Читать книгу Die Teufelsbibel - Richard Dübell - Страница 19
3.
ОглавлениеPater Xavier Espinosa war irritiert. Er wurde das Gefühl nicht los, dass ihn jemand heimlich beobachtete. Die Neugier der Hunderte von Augenpaaren, die auf ihm ruhten, war etwas anderes.
Er hatte bereits mehrfach die Menge hier auf dem quemadero außerhalb der Stadtmauern Toledos verstohlen gemustert, ohne den Beobachter ausfindig machen zu können. Die Gesichter der Meute hinter der Absperrung waren so formlos wie die der Granden und der Infantin auf dem Podium oder die der Inquisitoren auf ihren Sitzreihen um den Thron des heiligen Dominikus herum. Auf dem Thron hatte Großinquisitor Gaspar Kardinal de Quiroga Platz genommen. Pater Xavier sah Brillengläser funkeln und wusste, dass der junge Hernando Nino de Guevara anwesend war, Pater Xaviers Bruder in dominico und rechte Hand des Großinquisitors. Pater Hernando hatte sich darauf vorbereitet gehabt, den Vorsitz des Autodafés zu führen, da Kardinal de Quiroga zum Konklave im August geladen war, um den neuen Papst zu wählen. Doch Kardinal de Quiroga hatte mit den Worten abgelehnt, er würde ohnehin nicht gewählt, seine Mitkardinäle wüssten auch ohne ihn, was sie zu tun hätten, und außerdem sei die Ausrottung von Ketzern aus dem allerkatholischsten Spanien wichtiger als die Wahl des Heiligen Vaters in Rom. Nun, der Kardinal hatte zumindest in zwei Dingen recht gehabt: er war nicht in die engere Wahl gekommen, und die Kardinäle hatten es ohne größere Probleme geschafft, den farblosen Giovanni Battista Castagna zum Papst zu wählen.
Ärger stieg in Pater Xavier hoch, dass er sich derart ablenken ließ. Das Einzige, das ihn nicht in seiner Konzentration störte, war das Wehklagen der Verurteilten, die sich in den eisernen Hüftringen und Gelenkreifen wanden; wenn man oft genug bei einer Ketzerverbrennung Zeuge gewesen war, wusste man, wie man diese besondere Art menschlichen Flehens ausblenden konnte. Nicht einmal die Rufe des jungen Mädchens nach seiner Mutter erreichten ihn auf einer anderen als einer kühlen, professionellen Ebene, die sich damit beschäftigte, wie lange Generalvikar Garcia Loayasa den Rufen noch standhalten konnte.
„Ich mache dem jetzt ein Ende!“, murmelte Loayasa zwischen den Zähnen.
„Ein weiser Entschluss“, flüsterte Pater Xavier.
„Ich habe die Macht, das junge Ding zu begnadigen, nicht wahr, Pater Xavier?“
Pater Xavier warf einen kurzen Blick in das magere, gequälte Pferdegesicht des Generalvikars. Er hatte geahnt, dass Garcia Loayasa heute Nacht zu diesem Einfall gelangen würde, kaum dass er die Verurteilten gesehen hatte. Es hieß, dass der Generalvikar über ganz Toledo verteilt Töchter besaß und dass er verzweifelt nach einem Bischofssitz strebte, weil ihm das Geld zum Unterhalt, zur Ausbildung und zur Mitgift seiner kleinen Armee aus zweifellos mageren, pferdegesichtigen Töchtern hinten und vorne nicht reichte.
„Ehrwürden sind der Vertreter des Erzbischofs von Toledo“, sagte Pater Xavier. „Der Großinquisitor hatte die Macht zu richten; Ehrwürden haben die Macht, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.“
Loaysa nagte an seiner Unterlippe. „Ich kann ihr das Kreuz noch mal vorhalten; wenn sie sich von ihrer Irrlehre lossagt und es küsst, kann ich ihr das Feuer ersparen, oder nicht?“
„Ehrwürden können das tun.“
„Es wäre christlich gehandelt, denken Sie nicht, Pater Xavier?“
„Selbstverständlich. Großinquisitor Kardinal de Quiroga hat selbst während der ersten Befragungen alles versucht, um das junge Ding zum Lossprechen zu bewegen. Wie bedauerlich, dass die Unselige ihr Herz verhärtet und sich hartnäckig widersetzt hat.“
„Ah ja?“, sagte Generalvikar Loayasa unglücklich und starrte immer noch zur Tribüne.
Das Mädchen zerrte an den Fesseln und wand sich wie verrückt. Ihre Kehle war bereits heiser vom vielen Schreien. Mit dem abrasierten Haar und im obszön gelben Schandgewand wirkte sie noch jünger, als sie war. Sie konnte keinen Tag älter als vierzehn Jahre sein. Pater Xavier hasste die Vorstellung, dass ein so junges Leben so entsetzlich und so vor aller Augen beendet werden musste, und er verabscheute Großinquisitor de Quiroga dafür, dass er nicht den nahe liegenden Weg gewählt und die Verurteilte während der Befragung hatte zu Tode kommen lassen. Man musste stets damit rechnen, dass die Abscheu der Zuschauer vor der protestantischen Irrlehre in Mitleid mit einem einzelnen Verurteilten umschlug, wenn der Verurteilte ein halbes Kind und von zarter Gestalt war und herzzerreißend nach seiner Mutter schrie, während ihm das Fleisch von den Knochen schmorte.
„Ich halte das nicht mehr aus“, sagte der Generalvikar und setzte sich Bewegung.
„Ich bleibe an Ehrwürden Seite“, sagte Pater Xavier schnell.
„Danke, Pater.“
Als sie vor dem Mädchen standen und zu ihr aufschauten, ging ein Raunen durch die Menge. Garcia Loayasa blickte sich mit hervortretenden Augen um, plötzlich befangen angesichts der ungeteilten Aufmerksamkeit der Zuschauer. Pater Xavier sah, dass Großinquisitor Kardinal de Quiroga sich nach vorn gelehnt hatte. Der Generalvikar nahm dem Priester, der vor dem Scheiterhaufen stand, die lange Stange ab und hielt das Kreuz an ihrem Ende dem Mädchen vors Gesicht.
„Sag dich los, du arme Seele, und die Gnade Christi wird dir zuteil werden“, murmelte er. Das Mädchen riss an den Fesseln und schrie. Ihre Hand- und Fußgelenke waren aufgescheuert. Mit ihrem Gezappel hatte sie die Holzscheite auf der Krone des Scheiterhaufens so weit von sich weggestoßen, dass es ausgeschlossen war, dass der Rauch sie ersticken konnte, bevor das Feuer sie erreichte.
„Bei allen Heiligen, wo ist denn ihre Mutter?“, stieß Garcia Loayasa hervor.
Die Mutter des Mädchens hatte die Tochter selbst dem Richter überantwortet. Pater Xavier war bei der letzten Befragung dabei gewesen. Die Henkersknechte hatten alle Künste aufbieten müssen, um ihr diese Aussage zu entlocken, und selbst Pater Xavier hatte noch niemals eine Denunziation aus einem derart verrenkten, gequälten Körper herausbrechen sehen.
„Gott der Herr wird wissen, wo sie ist, Ehrwürden“, sagte Pater Xavier.
„Sag dich los“, murmelte der Generalvikar und hielt das Kreuz hoch. Es schwankte vor dem wild hin- und hergeworfenen Kopf der Verurteilten. „Sag dich los, Mädchen, sag dich los, du willst doch nicht brennen, sag dich los und komm in den Schoß der wahren Kirche zurück, sag dich los …“
Der Henkersknecht, der hinter dem Pfahl auf dem Scheiterhaufen stand und darauf wartete, dass jemand in letzter Sekunde einen verstohlenen Wink gab, den Strick zu benutzen und die Unglückliche heimlich zu erdrosseln, während das Feuer entzündet wurde, starrte ratlos auf den Generalvikar herab. In einer Hand hielt er den Strick, in der anderen den Knebel, der dazu diente, Verwünschungen, die ein Verurteilter ausstieß, zu ersticken.
„Ich bin beeindruckt, Ehrwürden“, sagte Pater Xavier. „Die christliche Einstellung von Ehrwürden kennt keine Grenze. Selbst angesichts der Bedrohung eigenen Untergangs tun Ehrwürden, was Ehrwürden für seine Pflicht als Christ halten.“
Das schwankende Kreuz kam zum Halten.
„Was?“, sagte der Generalvikar.
„Gott der Herr und sein Sohn Jesus Christus sehen auf Ehrwürden herab, wie Ehrwürden versuchen, einer verstockten Sünderin die gerechte Strafe zu ersparen. Auch unser Herr Jesus Christus hat den Sündern verziehen, wenngleich der heilige Petrus, sein Stellvertreter, es richtig fand, Ananias und Saphira niederzuschlagen um ihres Verrats an der Gemeinschaft wegen…“
„Ich maße mir nicht an, die Entschlüsse unseres Herrn zu vollziehen“, stieß Garcia Loayasa hervor. „Ebenso wenig wie ich mich im Widerspruch zum heiligen Petrus befinde.“ Pater Xavier konnte das unausgesprochene Fragezeichen hinter dem letzten Wort des Generalvikars hören. Er lächelte.
Der Generalvikar senkte das Kreuz um einen halben Zoll. Pater Xavier sah, wie sich die Blicke des Mädchens plötzlich auf das Kruzifix fokussierten. „Aber ich kann doch Gnade üben, Pater Xavier!“
„Selbstverständlich, Ehrwürden. Und mögen Ehrwürden mir erlauben, nochmals meine große Bewunderung auszudrücken angesichts des Mutes, mit dem Ehrwürden die eigene Seele der Gefahr der Verdammnis aussetzen, um diesem irregeleiteten, sündigen Kind des Teufels die Qual des reinigenden Feuers zu ersparen.“
Das Mädchen hörte auf zu schreien. Ihr Gesicht war nass von Rotz und Tränen. Sie schielte auf das Kreuz. Aus ihrer heiseren Kehle drang ein Stöhnen. Ihr Mund arbeitete.
„Der Verdammnis?“, echote Loayasa.
„Nicht zu sprechen von der Unerschrockenheit Ehrwürdens gegenüber allen Pharisäern, die es ablehnen werden, einen Mann auf den Bischofssitz zu heben, der sich unmäßig gnädig gegen eine Häretikerin zeigte und der vielleicht selbst etwas mit der verfluchten Sünde der Ketzerei zu tun hat...“
„Der Ketzerei…“, sagte Generalvikar Loayasa.
„Doch ich bin sicher, wenn Ehrwürden dereinst vor dem großen Weltenrichter stehen und gewogen werden, dann wird die Tatsache, dass Ehrwürden aus Mitleid gehandelt haben, die Sünde fast aufheben, dass Ehrwürden die Läuterung einer fehlgeleiteten Seele verhindert haben.“
„Fast aufheben“, wiederholte Generalvikar Loaysa.
Das Mädchen begann zu flüstern. „Herrvergibmirherrvergibmir“, hörte Pater Xavier. Das Flüstern wurde zu einem Winseln. „Herrvergibmirichbindeinedienerin, Herrvergibmirichwidersage-ichwidersageichWIDERSAGE …!“.
„Nie habe ich jemanden gesehen, der größeren Edelmut hatte als Ehrwürden“, sagte Pater Xavier laut. Er fasste Loayasas freie Hand, zog ihn halb herum und kniete nieder, um die Hand zu küssen. Das Kreuz schwenkte aus, und der Generalvikar hätte die Stange beinahe fallen gelassen. Der Priester neben dem Scheiterhaufen griff reaktionsschnell zu.
„O nein!“, stöhnte das Mädchen. „O nein, o nein, O NEIN!“
“Sie lehnt die Tröstung des Kreuzes noch immer ab, Ehrwürden!”, sagte Pater Xavier.
„O mein Gott“, stammelte der Generalvikar. „Verdammnis! Ketzerei! Meine unsterbliche Seele! Der Bischofsstuhl! Was hätte ich beinahe getan, Pater Xavier?“
„Es ist nie zu spät, auf dem Weg in den Irrtum umzukehren, Ehrwürden“, sagte Pater Xavier, während er bereits begann, den Generalvikar vom Scheiterhaufen fortzuziehen. Garcia Loayasa stolperte ihm hinterher. Pater Xavier wandte sich um und begegnete dem Blick des Henkers. Er nickte.
„NEIN!“, schrie das Mädchen. „NICHT! Ich …“
Der Knebel erstickte jede weitere Artikulation. Das Mädchen begann zu zappeln und zu stöhnen. Die Menge raunte.
„Ehrwürden Loayasa haben einen letzten Versuch gemacht, die Verurteilte umzustimmen!“, schrie Pater Xavier in Richtung der Tribüne. „Sie hat die Gnade ABGELEHNT! Sie hat die Liebe des Herrn VERNEINT! Sie hat das Kruzifix BESPUCKT!“
„Lasst sie brennen!“, brüllte eine Stimme aus der Menge.
Der Großinquisitor erhob sich. Er faltete die Hände vor der Brust und nickte Loayasa zu. Pater Xavier machte, dass er den Generalvikar noch weiter beiseite zerrte.
„Welcher Mut, Ehrwürden“, raunte er unablässig. „Und welche Weisheit, die Vergeblichkeit von Ehrwürden Gnade einzusehen. Wahrhaft christlich gehandelt, Ehrwürden, wahrhaft christlich gehandelt …“
Die Knebel befanden sich jetzt in den Mündern aller Verurteilten und dämpften das Angstgeschrei zu einem erstickten Wimmern, als die Scheiterhaufen entzündet wurden. Pater Xavier zog den Generalvikar hinter die Palisade, schnappte sich den erstbesten Weinbecher, der auf einem der groben Tische stand, und drückte ihn Garcia Loayasa in die Hand. Die Feuer begannen zu prasseln und das Harz in den Kiefernästen zu knallen. Als der Generalvikar Anstalten machte, sich zu den Scheiterhaufen umzudrehen, nötigte er ihn zu trinken. Loayasa stürzte den ganzen Becher hinunter. Mit einem kaum merklichen Ausatmen trat Pater Xavier einen Schritt zurück und wandte sich ab.
Es traf ihn wie ein Schock, als er dem vollkommen in Schwarz gekleideten Mann, der plötzlich hinter ihm stand, in die Augen sah und erkannte, dass es diese Augen waren, die ihn die ganze Zeit über beobachtet hatten.
„Ich bin beeindruckt, Pater“, sagte der Fremde und ahmte Pater Xaviers kühle Sprechweise nach, während er an seiner Seite durch die Nacht eilte. Ihre Schritte hallten in den engen Gassen.
„Wo bringen Sie mich hin?“, fragte Pater Xavier.
Sie wandten sich in der Stadt nicht aufwärts zur Kathedrale, sondern hinunter zum Fluss. Der Geruch nach brennendem Fleisch, der in die Gassen wehte und langsam nach oben kroch, blieb hinter ihnen zurück, ebenso die Geräusche, die diejenigen Verurteilten machten, die wie das junge Mädchen nicht im Rauch erstickt waren und jetzt in einer tosenden Flamme hingen. Die Chorgesänge und die Gebete der Priester, die während der Verbrennung die Messe zelebrierten, konnten diese Geräusche niemals übertönen, ebenso wenig wie die mit Nelken gespickten Stoffbeutel oder Äpfel den Gestank der verschmorenden Körper jemals verdecken konnten.
Niemand hielt sie auf, als sie nahe dem Flussufer durch eine der Breschen in der Mauer schlüpften. Pater Xavier konnte das Wasser riechen; als er die Wasseroberfläche erblickte, fröstelte er angesichts ihrer absoluten Schwärze und der vage schimmernden Nebelfäden, die sich darüber kräuselten. Sie marschierten in einen der großen Kiesbrüche, die vom Stadtrand her steil zum Tejo abfielen. Das Mondlicht, das von den Nebelschwaden reflektiert wurde, gab ein ungewisses Glimmen und zeigte einem, wo man die Füße hinsetzen musste. Der Überhang des Steinbruchs schirmte die Geräusche der Stadt ab, so wie er alle Geräusche, die hier unten entstanden, gegen die Stadt hin abschirmen würde. Der Steilhang wölbte sich über ihnen wie ein Totenschädel.
Einer der Schatten weiter vorn stand plötzlich auf. Pater Xavier glaubte eine Klinge unter einem dunklen Mantel blitzen zu sehen. „Don Manuel?“, fragte der Schatten.
„’Ich würde selbst das Holz herbei tragen, um einen Scheiterhaufen für meinen Sohn zu errichten, wäre er so verdorben wie ein Protestant’“, sagte der dunkle Mann.
„Sie können passieren, Don Manuel.“
Am Ende des Steinbruchs sah Pater Xavier jetzt eine Ansammlung von Hütten. Einen zweiten Wachposten erkannte er, noch während sie sich ihm näherten. Diesmal war keine Parole nötig; doch er, Pater Xavier, wurde angehalten, abgeklopft und untersucht. Der Wachposten ging mit leidenschaftsloser Grobheit vor. Pater Xavier bemühte sich nicht zu zucken, als die tastende Hand unter seiner Kutte an seinem Bein in die Höhe fuhr und sich mit einem harten, prüfenden Griff um sein Gemächt schloss.
„Sauber, Don Manuel“, sagte der Wachposten, als er sich aufrichtete.
„Ich bin immer noch beeindruckt, Pater“, sagte der dunkle Mann. „Ein Mann, dem jeder Protestant in Spanien den Tod wünschen muss, läuft ohne versteckten Dolch herum?“
„Mein Glaube ist meine Waffe.“
„Sehen Sie den Eingang zur mittleren Hütte?“, fragte der dunkle Mann.
Pater Xavier nickte.
„Dort wartet man auf Sie.“
„Und was ist mit Ihnen?“
„Ich genieße weiterhin die gute Nachtluft“, sagte der dunkle Mann.
Ich bin tot, dachte Pater Xavier. Wer immer dort drin auf mich wartet, sie bringen mich um, und sie wollen so wenige Zeugen wie möglich dabei haben. Wenigstens werden sie mich nicht verbrennen … Das Feuer sähe man drüben am anderen Ufer. Er versuchte Trost darin zu finden, dass ihm die Todesart, die er am meisten fürchtete, erspart bleiben würde. Äußerlich war ihm nichts anzumerken, als er sich auf den Weg machte.
„Passen Sie auf den unebenen Boden auf, Pater“, sagte der dunkle Mann. „Fallen Sie nicht hin.“
Vor der Tür zur Hütte zögerte Pater Xavier einen Herzschlag lang, doch dann drückte er die Tür auf und trat schwungvoll ein. Eine Kerzenflamme zeigte ihm Gesichter, dann ging die Kerze im Luftzug von Pater Xaviers Schwung aus. Es wurde dunkel. Vor seinen Augen tanzten die fehlfarbenen Abbilder der halb gesehenen Gestalten.
Eine Sekunde herrschte Schweigen.
„Schön, Pater Xavier“, sagte dann eine trockene Stimme in die Finsternis. „Ich für meinen Teil weiß jetzt, dass Sie noch genügend Kraft haben. So lange wie ich schon Ihren Namen höre, dachte ich immer, Sie müssten eigentlich ein zittriger Greis sein.“
„Uns Kleriker hält der Glaube an die katholische Kirche jung“, sagte Pater Xavier.
Er hörte das Klicken von Feuersteinen, sah die Funken aufsprühen und in ein Häuflein Zunder fallen. Dann blühte eine neue Flamme auf, sprang auf einen Docht über und wurde zur Kerze getragen. In den neu entstehenden Lichtkreis schob sich das Gesicht einer großen Schildkröte und betrachtete ihn mit funkelnden Augen. „Stimmt nicht“, sagte die Schildkröte mit der trockenen Stimme von vorhin. „Mir hat er ein langes Leben beschert, aber jung erhalten hat er mich nicht.“
Pater Xavier sank auf die Knie. „Eminenz“, sagte er und bekreuzigte sich. Er hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Boden der Hütte, was ihm der sicherste Weg schien, sich seine absolute Überraschung nicht anmerken zu lassen.
„Schon gut, Pater Xavier“, sagte Kardinal Cervantes de Gaete. Sein faltiges Schildkrötengesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Der freie Hocker hier ist für Sie. Setzen Sie sich. Und nennen Sie mich nicht Eminenz. Dieser Titel ist lächerlich, ob nun Papst Urban ihn eingeführt hat oder nicht.“
Pater Xavier schlug das Kreuzzeichen erneut, zog den Hocker zurück, strich die Kutte glatt und setzte sich. Erst dann erlaubte er sich, aufzublicken. Er kannte auch die anderen drei Gesichter: Giovanni Kardinal Facchinetti, Titularpatriarch der Erzdiözese Jerusalem, Ludwig Kardinal von Madruzzo, der päpstliche Legat für Spanien und Portugal (die beide frisch vom Konklave hier eingetroffen sein mussten und vermutlich noch mit der Tatsache kämpften, dass sie beide nicht gewählt worden waren); und schließlich das letzte Gesicht, das ihn mit mehr freimütiger Neugier als die anderen musterte. Sein Besitzer hatte die Brille abgenommen und drehte sie in einer Hand. „Was hatte Generalvikar Loayasa vor?“, fragte er.
„Er unternahm noch einen letzten Versuch, eine verketzerte Seele zu bekehren, Pater Hernando“, sagte Pater Xavier. „Der Generalvikar ist ein wahrer christlicher Held.“
„Für mich sah es eher so aus, als wollte er sie der Gerechtigkeit entziehen; vielleicht erinnerte sie ihn ja an eine seiner Töchter, was meinst du, Pater Xavier?“
Die beiden Dominikaner, Pater Hernando und Pater Xavier, musterten sich über die Kerzenflamme hinweg.
„Über die Entfernung und den Rauch hinweg können sich Dinge in der Wahrnehmung verzerrt haben, Pater Hernando.“
„Oder sollte ich dem Großinquisitor raten, den guten Generalvikar einmal einer eingehenden Prüfung zu unterziehen?“
„Da du und ich fest davon überzeugt sind, dass sich bei Generalvikar Garcia Loayasa keinerlei Falsch finden und damit der Ruf der katholischen Kirche in Spanien nicht befleckt werden kann, stimme ich dir aus ganzem Herzen zu, Pater Hernando.“
Hernando de Guevara nickte, doch seine Augen verengten sich. Dann lehnte er sich zurück und setzte seine Brille wieder auf. Pater Xavier fragte sich, wie Pater Hernando es geschafft hatte, vor ihm in der Hütte anzukommen. Als er mit dem dunklen Mann die Richtstätte verlassen hatte, war der Assistent des Großinquisitors noch immer auf seinem Podium gestanden. Die Antwort war, dass der dunkle Mann ihn auf einen Umweg geführt haben und Pater Hernando eine Abkürzung kennen musste. Pater Xavier beschloss, sich von solchen Taschenspielertricks nicht beeindrucken zu lassen. Gleichzeitig war ihm klar, dass er seinen Mitbruder in geradezu tödlichem Umfang unterschätzte, wenn er ihm nichts als Taschenspielertricks zubilligte.
„Pater Xavier Espinosa“, sagte Kardinal de Gaete. „Geboren in Lissabon, im Säuglingsalter als puer oblatus in die Obhut des dominikanischen Klosters in Avila gegeben im Jahr des Herrn und der Hinzufügung des vormaligen Reichs der Inka zu den spanischen Überseeprovinzen 1532. Hervorragende Referenzen in Glaubensfestigkeit, Kenntnis der Schriften und Rhetorik. Keinerlei Referenzen zu Gehorsam, Demut und Nächstenliebe.“
Pater Xavier machte eine Bewegung, doch der Kardinal winkte ab.
„Jeder dient dem Herrn auf seine Weise, Pater“, sagte er. „Von 1555 bis 1560 intensive Studien der geheimen Archive der Biblioteca Apostolica Vaticana, wo Sie sich mit dem Entwurf eines Regelwerks zum Zutritt der Geheimarchive hervorgetan haben, das im Wesentlichen darin besteht, dass außer dem Papst und den Kardinälen so gut wie niemand hinein darf und das Papst Sixtus V. nach dem vollendeten Neubau der Bibliothek übernommen und noch verschärft hat.“ Der Kardinal blickte auf. „Eine Regelung ganz in meinem Sinn, lieber Pater Xavier. Konsequenterweise heißt es, dass kaum jemand die dort vorgehaltenen Schriften so gut kennt wie Sie. In den Jahren von 1560 bis 1566 Assistent des Erzbischofs von Madrid – gab es da nicht einen kleinen Skandal, weil der Bruder des Erzbischofs mit einem Wiener Kaufmann Geschäfte für den Königshof machte, obwohl König Philipp die Weisung ausgegeben hatte, nur spanische Lieferanten dürften den Hof beliefern?“
„Seine Ehrwürden fand heraus, dass ein Buchhalter seines Bruders dies in aller Heimlichkeit getan hatte; der Buchhalter wurde bestraft“, sagte Pater Xavier sanft.
„Richtig, der Buchhalter seines Bruders. Erstaunlich, wie so ein Buchhalter herausfinden konnte, welche Güter zu Anlässen benötigt wurden, von denen eigentlich nur der Erzbischof und König Philipp selbst wussten.“
Pater Xavier lächelte und neigte den Kopf, um anzudeuten, dass es tatsächlich erstaunlich war, was so ein Buchhalter alles herausfinden konnte.
„Hat sich der Mann nicht auf ganz merkwürdige Art und Weise im Kerker das Leben genommen, bevor es zur Gerichtsverhandlung kam? Na, egal. Von 1567 bis 1568 waren Sie der Beichtvater von Don Carlos, dem Infanten von Spanien; nach dem bedauerlichen Unglücksfall, der zum Tod des Infanten führte, Beichtvater des jungen Erzherzogs Rudolf von Österreich während dessen Aufenthalt am Hof unseres allerkatholischsten Königs Philipp in Madrid und dann in Wien bis zum Jahr 1576, in dem aus dem Erzherzog Rudolf der Kaiser Rudolf wurde. Nach Ihrer Rückkehr aus Wien Assistent des Bischofs von Espiritu Santo in Mexico und mitverantwortlich für die Erfolge des dortigen Tribunal del Santo Oficio de la Inquisicion bis 1585. Danach taucht Ihr Name immer wieder in verschiedenen Chroniken in Spanien auf. Derzeit helfen Sie dem Generalvikar von Toledo in seiner schweren Bürde, das Amt des Erzbischofs auszufüllen.“ Kardinal de Gaete lehnte sich zurück. Er hatte nicht ein einziges Mal nachdenken müssen, um sich die Fakten in Erinnerung zu rufen. „Erkennen Sie sich wieder, Pater Xavier?“
„Eminenz’ Kenntnisse sind lückenlos“, sagte Pater Xavier und verwendete den verhassten Titel ganz bewusst.
„Ein Mann mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Alter sollte eigentlich einen hohen klerikalen Rang bekleiden und nicht nur Berater von Bischöfen und Kardinalen sein.“
„Meine Aufgabe ist der Dienst an der Katholischen Kirche.“
Kardinal de Gaete musterte Pater Xaviers Gesicht eine ganze Weile. „Sie müssen wieder an den Hof von Kaiser Rudolf“, sagte er. „Nach Prag.“
Pater Xavier sah das bleiche, hohlwangige Gesicht von Erzherzog Rudolf vor sich, aus dem ihm täglich der sture, mühsam unterdrückte Hass des schwächeren, unsichereren Geistes entgegengeschlagen war, ein Hass, hinter dem sich ein noch mächtigeres Gefühl zu verstecken versuchte: Angst. Rudolf war nun seit fast fünfzehn Jahren Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Seit Pater Xavier ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte Rudolf von Habsburg, wie man hörte, eine Reise in die Dunkelheit des Aberglaubens, in den Irrwitz der Alchimie und in den beginnenden Wahnsinn angetreten. Das Reich taumelte unter seiner Führung zwischen Glaube und Ketzerei dem Abgrund entgegen. Pater Xavier hatte bereits nach der ersten Begegnung gewusst, dass die Dämonen von Macht, Verantwortung und eigener Unzulänglichkeit Rudolf zwischen sich zerreiben würden. Es war fast erstaunlich, dass er nicht schon vor zehn Jahren komplett wahnsinnig geworden war.
„Der Mann hasst mich“, sagte Pater Xavier unerwartet direkt.
„Kaiser Rudolf hasst alles, was mit der Katholischen Kirche zu tun hat“, zischte Kardinal Madruzzo. „Was mit den Protestanten zu tun hat, hasst er auch. Ebenso die Muselmanen. Das Einzige, was er liebt, sind die Alchimie und seine Kuriositätensammlung; die Einzigen, auf die er hört, sind die Astronomen, die an seinem Hof herumschwärmen wie die Fliegen um einen Haufen Scheiße.“
Kardinal de Gaete zuckte zu den heftigen Worten, widersprach aber nicht. „Ihr Dienst an der Katholischen Kirche führt Sie nach Prag, ob Sie es wollen oder nicht, Pater Xavier.“
Pater Xavier zuckte mit den Schultern. „Ich wirke dort, wo Gott der Herr und der Heilige Vater mich haben wollen“, sagte er.
Kardinal de Gaetes Augen funkelten. „Sie wirken dort, wo wir sie haben wollen“, sagte er. Pater Xavier ließ sich nicht anmerken, dass er diese Antwort zu provozieren gehofft hatte. Nun wusste er, woran er war.
„Wir haben drei Neuigkeiten für dich, Pater Xavier“, sagte Pater Hernando. „Kaiser Rudolf hat sich vor den Forderungen, die unser allerkatholischster König wegen seiner Heirat an ihn stellt, vor den Nachrichten über die Übergriffe der Türken und vor seinen Aufgaben als Verteidiger des Glaubens in die Krankheit geflüchtet. Er lässt sich kaum noch außerhalb seines Kuriositätenkabinetts blicken. Statt die Botschaften aus dem Reich zu studieren, liest er die Werke dieses dänischen Sterndeuters, die er gegen den Willen des Papstes hat drucken lassen. Kaiser Rudolf wird gar nicht bemerken, dass du dich an seinem Hof aufhältst.“
„Welches Amt soll ich dort bekleiden?“
„Kein offizielles. Seit der Kaiser den Hof von Wien nach Prag hat verlegen lassen, herrscht ein Durcheinander wie zu den besten Zeiten des Reichs. Eine Armee von türkischen Plünderern könnte dort wochenlang herumlaufen, und sie würden niemandem auffallen, gesetzt den Fall, sie stehlen nicht irgendeine exotische Nuss aus der Sammlung des Kaisers. Wir werden Sie mit genügend Geld ausstatten, dass Sie auf sich allein gestellt existieren können.“
„Was ist meine Aufgabe?“
„Glauben Sie, dass es ein Buch im Geheimarchiv gibt, das Sie nicht kennen?“
Pater Xavier antwortete nicht. Kardinal Facchinetti bewegte sich unruhig und verzog den Mund zu einer Grimasse, als er merkte, dass sich Pater Xaviers Blick auf ihn richtete. Er erstarrte mit hochgezogenen Schultern. .
„Dies ist die zweite Neuigkeit, Pater Xavier“, sagte Kardinal de Gaete. „Es gibt ein Buch, das Sie nicht kennen.“
„Wer hat es geschrieben?“
Kardinal de Gaete und Pater Hernando wechselten einen Blick. Der alte Kardinal lächelte kaum merklich.
„Sie haben die Frage gestellt, die es auf den Punkt bringt.“
Pater Xavier überlegte nur einen Augenblick. „Eminenz sprechen davon, dass das fragliche Buch gefälscht wurde.“
„Es ist das Testament des Teufels“, krächzte Kardinal Facchinetti plötzlich. „Der Leibhaftige selbst hat es geschrieben, und es ist nur auf der Welt, um Unheil anzurichten!“
„Irgendein Mönch hat es geschrieben, Eminenz“, sagte Pater Hernando. „Jedenfalls das Exemplar, das in der Vatikanischen Bibliothek liegt.“
„Was ist so besonders daran, dass es sich um eine Kopie handelt?“, fragte Pater Xavier.
„Es ist keine exakte Kopie. Es fehlen drei Seiten.“
Pater Xavier wartete. Die Männer rund um den Tisch verständigten sich mit stummen Blicken. Pater Xavier saß ganz ruhig, obwohl in der Kühle und der Feuchtigkeit, die in der Hütte herrschten, seine leichtbeschuhten Füße und auch seine Hände klamm zu werden begannen. Mit einem Teil seines Geistes begann er seinem Fleisch zu befehlen, seinen Wünschen zu gehorchen und die Wärme zurückkehren zu lassen. Sollte einer der Männer auch nur versehentlich eine von Pater Xaviers Händen berühren, durfte diese sich nicht kalt anfühlen. Kälte war Schwäche. Wärme war Stärke. Er wusste, dass alle von ihnen ebenso froren wie er und mit größter Wahrscheinlichkeit eiskalte Hände und Füße hatten. Er bemühte sich umso mehr, die Wärme bis in seine Fingerspitzen zu bringen.
„Diese drei Seiten sind der Schlüssel zu dem ganzen Werk“, sagte Pater Hernando schließlich.
„Es handelt sich um einen Code?“
Pater Hernando nickte. Pater Xavier wartete das erneute Schweigen ab.
„Wer den Code hat und das Buch zu lesen versteht, dem eröffnet sich die Weisheit des Teufels“, sagte Kardinal de Gaete in die Stille. „Und wer diese besitzt, besitzt die Welt.“
„Nicht auszudenken, wenn dieses Wissen in die Hände der Ketzer und Protestanten fiele“, sagte Pater Xavier mit höchst neutralem Gesicht.
„Die Ketzerei der Reformation zerbricht die Christenheit von innen“, sagte Kardinal de Gaete. „Die Türkenbedrohung frisst an ihr von außen. Die allgemeine Gottlosigkeit der Menschen schwächt die Macht des Erlösers. Was wir alle wollen, ist eine Waffe, um die Einigkeit der Kirche zurückzuerobern. Dies ist das höchste Ziel; und um es zu erreichen, bedarf es des mächtigsten Werkzeugs.“
„Und nur darum geht es uns“, sagte Pater Hernando. Seine Augen hinter den Brillengläsern zuckten, wie die der bei den Verhören Befragten zuckten, wenn sie beteuerten, dass sie dem Protestantismus schon längst abgeschworen hätten.
Pater Xavier gestattete sich keinerlei Regung, während er den Blick langsam um den Tisch wandern ließ. Die vier Männer verfolgten das hehre Ziel, die Christenheit zu schützen – und fanden es nötig, sich dazu als Verschwörerzirkel zusammenzufinden und in einer feuchtkalten Uferhütte Versteck zu spielen. Er musterte Ludwig von Madruzzo, dessen Frustration, dass er in den vergangenen Konklaven in der ersten Wahlrunde stets eine anständige Anzahl von Stimmen und in den darauf folgenden Abstimmungen überhaupt keine mehr bekommen hatte, seine Augen hatte stumpf werden lassen. Kardinal de Gaete konnte er nicht einschätzen. Es mochte sein, dass die alte Schildkröte es ernst meinte. Kardinal Facchinetti war zu farblos, als dass Pater Xavier sich hätte vorstellen können, was ihn zu diesem Zirkel gehören ließ, außer, dass er an de Gaetes Stelle ihn nicht hätte dabeihaben wollen. Pater Hernando legte es natürlich darauf an, irgendwann den Großinquisitor abzulösen.
„Zumindest müssen wir verhindern, dass andere die Teufelsbibel nutzen. Zur Not müssen Sie sie vernichten“, sagte Kardinal Facchinetti.
„Ich bin zu schwach, um ein Buch zu vernichten, das der Leibhaftige mit eigener Hand geschrieben hat“, sagte Pater Xavier. „Aber ich werde es finden und Ihnen aushändigen, damit Sie es vernichten können.“ Und damit der skrupelloseste von euch die anderen vernichtet, fügte er in Gedanken hinzu. Er fühlte sich beschwingt und wohl angesichts seiner Gesellschaft. „Wo soll es sich befinden?“
„Es ist in einem Kloster geschrieben worden, soviel ist sicher. Wir haben versucht herauszufinden, in welchem, sind aber nicht fündig geworden. Das Wissen über den Ort ist entweder verloren gegangen, oder man hat es mit Absicht aus allen Archiven getilgt“, sagte Kardinal de Gaete. „Aber wir werden Sie im Zentrum des Reichs platzieren wie die Spinne im Netz. Sie müssen vorsichtig vorgehen und lieber zu langsam als zu schnell. Wir wissen nicht, wer noch aller über das Buch Bescheid weiß außer uns und unserem Informanten in Rom, aber jeder, der davon erfährt, wird es sich aneignen wollen. Wenn Sie zu rasch vorgehen, riskieren wir, dass andere interessierte Parteien auf Sie und Ihre Suche aufmerksam werden. Früher oder später werden Sie einen Hinweis entdecken.“
„Andere interessierte Parteien … in Rom“, sagte Pater Xavier und machte eine Pause. „Einflussreiche protestantische Ketzer, meine ich.“ Natürlich meinte er etwas ganz anderes; zum Bespiel die anderen siebenundsechzig Kardinäle.
„Genau“, sagte Kardinal de Gaete nach einem so langen Zögern, dass die Stille in der Hütte Zeit hatte, bedeutsam zu werden. Neuerlicher Blickwechsel mit Pater Hernando. „Einflussreiche andere Parteien in Rom.“
„Was ist die dritte Neuigkeit?“
Pater Hernando senkte den Kopf und machte das Kreuzzeichen. Die anderen taten es ihm nach. Pater Hernando richtete seinen Blick auf Pater Xavier. Die Brillengläser verwandelten sein Gesicht in eine Maske und die Spiegelung der Kerze ließ in seinen Augen zwei Flammen brennen.
„Papst Urban ist tot“, sagte er. „Am zwölften Tag seines Pontifikats hat Gott der Herr ihn abberufen.“
„Ein Zeichen, wenn es sonst keines gibt“, sagte Kardinal Madruzzo.
„Der Herr sei seiner Seele gnädig“, sagte Kardinal de Gaete.
Pater Xavier nickte langsam. Die Nachricht musste neu sein. Papst Urban war gestorben, noch bevor die Neuigkeit seiner Wahl in alle Winkel der Christenheit gedrungen war. Vermutlich gab es genügend Landstriche, die noch nicht einmal wussten, dass sein Vorgänger Sixtus gestorben war. Sic transit gloria mundi, dachte er. Papabili pflegten in langen Zeiträumen zu denken, um ihr Ziel zu erreichen. Papst Urban hatte offensichtlich einen zu langen Zeitraum angesetzt. Pater Xavier fühlte, dass die Wärme in seine Hände und Füße zurückgeströmt war.
„Ich reise über Wien. Ich habe Verbindungen dort, die bis nach Prag reichen – so kann ich mir vorab ein Bild von der Lage machen.“
„Verbindungen aus den alten Zeiten am Kaiserhof?“, fragte Kardinal Madruzzo gehässig.
„Eher aus den alten Zeiten in Madrid, Eminenz“, erklärte Pater Xavier, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Das wäre dann alles, Pater Xavier“, sagte Kardinal de Gaete.
Pater Xavier erhob sich, dann tat er, was er zu tun geplant hatte, seit die Wärme in seine Gliedmaßen zurückgekehrt war. Er kniete vor Kardinal de Gaete nieder, streckte die Hände aus und faltete sie. „Segnen Sie mich, Eminenz, damit ich meiner Aufgabe gewachsen bin.“
Der alte Kardinal zögerte einen Augenblick, dann umfing er Pater Xaviers Hände mit den seinen. Pater Xavier hatte das Gefühl, die eiskalte Haut eines Toten berühre ihn. Er starrte Kardinal de Gaete gerade lange genug in die Augen, um den Ausdruck der Überraschung und der Unsicherheit darin wahrzunehmen, dann senkte er den Kopf.
„Gehen Sie mit Gott, Pater Xavier“, sagte Kardinal de Gaete.