Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 11

2.

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„Wir machen es wie immer“, hatte Andrejs Vater am Vorabend in der Herberge gesagt. „Ich gehe vor und rede mit den Mönchen. Ich bin sicher, dass ich sie bequatschen kann, mich in die Bibliothek zu führen. Wenn ich den Codex finde, schnappe ich ihn mir; wenn ich an seiner Stelle was anderes finde und wir es zu Geld machen können, schnappe ich es mir auch. Dann renne ich raus und stoße draußen mit deiner Mutter zusammen. Sie wird so tun, als versteckte sie was. Währenddessen … was passiert währenddessen, mein Junge?“

„Sie rennen an meinem Versteck vorbei und werfen mir die Beute zu“, leierte Andrej herunter. „Dann laufen Sie zum Tor hinaus und tun so, als würden Sie hinfallen. Während die Leute Sie und die Frau Mutter durchsuchen und nichts finden, schleiche ich mich mit der Beute zu unserem Quartier.“

„Der Kleine ist ein Naturtalent.“ Andrejs Vater strahlte.

„Du bringst deinem eigenen Kind das Stehlen bei“, sagte Andrejs Mutter. „Stehlen ist eine Sünde und hat nichts mit der Wissenschaft zu tun.“

„Dass man Forscher wie unsereinen zwingt zu stehlen, um an das Wissen zu kommen, das man braucht – das ist eine Sünde!“, erwiderte Andrejs Vater. „Wenn man ein Unrecht mit einem anderen vergilt, hebt es sich auf. Das ist ein wissenschaftliches Faktum!“

„Gegensätze heben sich auf“, sagte Andrejs Mutter. „Wasser löscht Feuer. Eine volle Schüssel füllt einen leeren Magen. Recht besiegt Unrecht.“

„Du verstehst nichts von den Geheimnissen der Wissenschaft“, sagte Andrejs Vater und begann auszurechnen, ob die Sterne seinem Vorhaben günstig gestimmt wären. Andrej, der ihm dabei zusah, hörte ihn leise vor sich hinmurmeln: „Wenn der Codex hier wäre … das wäre was … wenn ich ihn morgen finde … alles Wissen der Welt … alle Weisheit des Teufels …“

„Herr Vater?“

„… die Geheimnisse, die Moses vom Berg Sinai mitbrachte und nicht verriet …“

„Herr Vater?“

„Hm?“

„Was ist ein Codex?“

Andrejs Vater war kein schlechter Mensch. Wenn er einer gewesen wäre, hätte er seine Frau und sein Kind schon vor Jahren ihrem Schicksal überlassen und wäre seinem Traum alleine nachgejagt. Er mochte ein Dieb sein, wenn man ihm nicht freiwillig gab, was er zu benötigen meinte, und er mochte ein Betrüger sein, wenn die Leute leichtgläubig genug waren, sich von ihm betrügen zu lassen – doch was er tat, tat er um eines hehren Zieles willen: der Wissenschaft.

Er schaute auf, musterte seinen Sohn und war wie stets nicht imstande, sich seinen Stolz auf ihn nicht anmerken zu lassen.

„Ein Codex … das sind viele Blätter, die man zusammengebunden hat, so dass man sie umschlagen und hintereinander lesen kann. Etwas, das man mitnehmen kann, ohne dass man eine ganze Truhe voller Schriftrollen mit sich führt.“

„Warum ist dieser Codex so wichtig für uns?“

Der alte Langenfels grinste plötzlich. Er rubbelte seinem Sohn durch die Haare. Dann lehnte er sich zurück und holte Atem.

„Es ist die Geschichte eines Mönchs, der den Glauben verlor. Und der eine schreckliche Sünde auf sich geladen hatte.“

Andrej starrte ihn an.

„Das war vor vierhundert Jahren. Vierhundert Jahre sind eine lange Zeit, mein Sohn, und wer damals lebte, von dem ist heute nur noch Staub übrig – Staub, eine Geschichte und ein Buch. Das mächtigste Buch der Welt.“ Der alte Langenfels beugte sich nach vorn, damit seine Frau ihn nicht hören konnte. „Was verleiht den Menschen die größte Macht?“

Andrej wusste, was seine Mutter geantwortet hätte, wenn sie dem Gespräch gefolgt wäre: der Glaube. Er wusste auch, was sein Vater hören wollte. „Wissen“, flüsterte er.

Andrejs Vater nickte. „Der Mönch war bereit, Buße zu tun. Eine Buße, die ebenso schrecklich war wie seine Schuld.“

„Was hatte er getan?“, flüsterte Andrej mit weit aufgerissenen Augen.

„Die Gemeinschaft, in der dieser Mönch diente, lebte in einem Kloster, das weit und breit berühmt war für seine Bibliothek. Viele der Werke dort waren so alt, dass niemand wusste, woher sie kamen oder wer sie geschrieben hatte; und nur die wenigsten hatten auch nur eine vage Ahnung von ihrem Inhalt. Die Traktate der ersten Päpste, die Briefe der Apostel, die römischen und griechischen Philosophen, die ägyptischen Priester, die Schriftrollen der Israeliten, die in der Bundeslade verwahrt waren … Von all dem gab es Abschriften in dieser Bibliothek. Und der Mönch, von dem wir sprechen, war der einzige Mensch, der sie alle kannte.“

„Er hat sie alle gelesen?“

„Er konnte sie alle auswendig, so intensiv hatte er sie studiert! Aber weißt du, mein Sohn, das Wissen verträgt sich nicht mit jedem Geist. Man muss ein Wissenschaftler sein, um nicht vor den Geheimnissen zu erschrecken, die hinter den Dingen liegen, und manches Wissen sollte nur solchen Leuten zuteil werden, die damit auch umgehen können. Der Mönch jedoch war ein einfacher Mann. Als er alles studiert hatte, was sich in der Bibliothek befand, machte er sich auf die Suche nach neuem Wissen. Es heißt, dass er schließlich ein Buch fand, versteckt in einer Höhle, eingemauert in einer Nische, verborgen vor der Welt … und es wäre besser für ihn gewesen, wenn er es nie gefunden hätte. Besser für ihn – aber sein Verderben und das der anderen machte der Welt das größte Geschenk.“

„Sein Verderben?“

„Um dieses einen Buches willen ermordete er zehn seiner Mitbrüder.“

Das rauchige Licht in der Schankstube schien sich zu verdunkeln, die Schatten traten plötzlich deutlicher hervor. Andrejs Blicke saugten sich an einer Gestalt fest, die eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte wie ein Mönch und allein für sich an einem Tisch saß. Die Schatten schienen sich um sie herum zusammenzuballen. Andrejs Mund wurde trocken. Dann trat eine weitere Gestalt hinzu. Die Kapuze wandte sich um und offenbarte das Gesicht einer jungen Frau, die den Neuankömmling anlächelte und seine Hand nahm, als er sich neben sie setzte.

„Ein Wissenschaftler, mein Sohn“, sagte der alte Langenfels, „betrachtet jede Erkenntnis, die ihm zuteil wird, als ein neues Licht in der Dunkelheit der Ignoranz. Der Mönch jedoch … Nachdem er dieses letzte Buch gelesen hatte, verstand er plötzlich, was in all den anderen gestanden hatte. Er sah das letzte kleine Licht verlöschen, das in der Dunkelheit seiner eigenen Welt brannte, das Licht des Glaubens. Als es aus war, umgab ihn Finsternis.“

„Aber es war doch nur ein Buch …“

„Es war eben nicht ‚nur’ ein Buch! Wer weiß, was in diesem Traktat stand, das jemand vor der Welt versteckt hatte? Vielleicht war es das, was Gott Moses verboten hatte zu schreiben? Vielleicht waren es die Erkenntnisse, die Adam festhielt, als er vom verbotenen Baum gegessen hatte? Unterschätz nie die Macht von Büchern, mein Sohn!“

„Warum hat der Mönch seine Mitbrüder getötet?“

„Ihnen war seine Verwandlung aufgefallen. Sie stellten ihn zur Rede, und als er schwieg, machten sie sich auf den Weg in die Bibliothek, um nachzusehen, weshalb ihn seine Studien dort so verändert hatten. Aber der Mönch wollte nicht, dass jemand das Wissen, das er erworben hatte, mit ihm teilte, und versuchte sie aufzuhalten …“

„Vielleicht wollte er die anderen nur beschützen, damit sie nicht ebenfalls ihren Glauben verloren, Vater?“

„Ja, Söhnchen, wer weiß? Aus guter Absicht entsteht ebensoviel Böses wie aus schlechter. Jedenfalls … es gab einen Kampf, eine Fackel fiel zu Boden, eine Ölschale wurde umgestoßen, was weiß ich … Die Bibliothek fing Feuer. Alles brannte auf einmal lichterloh. Als der Mönch sah, dass er die Bücher nicht retten konnte, floh er, verschloss die Tür hinter sich und überließ seine Mitbrüder den Flammen. Sie kamen elend darin um.“

Andrej schluckte und schüttelte sich.

„Der größte Teil des Klosters konnte gerettet werden, aber die Bibliothek brannte völlig nieder. Der Mönch ging zu seinem Abt und gestand alles. Als Buße bat er sich aus, seine Erkenntnisse niederzuschreiben und so all das Wissen, das er aus der Bibliothek gewonnen hatte und das im Feuer verloren gegangen war, zu erhalten. Als der Vater Abt ihn fragte, worin in dieser Tat die Buße bestand, sagte der Mönch, er wolle dazu eingemauert werden. Während seines langsamen Verschmachtens wollte er das Werk schreiben, und mit seinem letzten Seufzer wollte er das letzte Wort festhalten. Dann mochten sie seine Zelle wieder aufbrechen, seinen Leichnam begraben und das Buch aufbewahren.“

„Das ist aber schlimm“, flüsterte Andrej.

„Ja“, sagte sein Vater. „Das war die grässlichste Buße für eine Sünde wie die seine, die man sich ausdenken konnte. Der Abt willigte ein. Doch schon am Abend des ersten Tages wusste der Mönch, dass er mit seinem Werk nie zu Ende kommen würde, bevor er starb, und er verzweifelte.“

„Hat ihn der Abt wieder herausgelassen?“

„Nein.“

„Oder ihm wenigstens Essen und Trinken gegeben, damit er länger durchhielt?“

„Andrej, der Mann war eingemauert worden. Was er drinnen tat oder was immer er rief, konnte draußen niemand hören. Sie würden die Zelle erst wieder aufbrechen, wenn soviel Zeit vergangen war, dass er mit Sicherheit tot war.“

„Aber was konnte er denn tun, der arme Mönch?“

Andrejs Vater lächelte kaum merklich. „Er betete.“

„Aber …“

„Genau. Wie konnte er beten, wenn er doch den Glauben verloren hatte? Weißt du, um sich die Zuversicht an das Gute zu bewahren, braucht man den Glauben. Um sich klarzumachen, dass es auch das Böse gibt, braucht man ihn nicht – das weiß man, wenn man auch nur ein Zipfelchen der Welt kennt.“

„Heißt das …“

„Ja. Der Mönch betete zum Teufel.“

„Heilige Maria Mutter Gottes, beschütze uns vor allen bösen Geistern“, stieß Andrej hervor und klang dabei wie seine Mutter. Sein Vater verdrehte die Augen.

„Es heißt“, sagte er schließlich, „dass der Teufel zu dem Mönch in die Zelle kam. Aber das Böse kommt ja immer schneller zu einem als das Gute, also halte ich das nicht für unwahrscheinlich. Der Teufel erbot sich, dem Mönch zu helfen und das Werk für ihn zu schreiben. Dafür wollte er noch nicht mal eine Belohnung; die Seele des Mönchs gehörte ihm ohnehin, und dass die meisten, die das Werk lesen würden, ebenfalls vom Glauben an Gott abfallen und sich ihm zuwenden würden, war ihm Lohn genug. Der Mönch offenbarte dem Teufel sein Wissen, und der Fürst der Hölle machte sich an die Arbeit. Als der Mönch am nächsten Morgen aus einem unruhigen Schlaf erwachte, lag das Buch fertig geschrieben auf dem Pult.“

Andrej schwieg.

„Aber …“, sagte sein Vater.

„Aber was?“

„Der Mönch hatte den Teufel hereingelegt.“

Andrej keuchte überrascht.

„Der Mönch wusste, dass der Teufel alles verdrehen würde, was er ihm offenbarte, und dass es dem Teufel nur darum ging, mit der Verbreitung des Wissens Verderben zu säen. Also setzte sich der Mönch hin und versteckte auf drei Seiten in dem Buch den Schlüssel zu all den verdrehten, verderbten Worten, die der Teufel niedergeschrieben hatte; er lieferte die Aufklärung dazu, wie man dieses Testament des Satans verstehen musste. Dann zeichnete er in die Mitte des Buches ein Bild des Teufels, um alle zu warnen, die sich damit abgaben, legte sich hin und starb. Als nach vielen weiteren Tagen die anderen Mönche die Mauer durchbrachen, waren sie entsetzt. Das Buch lag dort wie versprochen, aber der Leichnam ihres Mitbruders war so verbrannt, wie es die anderen gewesen waren, die er zum Tod in den Flammen verdammt hatte.“

Andrej gab einen erschreckten Laut von sich. Die Augen seines Vaters glitzerten im Schein der wenigen Talglichter, die in der Herberge flackerten und ihren Teil zu dem Geruch von verbranntem Essen beitrugen, der unter der Decke hing. Die meisten anderen Herbergsbesucher hatten sich in den Schlafraum zurückgezogen oder schnarchten, über die Tische hingestreckt, in der Schankstube.

„Wer besonders würdig oder besonders weise war, durfte in dem Buch studieren“, flüsterte Andrejs Vater. „Was glaubst du, woher all die Fortschritte kamen, all die neuen Ideen, die immer wieder im Dunkel der Zeit aufblitzten? Was glaubst du, woher das erste alchimistische Wissen kam?“

„Aus dem Buch …?“

„Und woher all die schrecklichen Gedanken kamen, die Kriege, die Intoleranz, die Verfolgungen, die Morde, die schlechten Päpste und die bösen Herrscher? Schließlich wurde es immer schwieriger, Zugang zu dem Buch zu erhalten, und das Wissen darüber ging verloren.“

„Und woher wissen Sie das alles, Herr Vater?“

„Bevor ich deine Mutter kannte und bevor du geboren wurdest, traf ich einen alten Alchimisten.“ Andrejs Vater zögerte einen winzigen Augenblick. „Ich traf ihn im Gefängnis in Wien, wenn du es genau wissen willst, wohin mich die Missgunst schlechter Menschen gebracht hatte. Der Alte war noch schlimmer dran als ich – man hatte ihn zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. In der Nacht vor seiner Hinrichtung erzählte er mir diese Geschichte.“

„Und haben Sie sie ihm geglaubt?“

„Natürlich habe ich sie ihm geglaubt. Wissenschaftler belügen sich nicht, und der Unglückliche stand bereits mit einem Fuß im Grab.“ Andrejs Vater lächelte verzerrt, aber seine Augen funkelten. „Ich habe ihm schwören müssen, es niemals jemandem zu verraten. Ich werde meinen Schwur halten. Aber sobald das Buch mir gehört, wird all das Wissen, werden all die Geheimnisse der Schöpfung mir gehören, mir, einem Wissenschaftler, und ich werde nicht nur ein kleines Licht in der Dunkelheit entzünden, ich werde einen Flächenbrand entfachen, und es wird eine neue Ära beginnen, in der alles Unwissen und aller Aberglaube verbrennen und die Menschen im Licht der Wissenschaft leben! Mein Werk wird das sein, mein Werk!“

„Wissen Sie denn, wo dieser Codex ist, Herr Vater?“

„Er ist immer noch in dem Kloster versteckt, in dem er geschrieben wurde.“

„Und haben Sie herausgefunden, welches Kloster das ist?“

„Erinnerst du dich an das Dorf oben im Norden, das am Rand der Felsenstadt im Wald?“

„Das, wo wir mitten in der Nacht aus der Herberge geflohen sind, ohne die Rechnung zu bezahlen?“

„Nun, mein Junge, ich wollte den guten Wirtsleuten ersparen, mit mir am nächsten Morgen um das Geld streiten zu müssen.“

„Sie haben aber auch den Schinken und den kleinen Mehlsack aus der Vorratskammer mitgenommen.“

„Darüber zu streiten wollte ich ihnen auch ersparen.“

„Mutter sagt, wir haben die Leute betrogen.“

„Willst du nun wissen, wo das Kloster ist, oder nicht?“

„Ist es in der Nähe dieses Dorfes?“

Andrejs Vater schnaubte und schüttelte den Kopf. „Da war doch dieser Dorfpriester …“

„Der grässlich betrunkene Kerl!“

„Ich weiß ja nicht viel über das Leben eines Dorfpriesters, besonders nicht dort oben, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen … Aber ich kann mir vorstellen, dass man da gern zum Wein greift, wenn er einem angeboten wird.“

„Sie haben ihm eine ganze Menge Wein angeboten, Vater.“

„Ja … der Bursche war nicht gerade schüchtern.“

„Über das Geld für den Wein zu streiten haben Sie den Wirtsleuten auch …“

„… aber das alte Weinfass war jeden Schluck wert, den ich in es hineingeschüttet habe.“

„Er hat Ihnen verraten, wo das Kloster ist?“

Das Gesicht des Vaters verzog sich zu einem Grinsen.

„Und wo ist es, Herr Vater?“

Andrejs Vater deutete in die Finsternis der bitterkalten Novembernacht außerhalb der Fensteröffnungen. Seine Augen waren jetzt Spiegel der kleinen Feuer, die in den Transchalen brannten. Er grinste immer breiter. Das Schattenspiel verzerrte sein Gesicht zu dem eines Mannes, den Andrej nicht kannte. „Morgen wirst du dich wie verabredet bei seinem Tor verstecken und darauf warten, dass ich dir die Teufelsbibel zuwerfe.“

Die Teufelsbibel

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