Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 10

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ANDREJ BEOBACHTETE DAS Unwetter, wie es in der erdrückenden Finsternis heranschwamm, ein indigofarbener Schatten über dem welligen, welken braunen Land, der den Himmel einhüllte. Es schickte Böen aus Kälte und den Geruch von Schnee voraus, bis es schließlich über der weiten Schüssel hing, an deren Rand das zerfallende Kloster und das jämmerliche Kaff lagen, als seien Hütten und Kirche den Abhang herunter gerollt und dort liegen geblieben, für niemanden mehr von Interesse als für die Geister von Toten, die vor Jahrhunderten gestorben waren.

Andrej drückte sich hinter der Ruine des Torbaus an die Mauer und versuchte die Gruppe aus Frauen und Kindern im Auge zu behalten, die sich frierend zusammendrängte und die von einem Augenblick zum anderen zu vagen Umrissen wurde im Flirren eines Graupelschauers, der im frühen November bereits den Winter vorwegnahm. Mit seinen sieben Jahren wusste Andrej nicht, wo sie sich befanden, und selbst wenn sein Vater oder seine Mutter es ihm mitgeteilt hätten, hätte ihm der Name des Ortes doch nichts gesagt. Von jeher schleppte sein Vater die kleine Familie kreuz und quer durch das Land, und sämtliche Ortsnamen und geografischen Begriffe waren hoffnungslos durcheinander geraten in Andrejs Hirn. Das einzige Faktum, das sich in seiner Seele eingebrannt hatte, war das Jahr, in dem sie sich befanden, und dies auch nur, weil jeder zweite, den sie trafen und den sein Vater eines Gesprächs für würdig befand, versucht hatte, das Omen dieses Jahres auszurechnen, seit die Neuigkeit von der Bluthochzeit in Frankreich bis hierher in diesen entlegenen Zipfel des Reichs gedrungen war.

„Die Katholiken und die Protestanten schlachten sich gegenseitig ab“, hatte sein Vater halblaut gesagt, so dass nur Andrej und seine Mutter es hören konnten, dabei aber herausfordernd in die Runde gegrinst, die in der Herberge gehockt war und der Erzählung eines Reisenden über die Massaker an den französischen Protestanten schockiert zugehört hatte. „Zeit ist es geworden. Da lassen sie uns wenigstens in Ruhe unserer Wissenschaft nachgehen, die abergläubischen Bastarde.“

„Ist die Achimilie eine Wissenschaft?“, hatte Andrej gefragt.

„Nicht nur eine Wissenschaft, mein Sohn“, hatte sein Vater gesagt. „Alchimie ist die einzig wahre Wissenschaft, die es gibt!“

Die einzig wahre Wissenschaft hatte sie nun hierher geführt, in diese Klosterruine, die nicht einmal eine vollständige Mauer besaß, in der die meisten Gebäude wenig mehr waren als Steinhaufen, aus denen das faulende Gebälk ragte wie Knochen aus einem Kadaver, und deren Kirche nur noch mühsam aufrecht stand. Zwischen den leeren Dachsparren über dem Kirchenschiff ballte der Himmel die Fäuste und sandte seine Graupelschauer herab, dass das Prasseln bis zu Andrejs Versteck drang. Die vierschrötige Gestalt seiner Mutter war völlig verschmolzen mit den anderen Frauen, die vor dem einzigen intakten Gebäude standen. War sie vorhin durch ihre gedrungene Figur deutlich von den schlanken, hoch gewachsenen Frauen zu unterscheiden gewesen, unter die sie sich auf Geheiß des Vaters gemischt hatte, konnte Andrej sie nun nicht mehr ausmachen. Er hatte gesehen, wie sie sich von einer zur anderen bewegt hatte, mit Händen und Füßen redend, weil die Frauen eine andere Sprache als sie sprachen, dem einen oder anderen Kind über den Kopf streichend, und wie sie schließlich bei der jungen Frau mit dem kugelrund vorgewölbten Bauch stehen geblieben war. Deren Schultern hingen herab und sie schien so erschöpft, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Dann war der Schauer gekommen, und es drängelten sich nur noch Schatten zusammen.

Andrej bewegte sich unruhig, plötzlich ängstlich geworden. Unvermittelt überkam ihn das Gefühl einer sich nähernden Katastrophe, als sei etwas ins Rollen geraten, das niemand würde aufhalten können. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt, dass, was immer heranrollte, sich auch über die kleine Familie Langenfels wälzen und sie auslöschen würde.

Über das Prasseln des Graupelschauers hörte Andrej plötzlich ein dumpfes Röhren. Es kam aus dem Inneren des intakten Klosterbaus. Es war das Brüllen eines angreifenden Stiers, das Fauchen eines Luchses, das Heulen eines Wolfs; aber Andrej wusste im gleichen Moment, dass es von einem Menschen stammte – wenngleich nichts Menschliches darin zu sein schien. Die Kehle des kleinen Jungen in seinem Versteck an der Klostermauer schnürte sich zu. Er wollte seiner Mutter eine Warnung zuschreien, doch er blieb stumm; er wollte aufspringen und in den Bau stürmen, um nach seinem Vater zu sehen, doch seine Beine waren taub. Die durchnässten Schattengestalten weiter vorn erstarrten und lauschten.

Das unmenschliche Gebrüll hörte nie auf, selbst als die ersten Schreie aus der Gruppe der Frauen ertönten. Andrej sah nur undeutlich, was sich abspielte. Wäre er älter gewesen, hätten die Erfahrungen, die jeder Mensch in einer Zeit wie dieser zu machen hatte, die richtigen Bilder geliefert. So war es seine Fantasie, die in Bilder übersetzte, was seine Augen sich weigerten zu sehen; die Realität wurde dadurch um nichts weniger grässlich.

Die Schattengestalten flüchteten in alle Richtungen auseinander. Ein größerer Schatten war zwischen ihnen. Dieser schwang etwas, holte aus und traf eine der schlanken, fliehenden Gestalten, die sich krümmte und zu Boden fiel. Das Flirren, das Prasseln und die Düsternis verzerrten alle Wahrnehmung. Vielleicht war es nur ein Trugbild, dass die gestürzte Gestalt mit erhobenen Armen um Gnade flehte

– pitiè, pitiè, fait rien de mauvais …!

Und womöglich war es nur eine Täuschung, dass der große Schatten noch einmal zuschlug und die flehenden Arme leblos nach unten sanken, und wahrscheinlich war das Geräusch, das über die Kakophonie von Gebrüll, Gekreisch und Geprassel zu Andrej drang, das Geräusch von einer scharfen Klinge, die sich in Fleisch und Knochen gräbt und dann auf dem Boden darunter auftrifft, auch nur Einbildung. Der Schatten riss sein Mordwerkzeug heraus und lief weiter. Die Frauen rannten panisch im Klosterhof durcheinander, stießen zusammen, zerrten ihre Kinder mit sich, ein Aufprall, jemand ging zu Boden und bewegte sich nicht mehr, ein Ausholen, und eine kleine Gestalt flog beiseite und verschwand

– ayez la pitié, épargnez mon enfant …!

Die Frauen fielen eine nach der anderen, niedergehackt in der Flucht, auf den Knien erschlagen, während sie um Gnade flehten, im Versuch davonzukriechen auf den Boden genagelt. Wo Andrejs Mutter in all der Panik war, ließ sich nicht erkennen. Andrej wusste nicht, dass er die Hände an die Ohren gepresst hatte und wie ein Wahnsinniger ihren Namen kreischte, seit er den ersten Mord mit angesehen hatte. Der große Schatten bewegte sich zwischen seinen Opfern wie ein riesiger, dunkler Wolf, verschwamm vor Andrejs Augen und wurde zu einer Gestalt mit Kutte und Sense, die erbarmungslos durch das menschliche Korn zwischen ihren Füßen mähte, verlief wieder zurück zu dem finsteren Schatten, der eine Beute an den Haaren gepackt hatte und niederrang, die Waffe erhob …

Jemand sprang dem Schatten auf den Rücken und drosch auf ihn ein, und er fasste nach hinten und zerrte den Angreifer herunter, warf ihn auf den Boden, hielt ihn mit dem Fuß fest, schlug mit seiner Waffe immer und immer wieder zu. Das Geräusch der Schläge, das Zerschmettern, das Zerbersten, das Röhren, die Schmerzensschreie …Andrejs Hände auf seinen Ohren nützten gar nichts.

Mit einem weiten Schwung fuhr die Waffe nach oben – Andrej glaubte die Spur wie einen rot schimmernden Bogen durch das Geflimmer zu sehen – und zuckte auf die erste Beute herab, die der Schatten niemals losgelassen hatte und deren Schreien und Winden vergeblich waren…

Andrej merkte erst, dass er aus seinem Versteck geklettert war und vor der Mauer im Freien stand, als die Graupel ihn wie tausend Nadelstiche im Gesicht trafen. Er schrie mit seiner grellen Jungenstimme und weinte und ballte die Fäuste, dass das Blut aus den Handflächen trat. Der mörderische Schatten vorne wirbelte herum. Außer ihm stand kein anderer mehr aufrecht auf dem Schlachtfeld. Er riss seine Waffe aus dem Körper des letzten Opfers und rannte ohne zu zögern auf Andrej los. Wenn er sein tierisches Brüllen weiterhin ausstieß, konnte Andrej es wegen seines eigenen Kreischens nicht hören. Andrej stand da, als hätte der Akt des Herauskrabbelns aus seinem Versteck endgültig all seine Kräfte gekostet. Der Schatten stürmte durch den Schauer, und mit jedem Schritt schmolz er zusammen und verwandelte sich von einem amorphen Monster in einen Menschen mit wehender Kutte und von einem Menschen in einen Mönch … die vermeintliche Sense wurde zu einer Axt … die riesige Gestalt zu einer hageren Figur, um deren Körper die von Blut durchnässte und von den Eispartikeln verkrustete Kutte schlotterte. Der Sensenmann wurde zu einem jungen Klosterbruder, der von einigen der Frauen, die er soeben zerstückelt hatte, der Sohn hätte sein können. Andrejs Blicke fielen in das Gesicht des heranstürmenden Mönchs, und mit der Weitsicht des Todgeweihten erkannte er, dass es zwar der Körper eines jungen Benediktiners war, den er ansah, aber dass die Seele, die sich darin befunden hatte, nicht mehr vorhanden war. Was in dem Körper steckte und ihn vorantrieb, war ein Dämon, und der Dämon hieß Wahnsinn.

Der Mönch war fast heran, eine blutbesudelte Figur, aus deren Mund Geifer spritzte und aus deren Augen Tränen liefen; die Axt war hocherhoben. Andrej wusste, dass er im nächsten Moment sterben würde. Seine Blase entleerte sich. Er schloss die Augen und ergab sich.

Die Teufelsbibel

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