Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 27
7.
ОглавлениеAGNES KNIETE VOR dem Altar. Sie versuchte zu beten, aber was immer ihr als Gebetsfloskeln einfiel, hallte in ihrem Kopf wider wie eine fremde Sprache. Eigene Worte fand sie nicht – das Einzige, was in ihr rief, war die Frage: Warum?
Der fremde Dominikanerpater – mittlerweile wusste sie, dass er Pater Xavier hieß, dass seine Verbindung zu Niklas Wiegant weit in die Vergangenheit zurückreichte und dass ihr Vater überzeugt war, dass er ihm seinen Wohlstand verdankte – war längst abgereist, doch statt dass sich die Situation gebessert hätte, war sie noch schlimmer geworden. Er hatte den Unfrieden in ihr Haus getragen und ihn wie einen schlechten Geruch zurückgelassen. Niklas und Theresia Wiegant waren dazu übergegangen, die Mahlzeiten getrennt einzunehmen; das hieß, Niklas und Agnes saßen allein am Tisch, während Theresia scheinbar überhaupt nichts aß und die Stube mied, sobald das Essen aufgetragen wurde. Agnes hatte ihre Mutter einmal dabei überrascht, wie sie kurz vor der Mahlzeit in der Küche hastig etwas hinuntergewürgt hatte; der Anblick hatte sie erschreckt und abgestoßen zugleich und an einen Gassenhund erinnert, der Abfälle verschlingt. Natürlich hatte Theresia aufgesehen und Agnes an der Treppe stehen sehen, und der Blick aus purem Hass, der sie getroffen hatte, hätte Agnes beinahe dazu gebracht, sich zu übergeben. Wenigstens hatte Theresia danach aufgehört, die Legende zu verbreiten, dass sie seit Wochen nichts essen konnte, weil ihre Kehle von der Falschheit und der Verlogenheit unter ihrem Dach zugeschnürt war.
Die Kirche in Heiligenstadt lag weit von ihrem Elternhaus entfernt; eine gute Stunde Fußmarsch durch die Stadt, beim Neutor hinaus und auf buckliger werdenden Pfaden nach Heiligenstadt selbst, wo manche Häuser endgültig verlassen waren und andere noch immer die dunklen Wundmale der großen Überschwemmungen aus den Jahren gleich nach Agnes’ Geburt trugen, inzwischen überlagert von den Streifen späterer, weniger dramatischer Fluten. Es war nicht immer einfach, einen Stallknecht oder jemand anderen aus dem Gesinde zu finden, der sie und ihre Magd bis dorthin begleitete und geduldig vor dem Kirchenportal wartete, bis Agnes mit ihren vergeblichen Versuchen, im Gebet Seelenfrieden zu finden, zu Ende war. Vor allem musste es jemand sein, der auch noch mit dem wenigen Geld, das Agnes ihm geben konnte, zufrieden war und nicht überall herumerzählte, welche seltsamen Expeditionen die Tochter der Herrschaft unternahm. An das tiefe Misstrauen allen Dienstboten gegenüber, das der Vorfall nach der Gumpendorfer Prozession in ihr geweckt hatte, wollte sie lieber gar nicht denken; die Überwindung, einen der jungen Männer in ihrem Haus anzusprechen, war jedenfalls groß.
Sie hätte Cyprian um seine Begleitung bitten können; doch sie wollte nicht, dass er mehr von ihrer Zerrissenheit und der Ausweglosigkeit ihrer Gedanken erfuhr, als er ohnehin schon ahnte. Dass sie von allen Gotteshäusern ausgerechnet die Heiligenstädter Kirche aufsuchte anstatt irgendeine andere in der Stadt, geschweige denn ihre Pfarreikirche, hatte ebenfalls mit Cyprian zu tun – und mit dem neugierigen Blick des Pfarrers von Sankt Johannes Baptist, ihrer Pfarrei, der ihr jetzt erst auffiel und der zweifellos damit zu tun hatte, dass ihre Mutter ihm schon vor langer Zeit gebeichtet hatte, was es mit ihrer vermeintlichen Tochter auf sich hatte.
Sie merkte, dass sich hilflose Wut in ihre Gedanken schlich. Wut auf ihren Vater, der seit dem Besuch von Pater Xavier nicht mehr der Gleiche zu sein schien, Wut auf ihre Mutter, die sie, Agnes, dafür strafte, dass sie existierte, worum Agnes nicht gebeten hatte. Seufzend öffnete sie die Augen, hörte ihr Kleiderrascheln und die leisen Schritte des dünnen jungen Priesters, der in seiner eigenen Kirche weniger zu Hause schien als seine ratlose Besucherin, in all den Malen noch nicht einmal den Mut aufgebracht hatte, die fremde junge Frau anzusprechen und sie nach ihrem Leid zu fragen; der dünne junge Priester besaß Bildung und wusste, dass der Gralskönig durch eine mitleidvolle Frage erlöst worden war, so wie er wusste, dass er nicht den Schneid hatte, Parzival zu sein, noch nicht einmal, was diese unglückliche junge Dame betraf. Als Agnes zum allerersten Mal hier gewesen war, war der Priester ein anderer gewesen; der Boden in der Kirche war noch vom Hochwasser aufgerissen gewesen, und die paar Jahre seit der großen Flutkatastrophe hatten es nicht vermocht, den Geruch nach schalem Wasser, Schlick und faulem Tang zu löschen, der sich in den Putz eingegraben hatte und den sie selbst heute zu ahnen vermochte. Die Tür hinter dem Altar war offen gewesen – eine Einladung, wenn es je eine gegeben hatte …
Im Alter von zehn Jahren hatte Agnes Wiegant – geborgen in der Liebe ihres Vaters, sicher in der gleich bleibend kühlen Effizienz ihrer Mutter und angeregt durch die Freundschaft mit Cyprian – zum ersten Mal die Geschichte gehört, wie aus einer in heiligem Eifer begangenen Freveltat die Katastrophe erwuchs, die die Heiligenstädter Kirche einst verschlingen würde.
„Aber sie ist doch gar nicht untergegangen“, hatte sie gesagt.
„Ich weiß“, erwiderte Cyprian. „Aber nur ganz knapp nicht. Und außerdem sind viele Häuser in Heiligenstadt, Hütteldorf und Penzing überschwemmt worden, und es sind so viele Leute ertrunken, dass die Leichen noch in Preßburg angeschwemmt wurden. Daher haben alle geglaubt, der Untergang der Kirche sei gekommen, und es hat Monate gedauert, bis sich die Bewohner von Heiligenstadt wieder zurückwagten. Manche sind bis heute nicht zurückgekehrt.“
„Hat jemand die schwarzen Fische gesehen, die mit den feurigen Augen?“
Cyprian zuckte mit den Schultern.
„Und die zu Stein erstarrte böse Frau?“
„Agnes, es war doch nur eine normale Überschwemmung. Sie war noch nicht mal an Pfingsten. Wenn der schwarze See die Kirche verschlingt, wird es an einem Pfingstsonntag sein.“
„Erzähl mir die Geschichte noch mal!“
Die Geschichte war diese: wo heute Wien und die Nachbargemeinden lagen, hatte sich in heidnischen Zeiten eine große Ansiedlung befunden, die sich um ein wichtiges Heiligtum gebildet hatte – eine Quelle, in der die Heiden eine Gottheit sahen, die sie anbeteten und die von einem großen Stein geschützt wurde. Der heilige Severin ließ die Quelle zuschütten und den Stein umstürzen, obwohl ihn die Heiden anflehten, das Heiligtum unversehrt zu lassen; sie würden auch ohne diesen Frevel zu dem neuen Glauben übertreten, den der Missionar mitgebracht hatte. Severin, der um die Macht von Symbolen wusste, verschloss sich den Bitten und ließ auf den Ruinen des Heiligtums eine christliche Kirche errichten.
Doch die Quelle sprudelte weiter – unterirdisch und in den Köpfen der Bekehrten. Ohne es zu wollen, hatte der heilige Severin ein viel mächtigeres Symbol geschaffen, eines, das vom Lauf der Zeiten, von Feuern, Kriegen und Erdbeben verschont bleiben würde, weil es sich in den Köpfen und Herzen der Menschen befand. Die Quelle bildete einen riesigen schwarzen See, in dem schwarze Fische schwammen, deren feurige Augen direkt bis in die Hölle zu blicken schienen.
„Hinter dem Altar der Kirche gab es eine verschlossene Tür, die zu dem schwarzen See hinabführte“, sagte Cyprian. „Nur der Pfarrer besaß den Schlüssel dafür. Aber eines Tages vergaß er, die Tür abzuschließen. Während des Gottesdienstes bemerkte eine reiche Frau diesen Umstand, und da sie neugierig war und die Messe sie langweilte, schlich sie sich zu der Tür und schlüpfte hindurch, als der Pfarrer zur Wandlung anhob und die Gemeinde die Köpfe senkte, um zu beten.“
„Der schwarze See war da!“, flüsterte Agnes.
„Der schwarze See war da. Und es war ein schwarzes Boot da, das an seinem Ufer lag. Die Frau stieg hinein und fuhr über den See; doch nach eine Weile wurde es ihr unheimlich, die schwarzen Fische kamen ihrem Boot immer näher und starrten sie an, und sie ruderte zurück zum Ufer, um auszusteigen.“
„Sie konnte das Boot nicht mehr verlassen“, sagte Agnes. Ihre Augen glänzten. „Sie war verflucht.“
„Erzähl ich die Geschichte oder du?“, fragte Cyprian, doch er lächelte.
„Die böse Frau begann zu schreien“, sagte Agnes. „So: IIIIIIIIIIEEH!“
Cyprian hielt sich die Ohren zu. Er sah sich um. Gleich würde Agnes’ Kinderfrau zur Tür hereinkommen und eine Strafpredigt austeilen, doch ohne dass Cyprian es wusste, empfing die Kinderfrau in diesem Moment selbst eine Strafpredigt wegen irgendeiner Verfehlung, die Theresia Wiegant zu Ohren gekommen war. Die beiden Kinder waren für den Moment ohne Aufsicht.
„Der Priester und die Gemeinde hörten die Schreie. Sie starrten sich an. Jeder wusste, was der andere dachte: nun passiert es – der schwarze See verschlingt uns alle! Als nach einer Weile immer noch nichts geschehen war und die Schreie immer schwächer wurden, fasste der Priester Mut. Er hob die Hostie hoch und stieg die lange Treppe hinunter, gefolgt von der Gemeinde. Sie beteten und sangen laut …“
„… doch es war zu spät …“
Agnes und Cyprian sahen sich an. Cyprian hatte die Geschichte bestimmt schon fünfmal erzählt. Die Kinder lachten sich an.
„… SIE WAR ZU STEIN ERSTARRT!“, schrieen beide gleichzeitig. „AAAAAAH!“
Cyprian erstarrte mit einem schrecklichen Gesichtsausdruck. Agnes stupste ihn an der Nase, in die Seite, versuchte ihn zu schubsen, doch Cyprian, dessen Mundwinkel zuckten, verharrte in seiner Versteinerung. Nur seine Augen rollten. Agnes lachte wie verrückt.
„Zu Hilfe“, schrie sie, „zu Hilfe, er ist zu Stein geworden, er wird noch durch den Fußboden brechen, helft mir!“
Sie hatte sich nie gefragt, warum dieser Junge, der vier Jahre älter war als sie, sich so oft mit ihr abgab, anstatt mit seinen Altersgenossen durch die Gassen zu ziehen. Cyprian war da gewesen, wenn sie lachen wollte, Cyprian war da gewesen, wenn sie weinen musste, und wenn er ging, tat er es jedes Mal mit dem Versprechen, zurückzukehren. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn dabei, wie er sich bemühte, die Pose aufrecht zu erhalten; da platzte die Kinderfrau herein, die Augen rotgeweint und hektische Flecken auf den Wangen.
„Was ist das hier für ein Lärm!“, rief sie. „Junger Herr, erschrecken Sie das Kind nicht. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie bei sich zu Hause nach dem Rechten sehen. Sehen Sie nur, das Kind ist ganz verschwitzt!“
„Das kommt vom Lachen“, protestierte Agnes, doch Cyprian war schon aufgestanden und marschierte hinaus. In der Tür drehte er sich nochmals um und zog erneut sein versteinertes Gesicht, dann schlüpfte er, begleitet von Agnes’ neuerlichem Lachanfall, hinaus …
… und ein paar Wochen später war Agnes durch die Tür hinter dem Altar in der Heiligenstädter Kirche geschlüpft. Die Tür war offen gewesen … Der junge, schweigsame Pfarrer hatte ihrer Versicherung geglaubt, ihre Eltern würden gleich nachkommen, und war weiterhin schweigsam und wie ein Schatten in die Sakristei gehuscht, so dass es schien, als gehöre er gar nicht hierher. Neben dem Altar standen brennende Unschlittkerzen und sagten: nimm uns mit … und Agnes ging den schwarzen See mit der versteinerten Frau suchen.
Dass ihr Elternhaus Kopf stand und die halbe Kärntner Straße schon nach ihr abgesucht worden war, kam ihr nicht in den Sinn. Dass sie eine für ein Kind ungeheure Strecke zurückgelegt hatte und ihre ständigen Fragen nach dem richtigen Weg nach Heiligenstadt nur durch viel Glück stets korrekt beantwortet worden waren, war ihr nicht klar. Sie stieg vorsichtig die Treppe hinunter, das Licht von der offenen Tür sickerte hinter ihr her die Stufen hinab und blieb mit jedem Schritt, den sie machte, ein Stückchen zurück. Von unten herauf stieg eine Kühle, die sie überraschte, und ein trockener Modergeruch, der sie schlucken ließ. Sie glaubte das Glucksen von Wasser zu hören und das schwere, träge Plätschern, das die schwarzen Fische machten, wenn sie an die Oberfläche kamen, um mit ihren Feueraugen in die Dunkelheit zu starren. Die Kälte strich um ihre Beine, unter ihr Kleid und an ihrem Leib hinauf. Die Kerze flackerte, aber ihre Hand schützte sie vor dem Luftzug. Die Treppenstufen waren aus hellem Stein und schimmerten in die Tiefe hinunter wie ein Finger, der sie lockte. Sie räusperte sich – das Geräusch fiel in die Finsternis hinein und kam als verzerrtes Echo wieder zurück. Agnes blickte über die Schulter – der breite helle Spalt der Tür war überraschend nahe; mit zwei, drei Sprüngen hätte sie ihn erreichen können. Sie starrte wieder zurück in den Abgrund. Schließlich fasste sie sich ein Herz und stieg weiter hinab.
Es war beinahe vollkommen dunkel, als die Treppe aufhörte und in einen mit buckligen Steinen ausgelegten Gang überleitete, dessen Wände links und rechts narbig, kalt und trocken waren. Agnes erschauerte in der Kühle. Voraus konnte sie überhaupt nichts erkennen. Sie hielt die Kerze hoch. Die Flamme flackerte weiterhin hektisch – aus der Tiefe drang eine stetige, modrige Brise. Sie spähte erneut zur Tür zurück. Der breite Spalt war immer noch von beruhigender Größe. Sie hatte vielleicht das Äquivalent eines Stockwerks zurückgelegt auf ihrem Weg in die Tiefe hinunter; es war ihr länger erschienen, und die Kälte schien zu sagen, dass sie tief unter der Erde war, doch ein Stück der kühlen Vernunft, die der Umgang mit Cyprian in ihr geweckt hatte, sagte: Die Kirche steht auf einem kleinen Hügel, du bist wahrscheinlich kaum unterhalb des Gassenniveaus der Ansiedlung darum herum.
Dann flackerte etwas außerhalb der Tür wie große Schwingen und warf seinen Schatten bis zu ihr herunter, jegliche Vernunft verließ sie innerhalb eines Lidschlags und rann zu ihren Füßen aus ihr hinaus, und die Tür fiel zu und dröhnte in ihren eigenen Herzschlag hinein. Sie schrie auf. Die Kerzenflamme legte sich quer, verlosch zu einem kümmerlichen blauen Glosen, spuckte und stotterte … Agnes stierte sie an und vergaß, weiter zu schreien … und erholte sich wieder. Die Dunkelheit außerhalb der Flamme war vollkommen. Agnes krallte ihre Zehen in die Schuhe und wimmerte. Ihre Blase verkrampfte sich und ließ ein paar Tropfen warmer Flüssigkeit an ihren Beinen hinab rinnen, die sie aufschreckten wie Finger, die daran entlangfuhren. „Nein“, flüsterte sie, „nein, nein, nein…“ Ein Geräusch erklang, das noch schlimmer war als das Dröhnen der zugeschlagenen Tür: das Herumdrehen eines Schlüssels im Schloss.
Sie war eingesperrt.
Das Echo des umgedrehten Schlüssels kam aus der Tiefe zurück und kreischte wie die Frau, die im See zu Stein erstarrte.
Agnes wich zurück, ohne dass es ihr bewusst war. Ihr Atem pfiff in der Dunkelheit. Sie hatte zuletzt zur Treppe hinaufgestarrt – ihr Rückzug führte sie nun tiefer in den Gang hinein. Die Finger der linken Hand fuhren an der Wand entlang; die Rechte umklammerte die Unschlittkerze, dass diese sich zu verbiegen begann. Die Finger der Linken trafen auf Rillen und Erhebungen, die wie eine Landschaft wirkten. Unwillkürlich leuchtete sie die Wand mit der Kerze an.
Eine Fratze sprang ihr entgegen.
Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand prallte. Aus der einen Fratze wurden drei; drei Mäuler voller Zähne, drei Paare geblähter Nüstern, drei böse Augenpaare, gesträubtes Fell, mächtige Tatzen, ein schuppiger Schwanz – drei Köpfe von Monstren auf dem Körper eines Hundes, der groß war wie der eines Stieres. Mit dem flackernden Kerzenlicht schienen die Köpfe hin und her zu pendeln und die Augen zu funkeln.
Agnes kreischte und wirbelte herum, floh in den Gang hinein. Die Kerzenflamme kämpfte ums Überleben. Die Wände des Gangs verbreiterten sich jäh zu einer Höhle, zu einer gewaltigen Kammer voller wuchtiger Schatten und dunklen Nischen, zu riesigen Sarkophagen, deren Deckel herabgefallen waren und aus denen vom Alter dünn gewordene Stoffbahnen hingen wie uralte Spinnweben und sich ihr entgegenzustrecken schienen. Die Nischen waren Augenhöhlen, Mäuler, Schlünde, in denen etwas war, das sich nicht genau erkennen ließ, etwas, das sie zucken und herausquellen und über den Boden auf sich zu kriechen sah. Jenseits der Höhle ging der Gang weiter, absolute Finsternis, der Gestank von Moder und Zersetzung, die Schwärze einer seit Jahrhunderten lichtlosen Dunkelheit, ein vergessener Eingang zur Hölle, über dem das Wort von der vergeblichen Hoffnung nicht stand, weil niemand in seinem Angesicht auch nur einen Gedanken an Hoffnung verschwendet hätte. Ihr Fuß stieß an etwas. Sie sah hinunter.
Sie hatte noch nie einen Totenschädel gesehen, außer auf Fresken oder Reliefs. Sie war nicht vorbereitet auf den bohrenden Blick aus den schwarzen Augenhöhlen, auf die gebleckten Zähne, auf den braun verfärbten Knochen. Ihr Herz setzte aus. Ihr Fuß zuckte. Der Schädel rollte auf die Seite, beschrieb einen kleinen Halbkreis und stieß an ihren anderen Fuß, das Gesicht nach oben, die Augenhöhlen vorwurfsvoll starrend.
Agnes schrie auf. Ihr Körper reagierte, weil ihr Geist wie gelähmt war – ihr Fuß trat zu und schoss den Schädel davon. Von der Bewegung verlosch die Kerze endgültig. In der über sie herfallenden Dunkelheit hörte sie den Schädel an die Wand prallen und zersplittern, hörte das Klinkern der Knochensplitter, das sich ihr zu nähern schien, so als ob all die Bruchteile zu ihr hin kröchen, um sie für ihren Sakrileg zu bestrafen.
Sie stand stocksteif. Ihre Finger krallten sich in die Kerze, zerbrachen sie, das heiße Unschlitt schwappte heraus und verbrannte sie, ohne dass sie es merkte. Sie wollte kreischen, aber sie konnte nicht; sie wollte um Hilfe rufen, aber heraus kam nur ein lautloses Keuchen. Sie hörte das Glucksen des schwarzen Sees und die Bewegungen der schwarzen Fische aus dem Eingang zur Hölle heraustönen, sie hörte das Stöhnen der versteinerten Frau (Komm zu mir, Kind, hilf mir, Kind, komm zu mir, komm, komm, komm); sie kniff die Augen zusammen und sah das Funkeln der Feueraugen hinter ihren Lidern, vernahm das Flehen der im Stein gefangenen Seele, die um Erlösung bat und gleichzeitig eine weitere Seele ins Verderben locken wollte, die flüsterte und ächzte und weinte und drohte, und erstarrte selbst zu Stein, erstarrte, erstarrte, verlosch …
„Kann ich dir helfen, meine Tochter?“, fragte der Pfarrer, der von irgendwoher doch den Mut gefunden hatte, die vor dem Altar knieende Fremde endlich anzusprechen und so angespannt vor ihr stand, dass jede heftigere Zurückweisung ihn klafterweit hätte davonschnellen lassen.
Agnes fiel aus der Dunkelheit in ihren Körper zurück und blinzelte. Vor ihren Augen hing das besorgte, blasse, magere Jungengesicht des Pfarrers. Es verschwamm vor ihrem Blick. Überrascht erkannte sie, dass sie geweint hatte. Etwas in ihr bäumte sich gegen die Anrede auf und wollte hasserfüllt rufen: Ich bin niemandes Tochter!, aber der Wunsch, dass dem nicht so wäre, war zu groß und die Rufe aus der Vergangenheit zu laut.
Irgendwann nach all den grauenhaften Stunden, in denen sie als kleines Mädchen in der Finsternis gewesen war und zu sterben geglaubt hatte, hatte eine Hand sie an der Schulter gerüttelt. Sie hatte die Augen geöffnet und die Helligkeit einer Tranlampe gesehen, die auf Cyprians Gesicht schien. Sie lag auf dem Boden, eingerollt wie ein sterbendes Tier, die zerbrochene Kerze an den Körper gepresst.
„Die steinerne Frau war hier“, flüsterte sie. „Sie hat mich gerufen, Cyprian, und ich hab die Fische gehört und den schwarzen See und …“
„Ja“, sagte Cyprian und sah sich um. „Ja, natürlich.“
„Sie hat gesagt, dass ich nicht hierher gehöre“, wisperte Agnes und packte Cyprians Arm. „Dass ich lebe, obwohl ich tot sein müsste, und dass ein schwarzer Mann auf mich wartet, um mich in die Hölle mitzunehmen …“
„Was versteinerte alte Weiber eben so reden“, sagte Cyprian, aber Agnes spürte die Gänsehaut, die über seinen Körper lief. Der Pfarrer machte ein Gesicht, halb Missbilligung, halb Sorge. Mit einem schwachen Aufblitzen von Überraschung erkannte Agnes, dass er alt und robust war und in keiner Weise dem Mann ähnlich sah, den sie oben zu sehen geglaubt hatte.
„Normalerweise sperre ich immer ab, damit niemand die Ruhe der Toten stört …“, sagte er.
„Schon gut“, sagte Cyprian. „Komm, Agnes, gehen wir nach Hause.“
Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie und ließ sich in die Höhe ziehen. Ihre andere Hand hielt die Kerze; verwirrt gab sie sie dem Pfarrer und registrierte erstaunt, dass das Unschlitt immer noch weich war.
„Als man dich nirgendwo finden konnte, ist mir die Geschichte eingefallen, die du so oft hören wolltest“, sagte Cyprian. „Ich bin so schnell ich konnte hier herausgelaufen. Hochwürden kam gerade aus der Kirche heraus …“
„Dein Schutzengel hat meine Wege geleitet, Kleine“, sagte der Pfarrer. „Ich wollte eben einen Gang durch die Gemeinde tun, dann hätte dein Freund hier für Stunden niemanden vorgefunden. Er nötigte mich, den Schlüssel aus der Sakristei zu holen, und da fiel mir ein, dass ich die Tür eben abgesperrt hatte und dass ich mich gar nicht erinnern konnte, sie überhaupt offen gelassen zu haben … Nun, gut, dass du nicht hinter die zweite Tür vordringen konntest. Dahinter beginnt ein Labyrinth, in dem wir dich niemals wieder gefunden hätten.“
„Da war keine zweite Tür“, sagte Agnes.
„Die Tür hier gegenüber“, sagte der Pfarrer. Er wies in die Dunkelheit. „Gut, dass du sie gar nicht entdeckt hast.“
„Sie war offen …“
„Sie ist zu“, sagte Cyprian. „Sieh selbst.“ Er leuchtete mit der Kerze. Ein Tor, das im Zugang einer Festung nicht fehl am Platz gewesen wäre, versperrte den Weg. Agnes starrte sie an.
„Es war offen“, flüsterte sie. „Ich habe gehört, wie die versteinerte Frau mich aus dem Gang heraus gerufen hat. Stundenlang …“
„Du warst keine zehn Minuten hier unten“, sagte Cyprian und grinste, während er sie am Arm die Treppe hoch führte.
„… hat die versteinerte Frau mich gerufen.“
„Das ist der Wind“, sagte der Pfarrer. „Hier unten weht dauernd der Wind. Deshalb haben sich die Überreste der armen Teufel auch so gut erhalten. Die Gräber sind schon lange geplündert, aber ein paar Knochen sind noch da, und jeder Pfarrer der Heiligenstädter Kirche macht es zu seiner Aufgabe, über die Totenruhe zu wachen. Ich bin kein gebildeter Mann, aber ich nehme an, die Toten stammen noch aus den Zeiten der römischen Cäsaren. Heiden, wenn ihr versteht, was ich meine, aber sie liegen schon so lange hier unten und die Kirche steht schon so lange auf ihren Gebeinen, dass Gott der Herr ihnen bestimmt verzeihen wird.“
„Meine Tochter?“ Die Hand des jungen Pfarrers schwebte über ihrer Schulter, aber der Mut fehlte, die Schulter zu berühren.
Agnes hatte nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass sie jemals einen anderen zum Mann nehmen würde als Cyprian Khlesl. Es schien vorbestimmt gewesen zu sein; so vorbestimmt, dass sie nie klar darüber nachgedacht hatte, was sie für ihn empfand. Es war so klar, dass sie nicht einmal mit ihren Eltern darüber gesprochen hatte, und dass ihre Eltern ebenfalls nie darauf zu sprechen gekommen waren, hatte ihr den Eindruck vermittelt, dass sie es genauso sahen wie Agnes. Und jetzt … wie konnten ihr Vater und ihre Mutter auch nur im Entferntesten der Meinung sein, dass es nicht Cyprian war, für den sie bestimmt war? Cyprian, der stets zur Stelle gewesen war, wenn sie in Schwierigkeiten steckte, von der Affäre mit der festgefrorenen Zunge über den Ausflug in die Katakomben unterhalb der Heiligenstädter Kirche und über weitere ungezählte Episoden hinweg bis letztens, als er den Pestkranken gemimt hatte, um sie vor den protestantischen Schlägern zu retten? Es konnte ihnen doch nicht egal sein, was er in all den Jahren für Agnes getan hatte! Abgesehen davon, dass Niklas und Theresia Wiegant die meisten Vorfälle gar nicht bekannt waren, weil Agnes nie die Notwendigkeit gesehen hatte, sie darüber zu informieren. Cyprian war ihr beigesprungen und hatte sie gerettet, und das hatte genügt.
Sie war nicht naiv – sie wusste, dass die Reihenfolge normalerweise umgekehrt war: die Heirat kam zuerst, und mit der Zeit kam auch die Liebe oder wenigstens Zuneigung … oder zumindest Gleichgültigkeit und das gemeinsame Streben nach Vermehrung des Gewinns, wenn schon nichts anderes. Umso heftiger wünschte sie sich, dass sich an ihnen die Ausnahme von der Regel beweisen sollte. Tief in ihrem Herzen ahnte sie, dass auch bei der Verbindung ihrer Eltern die Emotion eine größere Rolle gespielt hatte als die Berechnung; Niklas Wiegant war der Erbe eines schon zu Zeiten seines Großvaters erfolgreichen Handelshauses gewesen, Theresia die dritte Tochter eines weitaus weniger wohlhabenden Grundbesitzers – wenn es stimmte, dass nach der einen Fehlgeburt die Kinder ausgeblieben waren, wäre es ein Leichtes für Niklas gewesen, seine Frau zu verstoßen. Er war jedoch bei ihr geblieben, hatte sogar durch ihre Wandlung zur verbitterten Tyrannin hindurch zu ihr gehalten … war vielleicht nicht immer treu gewesen, Agnes’ schiere Existenz schien es zu beweisen, ha ha ha! ... Und wenn das nicht auf Liebe hindeutete, was dann? Warum waren sie dann beide gegenüber Agnes’ Gefühlen so taub?
Plötzlich sah sie die Lösung vor sich. Wenn bei der üblichen Gestaltung von Heiratsabkommen die Berechnung zuerst kam und die Gefühle sich danach zu richten hatten – warum sollte sie dann den Spieß nicht einmal umkehren und mit der kühlen Berechnung ihren Gefühlen zum Sieg verhelfen?
Cyprians Vater, der Bäckermeister, mochte gesellschaftlich unter den Wiegants stehen, doch sein Bruder war immerhin seit ein paar Jahren Administrator der Diözese von Wiener Neustadt und neuerdings zum Hofkaplan ernannt worden, und zumindest für Agnes’ Mutter musste es von immenser Bedeutung sein, einen kirchlichen Würdenträger in die Familie zu bekommen. Für ihren Vater wiederum – wer konnte schon behaupten, mit dem Mann verschwägert zu sein, der über den Bruder des Kaisers, Erzherzog Mathias, eine direkte Verbindung zum Kaiserhof hatte? Wer würde wohl Aufträge zuerst erhalten – Niklas Wiegant, der unbekannte, um den Fortbestand seiner Firma kämpfende Kaufmann; oder Niklas Wiegant, der Hoflieferant? Sie erinnerte sich daran, wie Cyprian sie die Treppe hinaufgeführt hatte, aus den Katakomben hinaus und zurück ans Licht, und empfand plötzlich das gleiche Gefühl wie damals für ihn, nur viel überwältigender und heftiger. Beinahe hätte sie sich umgewandt und wäre nicht erstaunt gewesen, ihn hinter sich stehen zu sehen, so nahe fühlte sie sich ihm – doch dieses eine Mal war sie auf sich gestellt und würde es bleiben, würde ihre eigene Entscheidung fällen.
Agnes stand auf. Der junge Pfarrer wich zurück. Agnes deutete auf die Tür hinter dem Altar. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Darf ich die alten Gräber sehen, Hochwürden?“
Der Adamsapfel des jungen Pfarrers zuckte. „Was für Gräber?“
„Die in den Katakomben hinter dieser Tür. Die der römischen Heiden.“
Der Blick des Pfarrers zuckte zwischen ihr und der Tür hin und her. Seine Lippen arbeiteten, während sein Gehirn verzweifelt nach einem Ausweg suchte, um ihr keine ablehnende Antwort geben zu müssen. Sein Gehirn versagte. „Es gibt hier keine Katakomben“, brach es aus ihm heraus.
„Unsinn“, sagte Agnes, ohne daran zu denken, wie man sich einem Pfarrer gegenüber auszudrücken hatte. „Ich hab sie mit eigenen Augen gesehen, als ich ein Kind war.“
„Es gibt hier keine Katakomben“, winselte der Pfarrer.
Agnes schritt am Altar vorbei und zu der Tür. Der Pfarrer sprang neben ihr her. Agnes drückte die schwere alte Klinke hinunter. Die Tür ächzte und schwang einen Spaltbreit auf. Agnes zog an ihr, bis sie ganz offen war, dann trat sie in die Öffnung und starrte hinunter.
Die Treppe führte eine Mannslänge nach unten und endete auf dunkelgrau-rissigem Schlammboden. Man konnte, wenn man sich duckte, ein paar Schritte tun und endete dann an einer Wand. In einer Ecke stand ein kleines Fass; in einer Holzkiste lagen welke Kohl- und Rübenstrünke. Agnes blinzelte, aber der Anblick verging nicht.
„Da unten ist es kühl, deswegen kann man Vorräte…“, stotterte der Pfarrer. „Wenn meine Pfarrkinder mir etwas spenden …“
„Die Treppe führte viel weiter hinab“, sagte Agnes wie im Traum.
„Ich bin erst seit einem Jahr hier“, erklärte der Pfarrer. „Als ich ankam, war mein Vorgänger schon gestorben. Ich weiß nichts von Katakomben, und niemand hat mir etwas darüber erzählt. Aber ich weiß, dass vor ein paar Jahren noch einmal eine große Überschwemmung war, gleich im Frühjahr nach der Schmelze, und dass der Schlamm in den Gassen der Stadt an manchen Stellen bis zu den Knien ging. Vielleicht … wenn dort drunten irgendetwas war, dann ist es jetzt …“
… endgültig begraben, dachte Agnes. Die toten Heiden, die armen Teufel hatten jetzt endgültig ihre Ruhe. Wie es schien, hatte Gott der Herr ihnen tatsächlich verziehen. Agnes starrte hinab. Der Gedanke weckte keinen Frieden in ihrem Herzen. Es war, als hätte es den Weg, den Cyprian sie zurück ins Licht geführt hatte, nie gegeben.