von seinem Faxgerät. »Da reißen wir uns wochenlang den Arsch auf und kommen keinen Millimeter weiter …! Und dann kommt der alte Sack …«
»He, he«, senkte Esser-Steinecke ihre Stimme und schloss rasch die Tür. »Du redest von unserem Außenminister!«
»Kommt der alte Sack«, fuhr Kolbe ungerührt fort, »und reißt die ganze Chose an sich …«
»Und plötzlich geht alles«, ergänzte Illenberger. »Landrat kusch, Festival genehmigt, und Kriegel als Retter von Demokratie, Kultur und Demonstrationsfreiheit in der Tagesschau.«
»Und kein Sekt mehr im Haus«, tönte Esser-Steinecke dumpf, den Kopf halb in dem Kühlschrank in der Ecke, den man aber dank ihres ausladenden Hinterteils in dem gelb-braun gefleckten Wickelrock nicht sehen konnte.
»Ja-huuu!«, schrillte Illenberger plötzlich, als es ihr gedämmert hatte, sprang auf und küsste Kolbe auf die rötlichen Afro-Locken. Dann wirbelte sie herum, fasste Esser-Steinecke an beiden Händen und tanzte mit ihr einen Rock’n’Roll durch das Büro. Was für Ärsche! dachte Kolbe wieder einmal und grinste in sich hinein. Die eine versucht ihre Kiste mit mehreren Quadratmetern Zuwickeln zu verstecken, und die andere presst ihre kess in eine reichlich unförmige lila Latzhose. Aber dann gestattete auch er dem Grinsen, sich in seinem Gesicht breit zu machen, öffnete seine unterste Schreibtischschublade und knallte eine dunkelgrüne Flasche ohne Etikett auf den Tisch.
»Wennscht koi Sekt im Haus net hoscht, na hilf d’r mit’m Traubemoscht«, dichtete er, kippte einen Kaffeerest in einen Papierkorb und füllte die Tasse bis zum Rand mit der klaren Flüssigkeit aus der Flasche.
»Puh!«, machte Esser-Steinecke, als ihr der strenge Geruch des Tresters in die Nase stieg. »Von dem Zeug werd’ ich doch gleich wieder betrunken!« Aber ihre Augen glänzten gierig, und auf ihren Wangen breiteten sich rote Flecken der Vorfreude aus.
»Auf Paaf!«, sagte Kolbe und nahm den ersten Schluck.
»Auf Paaf!«, echote Sabine Illenberger, nahm die Tasse entgegen und einen kräftigen zweiten Schluck.
»Auf Kriegel!«, sülzte Esser-Steinecke und kippte den Rest in sich hinein, dabei den Kopf in den Nacken werfend wie ein alter Thekensteher.
»Was wird denn hier gefeiert?«, fragte Alexander Zoller, von allen nur Sascha genannt, von der Tür her. Er lehnte bloß am Türrahmen, aber die drei im Zimmer hatten sofort das Gefühl, als fülle er die Mitte des Raumes. Dabei war er nicht einmal besonders groß oder gar dick – ein untersetzt stämmiger Typ in ausgefransten Jeans und hohen schwarzen Boxerstiefeln mit roten Schnürsenkeln, braune Haarwellen wirr über der Stirn und dem hochgeschlagenen Kragen seiner obligaten abgewetzten, schwarzen Lederjacke, die er schon in seiner Zeit als Gießener Taxifahrer Tag und Nacht getragen hatte. Aber auch ohne die hatte seine Ausstrahlung etwas Bestimmendes, fast Bedrohliches – Illenberger hätte, wäre sie ihm nachts begegnet, die Straßenseite gewechselt.
Sie erzählten ihm, was gefeiert wurde, eifrig, abwechselnd und gleichzeitig, zwischendurch immer wieder die Tasse auffüllend, bis die Flasche leer war und Kolbe sich noch einmal bücken musste, um die zweite aus seinem Geheimfach zu buddeln.
Na ja, hatten sie sich verdient, eigentlich. Fand sogar Zoller, der ansonsten beim Thema Alkohol im Dienst gerne seine protestantisch-cholerische Ader raushängen ließ. Auch wenn er sich selbst im Pallament, dem Bonner Treffpunkt linker Politik, zweimal die Woche bis zur Besinnungslosigkeit die Kante zu geben pflegte. Gerade deswegen, wahrscheinlich.
Sie hatten es also geschafft, wenn auch nur dank der Einmischung des alten Walter Kriegel – Außenminister, Doyen und Aushängeschild der Liberalen. Fast zwei Monate lang hatte der CSU-Landrat von Scherdorf ihnen einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine geworfen und ihnen die Genehmigung für das geplante Anti-Atom-Festival in Pöckensdorf verweigert. Selbst die große Feuerwehrdelegation, mit Helfried Broth, Ming Tant, Frieda Berlin, Rollo Becker und Doppeldoktor Dietmar Dörmann, ein paar Anwälten und ihrem designierten Parteivorsitzenden Sascha Zoller hatte bei einem Treffen in Regensburg auf Granit gebissen.
Der Reaktorunfall von Tschernobyl war drei Monate her. Martina Esser-Steinecke, Sabine Illenberger und Rainer Kolbe hatten sich in den letzten Wochen im Souterrain des Grünen-Büros am Telex-Ticker die Nächte um die Ohren geschlagen, einen Verteiler über die Grünen-Kreisverbände aufgebaut und, nicht zuletzt dank der fleißigen konspirativen Mithilfe eines Sympathisanten im Forschungszentrum Jülich, quasi stündlich die neuen Becquerel-Werte an aufgeschreckte Basis und empörte Bevölkerung durchgegeben. Und hatten dadurch die Grünen in den Wählerumfragen weit nach vorne katapultiert – während Bayerns Innenminister Zimmermann immer noch beharrlich tönte, das alles sei doch völlig harmlos und ungefährlich und reine Panikmache der neuen Außenseiter-Partei.
Und jetzt Kriegel, der alte Taktierer. Hatte das ganze Projekt an sich gerissen und Order von ganz oben gegeben. Die Zimmermänner schäumten, waren aber machtlos – im Grunde hatten sie die ganze Republik gegen sich, nicht mehr nur ein paar langhaarige Latzhosenträger, Friedensdemonstranten und Chaoten oder die in ihren Augen linksradikale Presse wie taz, Spiegel und Stern. Das Gelände wurde freigegeben, das Festival genehmigt; zwar mit schärfsten Auflagen, aber: Grünes Licht. Quasi. Mindestens fünfzig-, sechzigtausend Besucher wurden erwartet, und alles, was in der deutschen Rock- und Popszene Rang und Namen hatte (oder sich welchen erwerben wollte) riss sich darum, dort auftreten zu dürfen. Hinter den Kulissen wurde gerangelt und gemauschelt, was das Zeug hielt; das berufslinke Stehaufmännchen Dörmann hatte sich mal wieder geschickt eingeklinkt und bemühte sich heftig, möglichst viele Strippen an sich zu reißen. PA-Firmen boten Material, Manpower und sogar Geld, um die Beschallungs- und Beleuchtungsjobs zu bekommen, ein berüchtigter Münchner Feinkostkrämer tönte in der Abendpost, er werde die biblische Speisung der Vierzigtausend in den Schatten stellen – »zum Selbstkostenpreis, selbstverständlich!«, der Stapel mit Anfragen für Pressekarten wuchs jeden Tag um mehrere Zentimeter, der WDR geriet in Woodstock-Fieber, tat sich mit einem privaten Produzenten zusammen und plante einen Kinofilm zum Ereignis, die Universum kündigte ein Doppel- oder gar Dreifach-Album an, und in etlichen Tonstudios wurde fieberhaft an neuen Platten gearbeitet, die pünktlich zum Festival erscheinen sollten. Sogar der alte Franjo Homburg, Europas größter Konzertveranstalter, hatte seine Abneigung gegen deutsche Rockbands zumindest ruhen lassen und bot Know-how und Logistik an.
»Deutschlands größtes Rockfestival nimmt Formen an!«, tönte die Bildzeitung und ignorierte mal wieder geflissentlich, dass seit acht Jahren jeden Sommer an die hunderttausend Freaks zu Umsonst & Draußen nach Vlotho pilgerten. Aber selbst Kolbe fühlte sich geschmeichelt, dass seine Wortschöpfung in knallroter 36-Punkt-Schrift darüber prangte – Paaf! – für Pöckensdorfer Anti-Atom-Festival.
Und im ganzen Land fluchten junge Polizisten, weil ihr Urlaub gestrichen wurde, sich Anti-Demonstrations-Übungen häuften und sich das Gerücht verbreitete, die Zimmermänner planten, auf jeden Festivalbesucher einen Bullen kommen zu lassen.