Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 24
4.
Оглавление„Nicht mal eine Beschwörung eines ganz niedrigen Dämons?“
„Nicht mal eine ganz unscharfe Zukunftsvision in einem Spiegel?“
Rozmberka und Lobkowicz zerrten Andrej durch die Gänge des Hradschin, die Andrej zu betreten niemals in seinem Leben zu hoffen gewagt hätte. Wachsoldaten reckten sich, wenn sie an ihnen vorüberhasteten; Dienstboten machten Bücklinge und wichen beiseite; ihre Abbilder huschten in verspiegelten Säulen, glänzend polierten Pilastern und teuren Glasscheiben an ihrer Seite mit und schienen ihrem Tempo hinterher zu hängen. Andrejs lädierter Kopf pochte im Rhythmus ihrer hastigen Schritte.
„Nein“, stöhnte er.
„Irgendein Trick?“
„Es muss ja keine echte Zauberei sein …“
Andrej hatte das Gefühl, dass sich die Realität bruchstückweise von ihm löste und in den gefliesten, marmorierten, vertäfelten oder vergoldeten Räumen zurückblieb, die sie durchquerten. Rozmberka und Lobkowicz schleppten ihn mit hoher Geschwindigkeit ins Zentrum des Wahnsinns. Er war zu entsetzt, um sich zu wehren.
„Ich kann ‚Drei Mösen für einen Pimmel’“, stammelte er.
Lobkowicz bremste so scharf, dass Rozmberka und Andrej ins Taumeln gerieten. Der kleine Mann streckte sich und packte Andrej am Hemdkragen.
„Willst du vor den Augen des Kaisers eine Orgie veranstalten, du kleiner Scheißer?“, zischte er.
„Nein, nein, nein …“, blubberte Andrej. „Wir haben es nur so genannt. Wenn man ‚Drei Hütchen für einen Kegel’ sagt, lockt man doch keinen an.“
„Wer ist ‚wir’?“, stieß Lobkowicz hervor.
„Wir. Die Pflasterritter. Ich meine … die Gassenratten … ich meine …“
„Er meint das Geschmeiß, das sich in den Gassen herumtreibt und keine Eltern, kein Zuhause, kein Brot und keinen Anstand hat und versucht, die ehrenwerten Bürger zu bestehlen und zu betrügen“, sagte Rozmberka.
Lobkowicz blinzelte. „Das Spiel“, sagte er. „Das kenne ich unter dem Namen ‚Drei Nonnen und der Vater Abt’.“ Er klappte plötzlich den Mund zu und errötete.
„Ich kenne dieses Spiel nicht“, erklärte Rozmberka.
Lobkowicz begann Andrej wieder vorwärts zu zerren. „Weiter, weiter!“, keuchte er. „Du kannst mit dem Kaiser keine Glücksspiele veranstalten.“
„Besonders so ein betrügerisches“, sagte der Reichsbaron.
„Ich dachte, Sie kennen dieses Spiel nicht, mein lieber Rozmberka?“
„Was man so hört“, sagte Rozmberka und verschoss über Andrej hinweg tödliche Blicke in Richtung Lobkowicz.
„Was noch? Was noch? Du bist doch nicht umsonst all die Jahre der Assistent von Meister Scoto gewesen!“
„All die Jahre?“, kreischte Andrej. „Er hat mich erst hier in Prag aufgelesen! Und ich habe nur für ihn saubergemacht, nichts anderes!“
Lobkowicz schlug sich an die Stirn und fluchte vor sich hin, ohne dass es ihren Vormarsch wesentlich verlangsamt hätte. Jetzt kamen sie in einen Saal, der breiter schien, als die Gassenflucht vor Scotos Haus lang war, und sich so weit erstreckte, dass die Tritte ihrer Schuhsohlen ein hörbares Echo warfen, mit einer Decke, die kaum weniger tief hing als draußen der Himmel. Hindurch im Galopp … linkerhand führte eine Tür hinaus, der Reichsbaron und der Oberstlandrichter steuerten Andrej in ihre Richtung und in ein Treppenhaus, in dem jede einzelne Treppenstufe tiefer war als der Wohnraum des Hauses am Moldauufer. Die beiden alten Reichsbeamten nahmen die Treppe ohne zu zögern in Angriff. Der füllige Rozmberka pfiff in Andrejs Ohr wie ein lecker Wasserkessel.
„Vielleicht, wenn wir ihn vor den Augen des Kaisers ausweiden?“, schlug Rozmberka vor, als er am Ende der Treppe wieder zu Atem kam. „Da muss er selbst gar nichts können.“
„Nein“, schnappte Lobkowicz. „Nicht, dass es mir um diese Kanaille hier ginge, aber der Anblick von aufgespulten Därmen vertreibt nicht mal mir die Melancholie.“
In Andrejs Ohren gellten die Worte der beiden alten Männer um die Wette. Er stolperte mit ihnen mit, weil seine Panik zu groß war, um auch nur den zartesten Gedanken an Flucht zuzulassen. Es hatte den Anschein, dass sie in diesem Stockwerk die gleiche Strecke zurückliefen, die sie im Stockwerk zuvor nach vorn gekommen waren. Wenn Andrejs Entsetzen nicht so allmächtig gewesen wäre, hätte er sich vielleicht gute Chancen ausgerechnet, jahrelang nicht entdeckt zu werden, wenn er ausriss und sich irgendwo im Palast verbarg. Selbst seine Straßenratten-Instinkte hatten blockiert; vor seinem inneren Auge sah er förmlich die Wand, auf die sein Leben zuraste und an der es zerschellen würde, und die Straßenratte war starr vor Angst.
„Der Kaiser wird nach Blut schreien, wenn wir ihm einfach diesen Versager vorsetzen“, ächzte Rozmberka. „Machen Sie langsamer, Lobkowicz, mir platzt gleich eine Ader.“
„Lieber schreit er nach seinem Blut als nach unserem, oder?“, versetzte Lobkowicz. Seine Stimme klang gequetscht vor Atemnot. Andrej wurde herumgerissen, die Doppelflügel eines Portals wischten an ihm vorüber, zwei Wachsoldaten standen stramm und rissen die Flügel der nächsten Tür in der gegenüberliegenden Wand auf und schlugen sie wieder zu, als sie den Raum dahinter betreten hatten. Abrupt blieben die Männer stehen. Andrej kämpfte um sein Gleichgewicht. Rozmberka brach auf einer Truhe zusammen und winselte nach Atem, während er sich mit beiden Händen Luft in das hochrote Gesicht zu schaufeln versuchte. Lobkowicz stützte sich mit beiden Händen auf die Knie und keuchte den Parkettboden an. „Alles wegen einer Scheiß-Nuss! Ich bin zu alt für diesen Mist!“
Vier andere Männer befanden sich im Raum. Einer von ihnen war hager, hoch gewachsen und vollkommen schwarz gekleidet wie ein Spanier, wenn auch nicht mit deren martialischer Eleganz. Um seinen kahlen Kopf wand sich ein Lederriemen, von dem diverse Dinge hingen: lange dünne Haken, metallene Spateln, eine Schere mit winzigen Klingen und umso größeren Augen. Direkt vor seiner Nase baumelte eine polierte Metallscheibe, an der er vorbeischielte. Der lange Kinnbart sah aus wie ein weiteres künstliches Anhängsel undefinierbaren medizinischen Entwurfs. Die beiden anderen waren äußerlich vollkommen unscheinbar, wenn man von dem unverhohlenen Hass absah, der hinter der Überraschung lauerte, mit der sie Andrej musterten. Andrej kannte sie – sie hatten dafür gesorgt, dass sein Herr, der mit drei in Samt ausgeschlagenen Wagen in Prag angekommen war, nach nur wenigen Monaten mit einem Berg von Schulden geflohen war. Edward Kelley und John Dee waren die Leib- und Magen-Alchimisten des Kaisers, und sie hatten den neu aufgetauchten Rivalen aus Italien binnen kürzester Zeit diskreditiert und ruiniert; Andrej wusste, dass sich Giovanni Scoto heimlich dafür gerächt hatte, indem er nacheinander die Frauen der beiden englischen Alchimisten und dann deren Mätressen beglückt hatte – mak’ die Bett sauber, Andrea! Der vierte Mann war ein Zwerg mit einer Schellenkappe und lächerlich aufgebogenen Schnabelschuhen, der neben der einzigen Tür in der Rückwand des Raumes auf dem Boden saß und die Neuankömmlinge mit illusionslosen Froschaugen musterte.
„Ist das der Alchimist?“, fragte der Mann in Schwarz.
„Ich muss protestieren“, kollerte Edward Kelley. „Jener ehrenwerte Edelmann aus Italien kann nicht genannt werden ein Alchimist. Die Alchimie ist eine Wissenschaft! Und abgesehen davon dieser Mann hier ist definitiv nicht …“
„Nein, Doktor Guarinoni“, keuchte Lobkowicz und richtete sich mühsam auf. „Das ist der, den wir an seiner Stelle reinschicken. Der Alchimist hat das Weite gesucht.“
Kelley und Dee warfen sich Blicke zu. Der kaiserliche Leibarzt ermaß Andrej an seiner polierten Metallscheibe vorbei. Er schüttelte den Kopf. „Merda!“, sagte er.
„Und?“, fragte Lobkowicz.
Der Arzt zuckte mit den Schultern „Rein mit dem Kerl.“
Lobkowicz schob Andrej auf die Tür zu. Der Arzt eilte neben ihnen her, um sie zu öffnen. Er drückte sie nur einen ganz kleinen Spalt auf. Der Zwerg folgte ihnen mit seinen hervorquellenden Augen. Andrej starrte ihn an. Der Zwerg hob einen dicken Finger und tippte sich an die Nase.
„Viel Glück, Kumpel“, sagte er.
Dann stand Andrej plötzlich in einem Raum, in dem die Nacht entweder schon hereingebrochen oder niemals daraus gewichen war und in dem die Luft nach ungewaschener Haut, Fäkalien, verschimmeltem Essen und ranzig gewordener Lust stank. Wachskerzen blakten müde gegen Dunkelheit und den Geruch an; Tranlampen hätten den Raum wahrscheinlich explodieren lassen. Die Tür fiel ebenso sanft wie endgültig hinter Andrej ins Schloß: KLACK!
„Meister Scoto?“, fragte eine Stimme aus einem Grab heraus. Andrej musste an sich halten, um nicht aufzuschreien.
„Äh … äh … äh …“, machte er.
„Meister Scoto?“
Andrej fiel auf die Knie. „Nein, Majestät“, brachte er heraus. Nein, Majestät, ich bin nur der Lakai des Mannes, der Majestät Kasse um eine Truhe voller Gold und Silber erleichtert hat, nicht zu sprechen von einer höchst kostbaren … äh … Nuss? Der Mann, den Majestät zu sehen wünschten, hat das Weite gesucht, aber ich bin hier, und Majestät können mir den Bauch aufschneiden und die Därme herauswickeln lassen, weil ich nämlich sonst nichts beherrsche, was zur Belustigung dienen kann, außer ‚Drei Mösen für einen Pimmel’, aber das ist Betrug, und Majestät fänden es bestimmt nicht erheiternd, wenn Majestät zuerst vom Herrn und dann seinem Diener über den Löffel balbiert würden … Andrejs Gedanken kamen knirschend zum Stillstand. Er zitterte am ganzen Körper. „Nein, Majestät“, echote er.
Zwischen den Schatten unter dem Baldachin des in der Mitte des Raumes stehenden Bettes regte sich ein noch tieferer Schatten. Die lederne Bettaufhängung quietschte. Etwas Massiges wälzte sich aus den Decken, stand ächzend auf. Andrej spürte, wie sich der Parkettboden senkte, als der Schatten sein Gewicht auf seine Füße verlagerte. Eine Kerze wanderte mit, als der Kaiser auf Andrej zutappte, den Geruch eines Mannes vor sich herschiebend, der tagelang in seinen eigenen Körpersäften gelegen und sich nicht darum gekümmert hat. Andrej hörte ein metallenes Scharren, dann hing die Kerze plötzlich dicht vor seinen Augen, und gleichzeitig berührte etwas eisig Kaltes seine Kehle. Andrej machte ein Geräusch wie ein Kätzchen und spürte seinen Unterleib zu Brei werden.
„Was willst du?“, fragte der Kaiser. Die Worte ritten auf drei Wellen Kloakengeruch heran.
Der Druck der Schwertklinge an seinem Hals war für Andrej wie die Berührung der Sense des großen Schnitters. Er starrte in das Gesicht, das sich vor seines geschoben hatte, halbblind von der Kerzenflamme, und sah trübe Augen, deren untere Lider so weit herabhingen, dass das Rote hervorschimmerte, teigige, schlaff hängende Fettbacken, auf denen die Bartstoppeln sprossen wie Schimmel, eine lange Hakennase und eine schwere Unterlippe, die in das Bartgestrüpp am Kinn hing und feucht glänzte. Andrej fühlte auf einmal eine Art großer Leere in sich, wie an dem Tag, an dem der erschossene Mönch vor ihm zusammengebrochen war und Reflexe seinen Körper übernahmen, weil sein Geist sich vorübergehend aus dem Geschehen verabschiedet hatte.
„Ich will Majestät eine Geschichte erzählen“, hörte Andrej sich flüstern. „Mein Name ist Andrej von Langenfels, ich bin ein Nichts und ein Niemand, und ich kann weder Dämonen zitieren noch Bilder in Spiegeln zeigen. Aber ich kann Majestät eine Geschichte erzählen, eine Geschichte mit einem Rätsel darin, und wenn Majestät das Rätsel lösen können, erlösen Majestät auch meine Seele.“
„Nicht einmal die Priester können eine Seele erlösen“, sagte Kaiser Rudolf. „Alles, was sie bieten, sind Lügen.“
„Ich biete eine Geschichte“, sagte Andrej. „Und ich biete die Erlösung meiner Seele.“ Seine Hände bewegten sich wie von selbst in sein Wams, der Druck der Schwertklinge verstärkte sich, aber Andrej hatte das Medaillon schon hervorgeholt und hielt es ins Licht der Kerzenflamme. „Hiermit endet meine Geschichte“, sagte er, „doch ich bin überzeugt, dass sie hiermit auch beginnt. Und das ist auch schon das Rätsel. Wollen Majestät meine Geschichte hören?“
Das Gesicht des Kaisers zog sich aus dem Lichtschein zurück. Die Schwertklinge drückte weiter gegen Andrejs Kehle. Die Leere in seinem Inneren begann sich wieder mit Leben zu füllen, und Andrej schien es, als würde er jetzt erst wahrnehmen, was er getan hatte. Seine ausgestreckte Hand mit dem Medaillon hing in der Dunkelheit. Sie begann zu zittern.
Plötzlich war der Druck der Klinge verschwunden. Der Parkettboden knarrte und knisterte. Die Kerzenflamme zog sich zum Bett zurück. Etwas polterte auf den Boden und hörte sich wie ein achtlos fallen gelassenes Schwert an. Das Bett ächzte.
„Komm her, mein Sohn“, sagte die Stimme aus den Schatten unter dem Baldachin. „Ich will deine Geschichte hören.“
Eine Stunde später öffnete Andrej die Tür, die von der Schlafkammer des Kaisers zur Antichambre führte. Fünf Augenpaare starrten ihn an. Er senkte den Blick und fand das letzte, hervorquellende Augenpaar. Der Zwerg nickte, und Andrej nickte zurück. Er schlüpfte nach draußen und schloss die Tür vorsichtig hinter sich.
„Seine Majestät schlafen“, sagte er und hörte seine eigene Stimme wie ein heiseres Flüstern. „Majestät wünschen in zwei Stunden geweckt zu werden. Bis dahin soll ein heißes Bad zur Verfügung stehen sowie der kaiserliche Bader, und die Mägde sollen die Vorhänge abnehmen und das Bett abziehen und alles verbrennen. Danach wünschen Seine Majestät zu speisen …“
Lobkowicz schüttelte den Kopf. Die anderen bewegten die Münder wie die Fische.
„Ich weiß nicht, was du getan hast, mein Junge, aber wir sind dir alle dankbar“, sagte Lobkowicz.
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Andrej. Er sah Lobkowicz ins Gesicht und versuchte zu grinsen, aber seine Gesichtsmuskeln verweigerten den Dienst. „Aber die Anrede ist nicht mehr ‚mein Junge’, sondern fabulator principatus.“
Der Oberstlandrichter stierte ihn an. Andrej erinnerte sich, wie er und der Reichsbaron auf der Treppe ganz trocken darüber beratschlagt hatten, ob sie Andrej zur Belustigung des Kaisers vor dessen Augen zu Tode schinden sollten. Plötzlich funktionierten seine Gesichtsmuskeln doch, und er begann zu grinsen und wandte sich Rozmberka zu. „Nach dem Essen wünschen seine Majestät eine willige Möse. Oder machen Sie besser drei Mösen daraus, nicht wahr, mein lieber Rozmberka?“
Dann schnippte er Lobkowicz ein taubeneigroßes, schwarzes Ding zu, das er in der Hand gehalten hatte. Der Oberstlandrichter fing es unwillkürlich auf. „Ach“, sagte er, „die Nuss hat sich gefunden. Sie lag unter dem Kopfkissen Seiner Majestät. Sie kümmern sich doch darum, mein lieber Lobkowicz?“