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4 – Büb

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Erbelheim, Samstag, 19. Juli 1986

Das Erbelheimer JuKuZ entpuppte sich als ein Jugend- und Kulturzentrum, in dem wir schon zum vierten oder fünften Mal waren in unserer tollen Karriere. Beim ersten Mal hatten wir uns für siebzehn Zahlende den Arsch abgespielt, beim zweiten Mal waren’s deswegen neunzig gewesen, und seitdem platzte der Laden jedes Mal aus allen Nähten. Mag sich gut anhören, aber mehr als hundertfünfzig passten gar nicht rein.

Ja, warum spielt ihr denn nicht in ’ner größeren Halle? werden wir deswegen öfters gefragt. Hat einerseits was für sich, tun ja alle, aber andererseits macht’s nicht wirklich Spaß, in der genuin deutschen Mehrzweckhalle zu spielen, wo es noch nach der letzten Viehauktion oder Dackelausstellung riecht und nach dem Schweiß von Freizeitringern, Fingerhaklern und Skatmeistern, wo die Bühnendeko noch vom letzten Krippenspiel oder Feuerwehrball oder einer Aufführung von Grüß Gott, Frau Wirtin! stammt. Und wo die heimischen Amateurkonzertveranstalter den Hausmeister mit einer Flasche Asbach bestechen müssen, damit er gnädig die Turnmatten in den Geräteraum schaffen lässt und erlaubt, dass für die Bühnenbeleuchtung der zweite Sicherungskasten geöffnet wird. Abgesehen von den wichtig tuenden Jungs von der Freiwilligen Feuerwehr, deren Anwesenheit dort Pflicht ist, und die einem am liebsten für jede Zigarette, die sie hinter der Bühne genehmigen, fünf Mark Schutzgebühr abknöpfen würden. Und abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Akustik. Und von Vertragsgastronomen, die nicht verstehen können oder wollen, dass nicht jeder Musiker es generös findet, auf die Frage »Wie viele seid’s ihr denn?« und die Antwort »Sieben« gnädig sieben Bierbons in die Hand gedrückt zu bekommen.

Und schließlich – ist es nicht genau das, was die Wirtschaft dieses Landes, der ganzen Welt, über kurz oder lang zugrunde richten wird, dieses Immer mehr, immer größer, immer noch mehr? Dieses ewige Füttern der unersättlichen Götter Umsatz, Profit und Wachstum, Wachstum, Wachstum?

»Ich hab’ zehn bis fuffzig Gäste am Abend«, pflegte Ferdi, unser Kölner Stammwirt, auf entsprechende Angebote zu sagen, »da kann ich prima von leben. Einmal alle drei Jahre fahr’ ich sogar in Urlaub. Warum soll ich mir da eine zweite Kneipe ans Bein binden? ’nen Haufen Angestellte kontrollieren müssen? Nur noch die Hälfte meiner Gäste mit Namen kennen? Womit ich dann schon weit vorne wäre, denn von denen kennt mich auch nur höchstens die Hälfte. Vergesst es, Kollegen!«

Recht hat er. Und wir sind Penner’s Radio, wir scheißen auf Umsatz- und Profitmaximierung. Spielen wir eben alle zwei Jahre in den JuKuZ dieser Welt, und ein treues Publikum dankt es uns, die Hütte ist immer voll und die Stimmung, wie sie sein soll. Und unser Spritgeld und unser Bier können wir auch bezahlen. Das können wir auch die nächsten zwanzig Jahre noch machen, wenn’s von manchen gerade in die Stadthallendimension aufgestiegenen Kollegen längst heißt »Trio, Trio … Wer war das noch mal?«

Weswegen wir auch heute einen netten Abend hatten. Es mussten zwar dreimal die Bullen kommen und die Fenster und Türen schließen, die irgendjemand immer wieder aufgerissen hatte, um von den angenehmen einunddreißig Grad draußen eine kühlende Brise in den auf fünfundvierzig Grad dampfenden Saal zu locken, und einmal musste Little Joe seinen Platz am Mischpult für drei Minuten einer sommersprossigen Vierzehnjährigen überlassen, um eine Schlägerei zwischen den Obererbelheimer Hippies und den Niedererbelheimer Mopedrockern in geordnete Bahnen zu lenken – aber ansonsten: Alles paletti. Drei Zugaben und zwölf verkaufte und signierte Platten, schon wieder drei Penner’s-T-Shirts, und in der Garderobe bei der Abrechnung gestand uns der Freak vom Kulturverein sogar, dass es ihnen gelungen sei, den örtlichen Nähmaschinenfabrikanten als Sponsor zu gewinnen – er könne uns, »is’ das nich’ irre?«, einen Hunni drauflegen. Rock’n’Roll …

Verdächtig gut gelaufen, war Bandkonsens, und prompt wurden wir von einer Abordnung der AKW-Gruppe Hinterniedererbelheim umzingelt, die der Meinung war, wir seien aber absolut die absolut richtige Kapelle für ihr eigenes kleines Anti-Atom-Open-Air, aber absolut, und ob wir nicht, wo wir doch sowieso in der Gegend seien, am Samstag nach dem Paaf! …? Ein Soli-Benefiz? Und ich möchte gar nicht wissen, welche Rolle es spielte, dass einer ihrer Sprecher eine Sprecherin war, mit rabenschwarzen Haaren bis zu den ansehnlichen Hüftknochen, Augen wie Waldmeister-Bowle, einem Lächeln zum Niederknien und der Information, wir könnten dann anschließend alle bequem auf dem Bauernhof ihrer Frauen-WG Pocahontas übernachten – auf jeden Fall hatte irgendeiner von uns schon zugesagt, bevor irgendein anderer zu bedenken geben konnte, dass wir am Freitag vor diesem Samstag einen Gig in der Nähe von Emden hatten; natürlich auch ein Benefiz-Konzert, in diesem Fall für den Erhalt des dortigen Autonomen Jugendzentrums. Oder vielleicht war das auch die Veranstaltung für die Anschaffung eines neuen Backofens für das anarchistische Bäckerkollektiv Brot Front! – mir kommen da gelegentlich schon mal Sachen durcheinander.

Jedenfalls reichte weder das, die spontane Zusage wieder rückgängig zu machen, noch die Aussicht auf eine Fahrt von über sechshundert Kilometern von einem unbezahlten Gig zum nächsten, sondern im Gegenteil musste diese Zusage ein wenig begossen werden, und dann wurde schnell noch ein Sonderkasten Bier herbeigeschafft, damit wir mit den Hinterniedererbelheimern, insbesondere ihrer Sprecherin, noch ein paar Details zum Anliegen ihrer Gruppe, ihrer Veranstaltung, unserer Rolle dabei und nicht zuletzt bezüglich ihrer ziemlich interessant klingenden Pocahontas-WG bekakeln konnten.

Don’t judge a book by its cover!* Hatte uns Frank’n’Furter diese Warnung nicht schon vor über zehn Jahren mit auf den Weg gegeben? Miss Pocahontas entpuppte sich als wandelndes Anti-Atom-Lexikon. Ein überaus engagiertes Lexikon. Ein halbes Jahr Knast mit nichts als zehn Jahrgängen Öko-Test im Bücherregal würde das Wissen, mit dem sie uns bombardierte, nicht einholen können.

»Überall sind Jodtabletten knapp geworden! Dabei helfen die gegen die langfristigen Folgen eines Reaktorunfalls ebenso wenig wie der Verzicht auf frische Milch oder besonders gründliches Gemüse-Waschen! Wir werden es nicht erleben, dass es keine Spuren mehr von dieser radioaktiven Verseuchung unserer Erde gibt! In hundert Jahren nicht! Da kann die Bild-Zeitung noch so fettgedruckt Entwarnung geben! Da kann der Schäuble uns noch so vollmundig ‚völlig unbegründete Hysterie’ vorwerfen! Die verarschen uns doch nur!«

»Echt?«, fragte Veedelnoh.

»Blödmann«, sagte Bruni.

»Ja, Mensch, schau doch mal!«, sagte Pocahontas. »Die geben Besänftigungsentwarnungen raus, obwohl sie noch nicht mal zuverlässige Daten zur Beurteilung der ganzen Situation haben! In den ersten Tagen nach dem GAU war doch die Belastung durch die gefährlichen Substanzen, die aus der Ukraine zu uns rüber kamen – die deshalb so gefährlich sind, weil sie so langlebig sind – überhaupt noch nicht gemessen! Cäsium 137 zum Beispiel! Cäsium 134! Strontium! Plutonium!«

»Dynamo Hum«, brummte Noh.

»Blödmann«, sagte Bruni. Aber unser Lexikon ließ sich nicht beirren.

»In den ersten Tagen im Mai wurde in Hessen eine Belastung allein durch Jod 131 von fast dreitausend Becquerel pro Kubikmeter Luft registriert! Schon bei erwachsenen Menschen eine Belastung der Schilddrüse von zweiundsechzig Millirem! Und erst bei Kindern! Da ist es mehr als das Doppelte! Und normalerweise sind, nach gesetzlichen Grenzwerten, in einem gesamten Jahr nicht mehr als neunzig Millirem erlaubt!« Ich beugte mich zu Bruni rüber.

»Ob sie auch Sätze ohne Ausrufezeichen kann?«

»Du auch«, sagte sie.

»Weißt du überhaupt, was für eine Halbwertzeit Cäsium hat?«, fragte Pocahontas Veedelnoh.

»Ja«, raunte Bruni und grinste mich von der Seite an. Ich musste lachen, als mir dämmerte, dass sie nicht Halbwertzeiten, sondern Ausrufezeichen meinte, legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter und drückte sie. Für einen winzig kleinen Moment neigte sie ihr Köpfchen zur Seite und drückte ihre Wange an meinen Handrücken, und ich wunderte mich, wie Leid es mir tat, dass der Moment so schnell vorbei war.

»Ich hab’ nie begriffen, was ’ne Halbwertzeit überhaupt ist«, sagte Little Joe, reichte Pocahontas seine Bierflasche und beobachtete entzückt, wie sie, ohne mit einer der schönen schwarzen Wimpern zu zucken, ihre Bilderbuchlippen darüber stülpte und einen Schluck nahm.

»Danke«, sagte sie und gab ihm die Flasche zurück. »Das ist ganz einfach«, hub sie an, anscheinend ohne zu bemerken, dass er mit halb offenem Mund versonnen auf den Flaschenhals vor sich starrte, als wolle er den nächsten Schluck noch hinauszögern wie ein besonders leckeres Dessert. »Halbwertzeit heißt …«

»Das heißt nicht Halbwertzeit, sondern Sperrstund’«, sagte der Obersozialarbeiter des JuKuZ und rasselte ostentativ mit einem schweren Schlüsselbund. »Müsst ihr nicht eure Anlage noch einladen?«

»Mann, ich weiß auch nich’!«, stöhnte Little Joe, als wir nach der Schlepperei nebeneinander auf dem Männerklo standen, und tippte ein paar Mal seinen Schädel gegen die Wand. »Mein Kopp sagt: Wat ’ne Krampfhenne! Und mein Köpfchen sagt: Wat ’n Geschoss! Auf wen soll ich hören, Büb?« Ich starrte auf die kniehohe, gelb-braun geflieste Pinkelrinne vor mir, versuchte mich zu erinnern, warum ich hergekommen war – die vielen Autobahnkilometer machen müde –, und dachte darüber nach.

»Büb?«

»Ja?«

»Kommt da noch wat?«

»Hä?«

»Auf wen ich hören soll?!«

»Pocahontas«, sagte ich. Jetzt war er dran:

»Hä?«

»Liegt doch nahe: Auf den alten Indianer hören.«

»Auf welchen?«

»Weiß nicht, wie er heißt.« Ich pinkelte ein bisschen, zog meinen Reißverschluss wieder hoch und wollte gehen.

»He!«, schrie Little Joe. »Und? Wat sagt der?«

»›Meine Augen tun weh, wenn ich sie aufmache‹, sagt der. ›Und sie tun weh, wenn ich sie zumache. Die ganze Nacht weiß ich nicht, was ich tun soll. Deshalb mache ich sie ständig auf und zu.‹, sagt der.« Unser Roadie, Mixer, Fahrer, Bodyguard und Buchhalter starrte mich mit offenem Mund an, in die Lücke zwischen seinen oberen Zähnen hätten gut drei Fragezeichen gepasst. Dann grinste er sein Hoss-Cartwright-Grinsen, holte mächtig aus – und legte mir sanft eine Pranke auf die Schulter.

»Bist ’n echter Freund, Büb«, sagte er.

Schade für ihn, dass das Geschoss und ihre Mitstreiter inzwischen beschlossen hatten, gleich nach Hause zu fahren.

Vielleicht.

Schade, meine ich mit ‚vielleicht’.

Es stellte sich heraus, dass sie sich ziemlich enttäuscht und spürbar weniger herzlich so schnell verabschiedet hatten – Bruni hatte Veedelnoh und den anderen Penner’s kurz klargemacht, was für eine Schnapsidee es sei, diesen Benefiz-Gig zu machen und dafür eine solche Ochsentour auf sich zu nehmen, von den Fahrkosten mal ganz abgesehen. Schweren Herzens hatte er ihr recht geben müssen und noch schwereren Herzens Pocahontas und ihrer WG bedauernd eine freundliche Absage erteilt.

»In Sachen Solidarität sind diese Penner für mich aber ein Flop«, hatte er einen ihrer Begleiter beim Hinausgehen noch murmeln hören.

Paaf!

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